Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 14

13.

Оглавление

Da Will bei Freunden war, konnten sie sich im Wohnzimmer versammeln. Eine strahlende Großmutter ließ es sich dabei nicht nehmen, ihre Enkelin herunterzutragen wie ein kleines Kind, und das Mädchen auf ihrem Schoß zu platzieren, ein ganz neues Gefühl für Kyonna und Stefania, die sich das aber gerne gefallen ließ. Das neue Paar wurde dabei von einer staunenden Tochter und Mutter beobachtet. Als sie saßen, begann Holly.

„E …“

„Nicht schon wieder.“, bat Magnus. Holly wirkte irritiert und sah ihn fragend an.

„Keine erneute Entschuldigung.“, erklärte er.

„Ja, sicher, entschuldige, aber das alles ist so … so unglaublich; ich war einfach überfordert. Nein, ich bin noch immer überfordert.“

„Nimm es einfach hin, wie es ist.“, trompetete Kyonna fröhlich und küsste Stefania. „Ihr glaubt gar nicht, welche Last von mir gefallen ist, seit die Sache endlich heraus ist.“

„Welche Sache?“, fragte ihre Tochter begriffsstutzig.

„Dass er ihr Vater ist.“ Stefania hob den Kopf und blickte von einem zum anderen.

„Wer ist mein Dad?“ Sie sah ihre Mutter an, die aber ihre Fußspitzen plötzlich sehr interessant fand.

„Wer?“, fragte sie ihre Oma.

„Äh …“ Kyonna wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Wer?“ Diesmal sah Steffi Magnus an, der sie anlächelte.

„Es sieht wohl so aus, als hätte es mich getroffen.“, schmunzelte er. Stefania bekam große Augen, sprang vom Schoß ihrer Großmutter und erklomm denselben ihres Vaters.

„Is ja toll. Wenn ich mir meinen Vater hätte aussuchen können, wärst auch du es geworden.“, lispelte sie und umarmte den Unsterblichen mit ihren kleinen Armen. Magnus genoss einerseits das Gefühl, von seiner Tochter umarmt zu werden, andererseits aber wirkte er ziemlich hilflos. Er hob die Arme, ließ sie wieder sinken, wusste nicht, wohin mit ihnen, bis er sich einen Ruck gab und den kleinen Körper ebenfalls, erst vorsichtig, dann aber mit sanftem Druck umarmte. Er seufzte vor Wohlbehagen.

All die rationalen Gedanken, die ihn seit je her umgetrieben hatten, und die letztlich Vaterschaften bisher verhindern konnten, traten in den Hintergrund; er gab sich einfach diesem neuen Gefühl hin und fand Gefallen an ihm.

„Ich habe es gewusst, seit du mich das erste Mal berührt hast.“, flüsterte die Kleine in sein Ohr und er nickte leicht. Laut sagte sie: „Du bist älter als Mom.“, und dachte sich etwas dabei.

„Ja, das ist wohl so.“, gab er zu.

„Bist du so alt wie Grandma?“

„Schön wärs.“, erklärte Kyonna.

„Noch älter?“ Magnus ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ein Spiel spielte.

„Nun ja …“

„So alt wie Will?“

„Steffi!“, bemühte Holly erzieherische Methoden.

Dann sagte eine Weile niemand etwas, was ganz erstaunlich war, denn unter ihnen befand sich schließlich Kyonna, die sonst Mühe hatte, ein paar Minuten zu schweigen. Doch die Frau, die nun auch mit dem Herzen Großmutter sein konnte, und dies auch wollte, saß mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf dem Sofa und betrachtete geradezu liebevoll den Vater ihrer Enkeltochter, der Stefania immer noch sanft an sich drückte.

Holly allerdings sah man an, dass sie mentale Schwerstarbeit leistete. Sie nagte an ihrer Unterlippe, rang die Finger und starrte auf das Teppichmuster. Magnus hingegen schien zu schlafen. Er hatte den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen und sein Mund sah aus, als ob er lächelte. Ruhig hob und senkte sich sein Brustkorb, auf dem Stefanias Oberkörper ruhte, der von dieser Bewegung leicht gewiegt wurde; auch sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen.

Doch das täuschte. Sie tauschten, wenn schon keine Gedanken, so aber doch Gefühle aus. Unbestimmte und unbestimmbare, mit normalen Worten nicht beschreibbare Gefühle, die tief aus ihrem Innersten kamen und jetzt den jeweils anderen erreichten. Normale Menschen hätte diese emotionale Kommunikation wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben, womit kein bösartiger Wahnsinn gemeint ist, sondern eher ein Gefühl unendlichen Wohlbehagens und Friedens mit sich und der Welt, was allerdings die Alltagstauglichkeit solcher Menschen in ähnlicher Weise beeinträchtigt hätte, wie eine handfeste Paranoia oder Phobie. Bei Vater und Tochter führte diese Prozedur allerdings dazu, dass sie sich näher kennenlernten, sich näherkamen, wie zwei Menschen sich nur nahekommen können.

„Bitte.“, durchbrach Holly die Stille. Kyonna sah ihre Tochter überrascht an, als ob sie vergessen hätte, dass diese auch im Raum war und spitzte die Lippen. Magnus und Stefania schlugen synchron die Augen auf, wie hätte es auch anders sein sollen.

„Bitte.“, wiederholte Holly und richtete einen flehenden Hundeblick auf den Vater ihrer Tochter. Der lupfte die Kleine etwas an, küsste sie auf die Wange, rutschte auf dem breiten Sessel etwas zur Seite, setzte sich gerade hin und ließ Steffi neben sich sitzen, dann sah er die Mutter seiner Tochter erwartungsvoll an und fragte: „Bitte?“ Kyonna kicherte leise.

„Kann. Mir. Das. Alles. Mal. Jemand. Erklären?“, fragte sie langsam und betonte jedes Wort mit Gesten.

„Ist doch ganz einfach.“, erklärte die vorlaute Kyonna gut gelaunt. „Der Typ da hat mal Sex mit mir gehabt, ist der Vater deiner Tochter, ist zweitausend Jahre alt, hat sich aber gut gehalten, er …“ Sie war leiser geworden und brach jetzt mit einem Kopfschütteln ab. Ratlos geworden blickte sie ebenfalls Magnus an.

„Sag bitte, dass das nicht stimmt.“, hauchte sie ganz kleinlaut. Drei Augenpaare waren jetzt gespannt auf ihn gerichtet. Er sah von einer zur anderen, setzte ein Lächeln auf und sagte: „Nein.“ Erleichtert sanken Kyonna und Holly in die Polster zurück, Steffi hingegen kicherte ein Kinderkichern, wie es Kinder kichern, wenn jemandem ein sanfter Streich gespielt wird. Dies wiederum machte Holly, die ihre Tochter kannte, misstrauisch, so dass sie sich rasch wieder aufrichtete und ihren Körper mit Spannung versah.

„Was, nein?“, fragte sie sicherheitshalber. Magnus sah sie fröhlich an.

„Ich sage nicht, dass das nicht stimmt, meine Nase ist lang genug.“ Er kniff Stefania ein Auge zu, was wiederum zu einem Kichern führte.

„Was hat das mit deiner Nase zu tun?“

„Kennst du die Geschichte von Pinocchio?“ Holly überlegte.

„Dann stimmt es doch?“, ließ sie alle Hoffnung matt fahren.

„Falls ausgeschlossen werden kann, dass du von jemand anderem schwanger geworden warst, stimmt der zweite Teil, für den ersten haben wir eine Zeugin.“

„Kann ich ausschließen.“, ergab sie sich halb, hatte jedoch noch Hoffnung, was den dritten Teil anbelangte. An andere Teile mochte sie gar nicht denken.

„Gut.“ Er drückte Steffi an sich. „Dann kannst du Daddy zu mir sagen, falls du möchtest.“ Die Kleine strahlte lückenhaft.

„Was ist mit dem dritten Teil?“, hauchte Holly und erntete ein ernstes Lächeln.

„Teil drei und Teil vier treffen zu.“

„Was ist Teil vier?“, krächzte Kyonna.

„Hast du schon einmal jemandem in meinem Alter gesehen, der so aussieht, wie ich?“

Kyonnas Gesicht zuckte in anstrengender Gedankenarbeit, dann lächelte sie, als wäre sie zu einer großartigen Erkenntnis gekommen.

„Nein.“, verkündete sie.

„Was, nein?“, wiederholte sich Holly verständnislos.

„Du wiederholst dich.“, informierte Magnus zurechtweisend, und fügte anmerkend hinzu: „Es gibt wohl keinen anderen, zweitausendjährigen Menschen auf der Welt, der, wie ich, wie Mitte vierzig aussieht.“

„Sooo alt bist du schon? Ich bin erst fünf.“, bemerkte Steffi und ließ offen, was genau sie meinte, während Mutter und Tochter Bryant erschöpft wiederum in die Polster sanken.

„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte Kyonna mit einem letzten Funken Hoffnung.

„Ziemlich. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass ich ungefähr um das christliche Jahr Null geboren worden sein muss.“

„Ich brauche einen Drink.“, hauchte Holly mit scheinbar letzter Kraft.

„Ich auch.“, krächzte Kyonna.

„Bringst du mir ein Bier mit?“, fragte Magnus gut gelaunt.

Holly stand langsam auf und wandelte unsicher in die Küche, holte die Getränke, Whiskey für ihre Mom und sich und Bier für den Mann. Sie tranken.

Schweigen senkte sich wie Mehltau über die Menschen im Bryantschen Wohnzimmer. Als es dem ungeduldigen Magnus zu viel wurde, beugte er sich vor und bemerkte: „Wir sollten mal überlegen, wie es nun weitergehen soll.“ Er erntete nur leere Blicke.

„Zum Beispiel, ob wir Will einweihen sollen.“, stellte er klar. Die Augen der Damen weiteten sich vor Schrecken.

„Um Himmels willen.“, rief Kyonna.

„Lieber nicht.“, meinte Holly, und fügte erklärend hinzu: „Er würde das wohl gesundheitlich nicht verkraften.“

„Nun ja, ihr seht auch nicht gerade wie das blühende Leben aus.“, stellte Magnus fest, was ihm böse Blicke einbrachte.

„Du lügst.“, versuchte es Holly erneut.

„Ihr müsstet euch mal sehen.“

„Das meine ich nicht.“

„Ich habe fast mein ganzes Leben gelogen; jedenfalls, was das anbelangt.“, erwiderte er ernst, „Jetzt bin ich ein Mal ehrlich und du bezichtigst mich der Lüge. Was du jetzt Lüge nennst, ist doch das, was eure Familie die ganze Zeit geglaubt hat, oder? Weshalb bist du denn nach Deutschland gekommen? Doch, um einen Unsterblichen zu finden. Jetzt habt ihr ihn und seid immer noch nicht zufrieden.“

„Du siehst nur deinen Ahnen sehr ähnlich.“, gab Holly trotzig zurück.

„Hab ich doch die ganze Zeit gesagt. Dann ist ja alles gut.“ Magnus wurde ärgerlich.

„Nix ist gut.“ Nach dem dritten Glas hatte Kyonnas Stimme eindeutig Schlagseite bekommen. „Dein Körper ist der gleiche wie vor sechsundzwanzig Jahren; da hat sich gar nichts geändert. Ich glaube ihm.“ Sie verschränkte ihre muskulösen Arme vor ihrer spärlichen Brust.

„Ich nicht.“, postulierte Holly.

„Dann werde ich dir wohl meine Lebensgeschichte erzählen müssen.“, schlug Magnus vor.

„Fang an.“, forderte Holly. Magnus lächelte.

„Nein, das dauert naturgemäß etwas länger.“

„Wie lange?“

„Ein paar Tage die Kurzfassung. Die Langfassung wird schon einige Wochen in Anspruch nehmen.“

„Wochenlange Lügen?“ Magnus verdrehte die Augen.

„Nichts als die Wahrheit.“

„Sollen wir morgen anfangen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Nicht hier.“

„Wo dann?“

„Bei mir. Ich habe da ein paar Asservaten und Aufzeichnungen. Außerdem würde hier Will etwas mitbekommen.“

„Au ja, fahren wir zu dir.“, ließ sich Stefania vernehmen. Magnus sah seine Tochter an.

„Ja, du kommst mit. – Kyonna auch?“, fragte er die whiskeyschlürfende Exloverin.

„Nee. Ich glaube dir ja. Ich weiß, dass du es bist. Das reicht.“ Er sah Holly an.

„Holly?“ Holly warf ihm einen glasigen Blick zu und nickte. „Okay.“

„Was war mit dem Messer?“, wollte Holly allerdings noch wissen, was ihr einen erstaunten Blick ihrer Mutter einbrachte.

„Welches Messer?“, wollte die, mit einem Mal hochinteressiert, wissen.

„Das Messer war eines von vielen. Eine von vielen Verletzungen. Ich könnte den Beweis antreten, wenn ich dich aufforderte, mich zu erschießen.“, provozierte er.

„Das wäre das letzte Mittel.“, lallte Holly, dann schlief sie, möglicherweise aus Solidarität mit ihrer Mutter, deren Kinn auf ihre Brust gesackt war, ein.

„Bringst du mich ins Bett?“, fragte Steffi mit Blick auf die schlafenden Frauen.

„Klar.“ Magnus lud sich seine Tochter auf die Arme und stieg die Treppe hinauf.

Als Stefania fertig war und in ihrem Bett lag, setzte er sich auf die Bettkante.

„Was heißt eigentlich Magnus?“, wollte Stefania von ihrem neuerworbenen Vater wissen.

„Das ist Lateinisch und heißt der Große.“

„Du bist doch gar nicht so groß. Gut, du bist etwas größer als Will, Grandma und Mommy, aber ich kenne größere Leute als dich.“ Magnus wurde verlegen.

„Nun, äh, als ich noch klein … also, als ich noch jung war, da war ich groß. Also, die anderen waren alle kleiner als ich.“

„Hast du da in Lilliput gelebt?“ Er lachte.

„Nein, die Leute waren früher kleiner als heute.“ Steffi sah ihn kritisch an.

„Davon hab ich gelesen. Dann stimmt das doch?“

„Was?“

„Dass du so alt bist.“

„Sicher.“ Steffi legte sich hin.

„Mannomann.“

Mitten in der Nacht wurde Magnus durch einen Schrei geweckt. Da er seine Vaterrolle offenbar internalisiert hatte, dachte er sofort an Stefania. Er stand auf und ging in den Flur. Er hörte jemanden weinen, doch die Geräusche kamen nicht aus Steffis Zimmer. Er klopfte an Hollys Tür und drückte, als er keine Aufforderung einzutreten hörte, die Tür auf. Holly saß weinend und völlig aufgelöst im Bett, die Hände vor das schöne Gesicht geschlagen.

„Holly.“, sagte er leise. „Holly, ist alles in Ordnung?“ Die Weinende schien sich etwas zu beruhigen.

„Nichts ist in Ordnung. Ich habe eine Tochter, deren Vater zweitausend Jahre alt ist und immer noch lebt.“, schluchzte sie. Magnus betrat das Zimmer und schloss die Tür.

„Wäre es dir lieber, Steffis Vater wäre tot?“ Das Weinen wurde wieder lauter. Die wenigen anderen, die im Laufe seines Lebens um sein Geheimnis gewusst hatten, waren, so fand er, souveräner mit ihrem Wissen umgegangen.

„Natürlich nicht. Steffi hat sich immer einen Vater gewünscht. Jetzt hat sie einen, der älter ist als ihr Urgroßvater, und außerdem übernatürlich ist.“

„Hältst du mich für übernatürlich?“

„Natürlich. Für wie natürlich hältst du dich denn?“ Magnus setzte sich zu Holly aufs Bett.

„Ich halte mich für ziemlich natürlich. Ich funktioniere wie andere Menschen auch, nur eben länger.“

„Was ist mit deiner Unverwundbarkeit?“

„Okay, das ist vielleicht nicht ganz normal.“ Holly schaute ihn seltsam an.

„Warst du jemals krank?“

„Nein.“ Holly lachte ohne Freude. „Hör zu, Holly, ich kann verstehen, dass das alles nicht einfach für dich ist, aber nimm mich als ganz normalen Menschen. Bitte. Es ist für mich auch nicht leicht, mit so einem Alleinstellungsmerkmal zu leben.“ Er nahm die immer noch weinende Holly in die Arme und wiegte sie hin und her, bis sie eingeschlafen war, dann sackte er neben sie auf ihr Bett und schlief ebenfalls ein.

Der Andere

Подняться наверх