Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 5

4.

Оглавление

Holly erwachte mit einem pelzigen Geschmack auf der Zunge, einem trockenen Gaumen, kalten Füßen, verschwitzter Stirn, einem flauen Gefühl im Magen und einem Pochen im Kopf. Dies alles erleichterte ihr die Rekonstruktion des gestrigen Tages nicht gerade. Vielleicht sollte sie mit dem Essentiellen beginnen. Wo war sie und warum? Sie arbeitete nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise: erst mal die unmittelbare Umgebung, dann die entfernter liegenden Lokalitäten. Sie lag in einem Bett. Okay. Was war das für ein Bett? Ein Hotelbett, denn die kleine, stickige Kammer schien ein Hotelzimmer zu sein. Sie schaute sich um. Ihr Kleid hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag darauf. Die anderen Sachen hatte sie noch an. Aus einem Seitenfach der Tasche lugte ein Papier, das sie glücklicherweise ohne große Mühe erreichen konnte, indem sie ihren linken Arm ein wenig ausstreckte. Kleine Hotelzimmer haben eben auch Vorteile. Der Zettel enthielt Buchstaben und Zahlen. Aha. Die Zahlen sprachen eine Sprache. Die Buchstaben auch, aber diese Sprache konnte sie nicht. Eine Rechnung. Die Rechnung eines Restaurants. Ja. Die viel zu hohe Rechnung eines Restaurants. Sie musste auf ihr Budget achten. Jetzt fiel ihr wieder etwas ein. Ein junges Paar hatte sie zurück ins Hotel gebracht. Sie sah einen Kellner mit grauen Haaren und einem schwarzen Anzug. Sie sah zwei Flaschen Wein. Sie sah das Paar mit einem Mann an einem Tisch sitzen. Sie sah einen Flughafen, ein Taxi. Sie verstand die Leute nicht. Sie hörte Stefania am Telefon. Die verstand sie.

Sie versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten, gab aber rasch auf. Sie schlief wieder ein.

Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag wach wurde, ging es ihr besser. Die körperlichen Symptome eines Katers waren zwar noch vorhanden, aber sie hatte ihr Denkvermögen wieder. Und das sagte ihr, dass sie heute noch etwas vorhätte. Es sagte ihr sogar, was sie heute noch vorhatte. Holly saß kerzengerade auf ihrem Bett. Diese ruckartige Bewegung tat weder ihrem Kopf noch ihrem Magen gut, aber der Schwindel ließ rasch nach. Würgend sprang sie ins Bad, und wieder zeigte sich der Vorteil kleiner Hotelzimmer.

Sie schaffte es, ihren Körper und ihren Geist innerhalb von zwei Stunden in die Lage zu versetzen, ausgehbereit zu sein. Allerdings war es schon Nachmittag, als sie mit einer vagen Wegbeschreibung des Kellners das Hotel mit der Ungewissheit verließ, die Wegstrecke unbeschadet zurücklegen zu können, denn sie hatte, außer ein paar Schlucken Wasser, nichts in ihrem Magen, dem sie nichts anderes, schon gar keine feste Nahrung, zumuten wollte. Doch es ging besser, als sie befürchtet hatte. Sie hatte eng anliegende Jeans, ihre bequemen Schuhe, ein grünes, ärmelloses Tshirt an und eine helle Umhängetasche über der braunen Schulter hängen. Zwar brach ihr auf den ersten zwei Kilometern häufiger der Schweiß aus, doch dann begann sie, den warmen Nachmittag und den Gang durch die landwirtschaftliche Kulturlandschaft zu genießen. Der Weg führte zunächst durch bewohntes Gebiet, dann unterquerte die eine Bahnlinie und sah dann nur noch Felder und in der Ferne eine Hügelkette mit einem großen, alten Gebäude. Es war still, Insekten summten, Vögel zwitscherten, die Halme des Getreides wiegten sich im leichten Wind. Wie schön. Sie lief eine schmale Straße entlang, die durch Felder führte und die wenig befahren war, als ihr ein großer, teurer, schwarzer SUV mit abgedunkelten hinteren Fenstern entgegenkam.

Schließlich bog sie auf eine schmale, schattige Straße, das musste die Straße sein, die ihr der Kellner beschrieben hatte. Auf der rechten Seite begann bald eine hohe Mauer und dann entdeckte sie in dieser Mauer ein Tor. Ein Haus stand jenseits der Mauer. Es war aus Stein und hatte mehrere Geschosse. Es schien ziemlich alt zu sein, die Fenster, die sie sehen konnte, waren hoch und die Fassade war an einigen Stellen verziert.

Etwas außer Atem stand sie dann vor diesem eisernen Tor in der langen, hohen Mauer aus Natursteinen und suchte den Klingelknopf. Durch die Torgitter entdeckte sie hinter einer geschwungenen Auffahrt eine Art Villa, den Knopf entdeckte sie nicht. Allerdings ein Schild mit einem Pfeil und einer Aufschrift, die sie aber nicht lesen konnte. Dennoch folgte sie der Richtung, die der Pfeil wies und erreichte nach ein paar Metern eine metallene Tür, neben der sich ein Klingelknopf befand, den sie mit pochendem Herzen betätigen wollte. Doch im letzten Augenblick ließ sie den Finger sinken. War es richtig, was sie hier tat? Oder hatte Mom recht, die von dem ganzen Vorhaben nichts wissen wollte? Immerhin hatte sie der Familienrat auf diese Expedition ins Ungewisse geschickt und diese auch finanziert. Nein, sie konnte jetzt nicht, so kurz vor dem Ziel, abbrechen. Mit letzter Entschlusskraft drückte sie den Knopf und wartete. Nichts geschah. Sie drückte noch einmal. Nichts. Ein drittes Mal. Wieder nichts. Es war still hier, sie hörte Vogelgezwitscher aus dem umliegenden Wald, in den die schmale Straße, der sie gefolgt war, führte. Enttäuscht wandte sie sich zum Gehen, als ihr etwas einfiel. Sie hätte sich natürlich anmelden sollen. Woher sollte der Mann wissen, dass sie ihn heute besuchen wollte?

Sie kramte einen Stift und ein Blatt Papier aus ihrer Tasche, schrieb, muss Sie dringend sprechen. Holly Bryant, und ihre Mobilnummer auf den Zettel und steckte ihn in den Briefkasten. Einerseits froh, die undankbare Aufgabe, mit einem wildfremden Menschen über abstruse Dinge sprechen zu müssen, noch mindestens einen Tag aufgeschoben zu haben, und gleichzeitig enttäuscht darüber, unverrichteter Dinge wieder zurückgehen zu müssen, machte sie sich auf den Rückweg, der ihr dann zweierlei Erkenntnisse bescherte. Einmal machte sich plötzlich nagender Hunger bemerkbar und zum anderen musste sie feststellen, dass sie sich den Weg nicht recht gemerkt hatte, so dass sie an einer Stelle falsch abbog, was aber, angesichts der ersten Erkenntnis, ein Glücksfall war, denn der vermeintliche Irrweg führte sie geradewegs vor ein Lokal, das ‚American Food‘ versprach und aus dem es verführerisch nach Pommes und Burgern duftete. Mit einem abnormalen Speichelfluss betrat sie das dunkle, kühle Lokal und wurde von einem netten jungen Mann auf den Biergarten hinter dem Haus aufmerksam gemacht, der sich bei dem Wetter anböte. Der Biergarten war gut gefüllt, auf einem Rasen standen einfache Tische mit einfachen Stühlen und einfachen Leuchten. Sie sah sich um und das bekannte Pärchen biertrinkend in einer Ecke mit einem Mann, der derselbe von gestern sein mochte, an einem Tisch sitzen. Der junge Mann hatte sie, trotz des einsetzenden Zwielichts, entdeckt und winkte ihr zu, worauf sie zögernd an ihren Tisch trat. Der Fremde hatte sie bisher nicht angesehen.

„Setz dich doch zu uns.“, forderte der Jüngere Holly auf.

„Wenn ihr nichts dagegen habt.“, lächelte sie.

„Magnus?“, fragte die junge Frau den älteren, leger gekleideten Mann nach seiner Meinung, der Holly aus interessierten, grauen Augen ansah und dann mit dem graumelierten Kopf nickte. Hollys Beine versagten einen Moment den Dienst, als sie diesen Namen hörte und sie fiel auf die Sitzfläche des am nächsten stehenden Stuhles, ohne größeren Schaden anzurichten und zu nehmen, allerdings unter Erregung der Aufmerksamkeit der drei Personen, die bereits an dem Tisch saßen.

„Alles in Ordnung, junge Lady?“, fragte Magnus besorgt mit sonorer Stimme. Holly wedelte mit einer Hand.

„Noch nichts gegessen.“

„Ah, ja. Wir haben auch gerade bestellt, in dem Restaurant, in dem wir gestern waren, war nichts mehr frei.“, sprach er fröhlich. Holly sammelte sich.

„Sind Sie etwa Magnus Montanus?“, hauchte sie mit letzter Kraft eine überflüssige Frage, denn sie hatte ihn längst erkannt. Magnus lupfte die Brauen.

„So ist es.“

„Ich komme gerade von Ihnen.“, hechelte sie. Der Kellner kam und Magnus bestellte ein Bier für sie, da sie momentan nicht sprechfähig schien.

„Aha. Wollten Sie mich besuchen?“, fragte er neutral, als wenn er jeden Tag Besuch von wildfremden Menschen bekäme.

„Ja. Ich weiß, ich hätte mich vorher anmelden sollen, hatte aber Ihre Telefonnummer nicht. Habe Ihnen einen Zettel in den Briefkasten geworfen.“ Magnus zog die Brauen diesmal zusammen.

„Worum geht es denn, Mrs. … ?“

„Oh, Entschuldigung, mein Name ist Bryant, Holly Bryant.“ Der Name sagte ihm nichts, wie er rasch feststellen konnte, trotzdem fragte er nach.

„Holly?“ Holly lächelte verschämt.

„Eigentlich Hollanda.“

„Oh. Na, dann. Worum geht es Ihnen denn?“ Die Brauen sprangen wieder in die Höhe und Holly wurde nervös.

„Ja, äh, weitestgehend um meine Familie.“ Magnus beugte sich zu ihr, so dass sie sein Gesicht mit den grauen Bartstoppeln und der etwas zu langen Nase genauer sehen konnte und in die grauen Augen, die ihr gleichzeitig bekannt und unheimlich vorkamen, blicken konnte. Die Ähnlichkeit war verblüffend.

„Bryant?“, fragte er.

„Auch.“, erwiderte sie verwirrt und verwirrend. Sie wusste nicht, wohin sie sehen sollte und so sah sie das Paar hilfesuchend an, doch das konnte ihr nicht helfen und sah neugierig zurück. Wegen der einbrechenden Dunkelheit fiel ihre Gesichtsröte nicht sehr auf.

„Zwei Familien?“

„Mehrere, ja. Es geht um mehrere Generationen.“ Jetzt wurde Magnus etwas mulmig zumute und Holly bemerkte eine Veränderung in ihm: waren seine Augen zunächst wohlwollend und fast milde auf sie gerichtet, sandten sie nun eisige Blicke aus. Sie lachte nervös und rettete sich, indem sie „Können wir das nicht morgen besprechen? Ich habe einen Mordshunger.“ von sich gab und einen bittenden Blick auflegte.

„Ich hole Sie morgen Abend um sieben ab.“, bestimmte Magnus, ohne weiter nach dem Grund ihres bevorstehenden Besuches zu fragen. „Fragt sich nur, wo.“

„Wie bitte?“

„Wo wohnen Sie?“

„Ich komme aus USA.“ Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

„Wo Sie hier wohnen.“, erläuterte er sich selbst.

„Ach so …“

„Sie wohnt in unserem Hotel.“, informierte die junge Frau und Holly lächelte verlegen und etwas beschämt, denn sie wusste ja, dass Montanus einen Konzern leitete und ihr Hotel eher eine Absteige war. Der wiederum brummte etwas in seinen Stoppelbart.

Magnus empfahl Holly noch eine bestimmte Speise und schwieg dann weitgehend, so dass sich die Unterhaltung zwischen den beiden Israelis und Holly abspielte.

„Warum seid ihr hier? Diese Gegend ist doch kein Tourismusmagnet.“, meinte Holly und ließ sich ihren Burger schmecken.

„Och, hier gibt es schon was zu sehen, aber wir sind wegen Magnus hier.“

„Ist er eine Touristenattraktion?“, lachte Holly, der es half, dass Magnus wie abgetaucht war. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und wirkte teilnahmslos. Doch das täuschte. Seine Sinne waren geschärft und er hatte nachzudenken. Außerdem beobachtete er diese junge, attraktive Amerikanerin genau, aber ohne dass sie das merkte.

„Nein, wir haben es doch schon gestern erklärt.“

„Muss ich wohl nicht mitbekommen haben. Ihr wisst schon, der Flug und alles …“, zwinkerte sie.

„Ja, vor allem das letzte.“, lachte die Frau, die sich als Esther vorgestellt hatte.

„Wir sind Juden … und unsere Großmutter war auch eine Jüdin, ist ja klar.“, erklärte Benjamin, „Magnus‘ Großvater hat sie vor dem sicheren Tod in einem KZ bewahrt und sie jahrelang versteckt gehalten. Nun ist sie gestorben und hat uns gebeten, dem Enkel ihres Retters einen Brief zu bringen.“ Holly hatte genau zugehört und mit dem Kauen aufgehört. Sie warf einen Seitenblick auf Magnus, der abwesend schien. Sie hatte davon gehört, dass es Deutsche gegeben hatte, die Juden gerettet hatten. Schindler hieß einer von ihnen, sie hatte den Film gesehen. Ein Vorfahr dieses Montanus rettete eine Jüdin, ein anderer, so ihre Vermutung, rettete zwei Sklaven. An die These ihrer Familie wollte sie gar nicht denken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass schon wieder ein frisches Bier vor ihr stand, doch sie trank einen großen Schluck; sie hatte Durst und das Bier schmeckte. Es hatte jedoch auch den Nachteil, alkoholisch zu sein, und nach dem Exzess von gestern und bei ihrem leeren, sich jetzt erst füllenden Magen, blieb es nicht aus, dass sie sich betrunken fühlte.

Kurz danach wollten die beiden Israelis ins Hotel, da sie morgen früh abreisten.

„Ich bringe euch eben hin, wollen Sie auch mit?“, fragte Magnus, der wieder unter den Lebenden zu weilen schien. Nach dem dritten Bier war Holly alles egal.

Vor dem kümmerlichen Hotel verabschiedete sich Magnus von dem Geschwisterpaar, indem er es in die Arme schloss und so eine ganze Weile dastand.

„Vergesst Ruth nicht. Vergesst es nicht. Vergesst nicht, was geschehen ist. Ich habe versagt.“, flüsterte er.

Dann ließ er sie los und stieg ohne ein weiteres Wort in sein Auto, um davonzufahren.

„Warum hat er gesagt, dass er versagt hat?“, wollte Esther irritiert wissen.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Benjamin. „Aber hast du das auch gespürt?“

„Was meinst du?“

„Als er uns in seinen Armen hielt. Es war ein eigenartiges Gefühl.“ Sich dachte kurz nach und nickte. „Als wenn einen etwas durchströmt.“

Holly erwachte am Morgen frisch und ausgeruht. Das Zimmer war zwar nicht größer als gestern, die Luft genauso stickig, aber sie hatte keinen Kater und sie hatte eines erreicht: sie hatte einen ersten Schritt getan. Zwar war es Zufall gewesen, Magnus Montanus zu treffen, aber es war passiert und heute würde sie mit ihm sprechen. Sie nahm sich vor, sich gut vorzubereiten und stand auf, um in ihr ein-Quadratmeter-Bad zu gehen, als sie vor der Tür auf dem Boden einen Zettel bemerkte, den sie aufhob und las.

Bye, Holly. Nett, dich kennengelernt zu haben. Grüße Magnus noch mal von uns. Er ist sehr speziell. Esther und Benjamin

Ja, da hatten sie wohl recht. Speziell schien er zu sein. Sein Großvater hatte eine Jüdin vor den Nazis versteckt und sein … Urururgroßvater zwei Sklaven befreit. Solche Taten der Altvorderen verpflichteten natürlich. Sie würde ihn mal fragen, was er selbst schon für Heldentaten vollbracht hatte. Oder war er es gewesen, wie Onkel Dick der Familie eingeredet hatte? Onkel Dick, eigentlich Großonkel Dick, der in den 60ern begonnen hatte, sich für die Familiengeschichte zu interessieren und fast sein Geschäft ruiniert hätte, weil er nichts anderes tat, als in der Gegend herumzufahren und Verwandte zu besuchen, um ihnen Informationen oder schriftliche Belege zu entlocken, die er dann behandelte wie Reliquien.

Nach dem Frühstück ging Holly an die Luft. Sie hatte gestern, auf dem Rückweg von Montanus ein nettes Fleckchen entdeckt, wo sie sich niederlassen und sich vorbereiten wollte. Bekleidet mit einem bunten Rock und einem Shirt mit Spaghettiträgern, saß sie nun auf einer Bank, hinter sich einen plätschernden Bach und vor sich die Felder, und schlug die Mappe auf.

Sarah Montanus hatte ihrer Enkeltochter den Mann, dessen Namen sie und ihr Mann angenommen hatten, genau beschrieben. Die Enkelin hatte mehrere Porträts angefertigt. Die Enkelin war eine gute Zeichnerin, sie wurde als Erwachsene die erste schwarze Polizeizeichnerin im Staate New York, worauf die Familie noch heute stolz war. Die Bilder zeigten einen Mann Anfang bis Mitte vierzig, mit nackenlangen, grauen Haaren und einem grauen, recht kurzen Bart. Die Nase war etwas lang, die Augenbrauen wiesen darauf hin, dass sie im Alter buschig werden wollten. Wenn man sich die Frisur und den Bart kürzer vorstellte, war die Ähnlichkeit mit dem Magnus Montanus von heute frappierend.

Die verwackelte Schwarzweißaufnahme aus den Zwanzigern, die Burt und Edna mit ihrem ersten weißen Gast zeigte, war kaum zu gebrauchen, aber die beiden hatten Stein und Bein geschworen, dass das der Mann gewesen war, den Maddy gezeichnet hatte.

28. August 1963, Washington DC. Er war einer von 250.000 Demonstranten, die Martin Luther King hören wollten. Am Rande der Demonstration versuchte ein Weißer, schwarze Demonstranten zu erschießen, was ihm aber nicht gelang, weil ihm ein anderer Weißer die Waffe entreißen konnte. Dieser andere Weiße war Montanus. Patty, die spätere Frau von Großonkel Dick, hätte genau in der Schusslinie gestanden und verdankte ihm somit ihr Leben. Sie hatte nie erzählt, was tatsächlich passiert war, obwohl sie unmittelbar dabei gestanden hatte. Ein anderer Demonstrant hatte die Szene fotografiert, bei der Montanus dem Verrückten die Waffe entwand. Es war möglich, dass er verletzt worden war, aber auch dazu schwieg sich Patty aus. Dennoch war deutlich ein dunkler Fleck auf Montanus‘ Hemd zu erkennen. Er hatte die gleichen grauen Haare wie hundert Jahre zuvor, nur waren sie etwas länger, und den gleichen Bart. Holly lachte.

Tennessee, zweiundzwanzig Jahre später, das Jahr, in dem sie geboren wurde. Abraham Montanus, der vierzehnjährige Sohn von Eleanore und Lyndon Montanus, wurde vom Klan entführt. Sie banden ihn mit dem Bauch voran an ein Holzkreuz und wollten ihn auspeitschen; anschließend wollten sie ihn mit dem brennenden Kreuz auf einem öffentlichen Platz aufstellen. Wahrscheinlich wäre er an den Verletzungen und Verbrennungen gestorben. Magnus Montanus, der geschäftlich in der Gegend zu tun hatte und von den Namensvettern gehört hatte, die er an diesem Tag kurz besuchen wollte, um zu erkunden, woher die Namensgleichheit kam, erfuhr von der Entführung und machte sich mit Lyndon und ein paar anderen Männer auf die Suche, weil die Polizei davon ausging, dass Abraham einfach von zu Hause ausgebüxt war. Da Lyndon die geheimen Treffpunkte des Klans in der Gegend kannte, fanden sie sie schnell. In dem Augenblick, in dem ein Kapuzenmann die Bullenpeitsche erhob, um den ersten Schlag zu tun, schoss Montanus die Peitsche am Schaft entzwei, die Prügel fielen aus. Als er dann noch einigen die Zipfel von den Kapuzen schoss, war der ganze Zauber vorbei. Mehrere Fotos zeigen ihn mit der glücklichen Familie. Im Grunde sah er genauso aus, wie der Magnus aus dem Jahre 1963.

Daneben gab es noch einige Berichte ohne Fotos. Ein schwarzer GI aus der Familie wollte Montanus zu Kriegsende in den Alpen gesehen haben, was sich mit der Geschichte der Israelis deckte.

Onkel Dick vertrat nun dezidiert die Auffassung, dass es sich um ein und denselben Mann gehandelt habe und hatte den größten Teil der Familie davon überzeugt. Der kleinere Teil meinte, es handele sich um Vorfahren des jetzigen Magnus. Hollys Mom wollte von allem nichts wissen.

Holly selbst fand Dicks These absurd und selbst die zweite Variante kam ihr reichlich verwegen vor. Allerdings wäre eine solche frappierende Ähnlichkeit über Generationen hinweg schon sehr, sehr ungewöhnlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. Das wiederum öffnete dann der ersten Möglichkeit Tür und Tor. Holly schüttelte sich. Der Gedanke daran machte ihr Angst. Sie sah sich das Foto von 1963 noch einmal an.

Die Biografie des aktuellen Montanus war öffentlich, schließlich gehörte ihm ein Getränkeimperium. Die Firma gab es schon seit dem Mittelalter, als die Menschen in Süddeutschland anfingen, Bier zu brauen. Offensichtlich hatte der damalige Montanus eine Möglichkeit gefunden, auch im Sommer Eis zur Kühlung zu beschaffen, was ihm einen Vorteil gegenüber Konkurrenten einbrachte. Mittlerweile war der Konzern weltweit aktiv, wobei sich Montanus – und das schon seit Generationen – aus dem operativen Geschäft heraushielt.

Merkwürdig war, dass es in seinem Leben anscheinend keine Frauen gab. Keine Mutter, keine Ehefrau – nichts. Und es gab keine Angaben über Schulbesuch, Studium und dergleichen. Das Merkwürdigste aber war das Fehlen eines Geburtsdatums. Alles rankte sich nur um die Firma. Wann er eingetreten war, welches seine Erfolge waren, wann er sich zurückgezogen hatte. Das gleiche bei seinem Vater und seinem Großvater.

Er mied die Öffentlichkeit, zumindest mediale Auftritte. Allerdings war bekannt, dass der Rat der Montanus‘ von der Politik gesucht wurde, und das über Generationen. Sie hatten deutsche Bundeskanzler und Parteiführer beraten, einer tauchte mal im Umfeld John F. Kennedys auf und hatte sich von ihm in ‚historischen Fragen‘, wie es hieß, beraten lassen.

Ein Radfahrer mit einem hechelnden Hund zog vorbei und grüßte, wobei er den Blick nicht von Holly abwenden konnte und dabei beinahe in das Feld fuhr. Holly musste lachen. Sie wusste, dass sie die Männerblicke anzog. Ihr kurzes, schwarzes Haar, der dunkle Teint, die schwarzen Augen und die Stupsnase, die hohen Wangenknochen und ihre schlanke Figur machten sie sehr attraktiv. In der Ferne lief ein Jogger. Ihre Mutter war nahezu hundertprozentig schwarz. Hollys Vater war ein Latino gewesen, wie ihre Mutter sagte. Mom hatte damals eine wilde Zeit, und das war stark untertrieben. Sie hatte unzählige Lover und das Produkt einer ungeschützten Nacht war Holly geworden. Danach hatte ihre Mom verhütet. Oder verhüten lassen. Holly musste wieder lachen. Denn ihre verrückte Mutter hatte die Angewohnheit besessen, die Inhalte der benutzten Kondome in Reagenzgläser zu füllen und in einer speziellen Kühlbox zu lagern.

Beide, Mutter und Tochter, bekifft und beschwipst, beschlossen dann eines Nachts, dass Holly, wenn sie denn den Wunsch nach einem Kind hegen sollte, sich mit dem Inhalt eines dieser Reagenzgläser künstlich befruchten lassen sollte. Holly wusste noch, wie sie ein Glas aussuchte, das ihre Mom aber nicht hergeben wollte, aber Holly wollte es unbedingt haben, weil es als einziges mit keinem Namen beschriftet war. Alle Gläser trugen Aufkleber mit männlichen Vornamen, auf dieses war lediglich ein großes ‚M‘ gekritzelt.

Ein Freund ihrer Mutter führte dann den Eingriff durch und Stefania war das Produkt. Stefania. Holly hielt Stefania für ein Wunderkind. Sie war in ihrer Entwicklung ihrem Alter weit voraus, sie war … weise. Die Kleine war immer guter Dinge, war immer freundlich, nie vorlaut, hörte gut zu und sah … Dinge. Der einzige Mensch, der mit Stefania nicht zurechtkam, war Hollys Mutter. Sie hatte es immer abgelehnt, auf Stefania aufzupassen. Selbst als die Kleine noch ein Baby war. Holly hatte den Eindruck, dass Kyonna ihrer Enkelin aus dem Weg ging, wann immer das möglich war.

Hollys Blick fiel auf ein aktuelles Foto von Magnus Montanus und vor ihrem inneren Auge hatte sie das Gesicht ihrer Tochter. Etwas irritierte sie, sie wusste aber nicht, was. Die Nase. Stefania war ein süßes kleines Mädchen mit dichten, drahtigen, dunkelbraunen Haaren und braunen Augen. Allerdings war ihre Nase eine Idee zu lang. Wie bei diesem Montanus. Ihre Nasen hatten sogar in etwa die gleiche Form. Die Augen. Montanus‘ Augen waren grau, aber der Blick glich dem Stefanias. Holly lachte auf und ganz tief in ihrem Bauch entstand etwas, das mit Glücksgefühlen nicht viel zu tun hatte. Sie verscheuchte einen absurden Gedanken.

Der Andere

Подняться наверх