Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 6

5.

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Der Schmerz hatte die junge Frau hellwach gemacht. Der Schmerz, der ihre bloßen Füße erfasst hatte, nachdem sie nur ein paar Schritte durch den Schnee gegangen war. Getrieben wurde. Getrieben wie ihre Leidensgenossinnen. Getrieben zu einem gewissen ungewissen Ende. Sie hatten ihr keine Zeit gelassen nach ihren Schuhen zu suchen, die irgendwo unter dem mehrstöckigen Bettgestell lagen, das fast die ganze Länge der Baracke ausmachte, neben vier weiteren. Im Lager war das noch nicht so schlimm gewesen, das mit den Schuhen. Oder eher das ohne Schuhe, aber hier? Hier lag Schnee und es war kalt. Nach fünfzig Metern hatte sie angefangen zu wimmern, dann hatte sie vor Schmerzen geschrieen, und nur ein Stoß mit dem Karabiner eines der Wächter hatte ihr Schreien wieder in ein Wimmern verwandelt. Sie wusste von den Experimenten der Lagerärzte, die Gefangene in kalten Winternächten nackt draußen angebunden hatten, schließlich hatte sie deren Schreie selbst gehört. Am nächsten Morgen hatte sie dann zu denen gehört, die die steifgefrorenen Leichen wegtragen mussten.

Der Schmerz aber wich bald einem tauben Gefühl und schließlich fühlte sie ihre Füße gar nicht mehr. Sie konnte aber auch keine Konturen im Schnee mehr erkennen, sah nicht mehr die schwarze Bordüre des Waldes linksrechts der Schneefläche, sah nicht mehr den mal blauen, mal grauen Himmel, sah nur noch weiß. Mechanisch schleppte sie sich dahin, immer den anderen hinterher, angetrieben von den SS-Leuten. Anfangs hatte sie noch gewusst, dass sie ihrer Vernichtung entgegengingen und sie hatte, wie die anderen, Angst gehabt. Nun hatte sie keine Angst mehr. Sie sah nur noch dieses Weiß, aber nur noch eine Weile. Dann sah sie nur noch schwarz oder gar nichts mehr. Sie fiel in den Schnee.

Als sie das nächste Mal etwas wahrzunehmen glaubte, aber da glaubte sie schon, sie sei tot, fühlte sie sich hochgehoben. Jemand schien sie sich auf die Schultern zu laden und rasch mit ihr davonzueilen. Durch die geschlossenen Lider glaubte sie Schnee zu sehen.

Die junge Frau erwachte immer wieder mal kurz aus ihrer Ohnmacht, aber ihre Wahrnehmung blieb stets dieselbe. Sie fühlte sich getragen. Sie hörte schweren Atem. Den Atem des Todes? Durch ihre geschlossenen Lieder sah sie die Helle des Schnees.

Als sie dann mal wieder wach wurde und nur Schwärze um sie herum zu sein schien, war sie endgültig davon überzeugt, tot zu sein, und ein Gefühl unendlicher Erleichterung überkam sie. Endlich hatte sie es geschafft. Nie mehr würde sie Schmerzen haben, nie mehr Hunger leiden, nie mehr fast verdursten, nie mehr würde sie Angst haben müssen.

Der Mann und die Frau wunderten sich, dass ein leichtes Lächeln den Mund der jungen Toten umspielte, als der Mann sie auf das schmalere der beiden Betten legte, die in dem seltsamen Raum standen.

„Mach die Suppe warm, Ruth, sie wird sie brauchen.“, sagte der Mann.

„Aber sie ist doch tot. Das arme Mädchen.“, sagte die Frau bedauernd. Der Mann aber schüttelte leicht den Kopf und zog seine Jacke und seine Handschuhe aus, dann trat er sich die Stiefel von den Füßen.

„Mach auch Wasser heiß, sie braucht ein lauwarmes Bad.“, sprach er leise. Dann trat er an das Bett und betrachtete die junge Frau mit den kurzgeschorenen, schwarzen Haaren. Ihre Haut, die einmal braun gewesen sein mochte, war eisgrau, der Mund etwas schief, aber sie war eine Schönheit, sogar im Tod. Er riss ihr die Lumpen, denn als mehr war ihre Kleidung nicht zu bezeichnen, vom Leib und sah einen ausgezehrten Körper. Die kleinen Brüste waren faltig und die Rippen stachen hervor, Arme und Beine schienen nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Einer Eingebung folgend legte er ihr beide Hände auf den Brustkorb, der keine Bewegung zeigte. Ruth schleppte Wasser herbei und füllte einen großen Kessel damit, der neben dem Suppentopf auf dem kleinen, holzbefeuerten Herd stand, der den Raum mit wohliger Wärme versorgte. Als Ruth wieder hinausgehen wollte, um die Eimer erneut zu füllen, wurde sie gewahr, dass der Brustkorb der jungen Frau sich leise hob und senkte und dachte sich ihren Teil, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Als sie das nächste Mal wiederkam, hatte der Mann beide Hände um die Füße der Frau geschlungen und Ruth konnte sich denken, dass die nun nicht mehr amputiert werden müssten, schließlich kannte sie den Mann schon ein paar Jahre. Ihn und seine Besonderheiten.

Dass warme Suppe über ihre Lippen, ihre Zunge und ihre Speiseröhre in ihren Magen gelangte und dort begann, ihre Lebensgeister, die jemand wieder herbeigeholt hatte, nachdem die sich von ihr verabschiedet hatten, endgültig zu wecken, bemerkte die junge Frau nicht.

Sie bemerkte allerdings, dass sie abermals angehoben wurde und in lauwarmes Wasser gesetzt wurde, und das war, als würde sie neu geboren. Langsam, sehr langsam schlug sie die Augen mit den langen, schwarzen Wimpern auf.

„Sie kommt.“, hörte sie eine Frau flüstern.

„Ja.“, antwortete eine heisere Männerstimme.

Der Andere

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