Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 18

17.

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Stefania erwachte in ihrem großen, luftigen Zimmer mit der hohen Decke. Die langen Vorhänge konnten nicht verbergen, dass draußen die Sonne schien und wehten leicht im Wind. Stefania war ausgeruht, drückte ihr Stofftier an sich und dachte über die vergangenen Tage nach. Alles verstand sie nicht, vor allem die Sache mit der künstlichen Befruchtung würde sie nachlesen müssen, aber Dad – Dad! – hatte ihr angeboten, seinen Computer benutzen zu dürfen, bis sie auch hier einen eigenen hatte. Das andere war ihr klar. Ihr Vater konnte nicht sterben, grämte sich aber nicht deswegen, lebte aber darum ein recht unstetes Leben und hatte Angst, eine Familie zu haben. Außerdem hatte er heilende Kräfte, was sie ganz praktisch fand, denn dann konnte sie ohne Bedenken Fahrrad fahren lernen. Sie wollte sich mit ihrer Mutter besprechen und rutschte aus dem riesigen Bett, lief gefühlte hundert Meter bis zur Tür, trat auf den Flur, überlegte kurz, wo wohl das Zimmer ihrer Mutter sein mochte, erinnerte sich, öffnete die entsprechende Tür und blickte verwundert auf ein gemachtes Bett und die noch nicht ausgepackten Koffer. Sie schloss die Tür, überlegte wieder und ging mit einem Lächeln zur nächsten Tür. Hier war Magnus‘ Schlafzimmer. Vorsichtig linste sie durch den Türspalt und grinste breit und zufrieden bei dem, was sie sah. Mom und Dad lagen in Dads breitem Bett nebeneinander und schliefen fest. Leise schlich sie zum Bett, kroch behände unter der Decke zwischen den beiden erwachsenen Körpern bis zum Kopfende und legte sich, ihr Stofftier vor der Brust umklammert, selig zwischen ihre Eltern.

Magnus‘ Rechte ertastete etwas Flauschiges neben sich und er erwachte.

Hollys Linke ertastete eine wohlbekannte Männerhand neben sich und sie erwachte.

Stefania war schon wach und fühlte eine zarte weibliche und eine kräftige männliche Hand auf ihrem flauschigen Stofftier umherwandern, sich berühren, sich betasten und sich greifen. Sie sah von rechts nach links und umgekehrt. Zeitgleich schlugen ihre Eltern die Augen auf, sahen erst sich, dann sie an und lächelten.

„Hallo Kleine.“, sagte Mom.

„Gut geschlafen?“, fragte Dad.

Magnus und Holly waren am späten Abend gemeinsam und nachdenklich hinaufgegangen, waren an Magnus‘ Tür kurz stehengeblieben, um sich eine gute Nacht zu wünschen. Holly wollte dies, aufgrund fehlenden Mutes und ihrer Unsicherheit, in Form eines flüchtigen Kusses auf die Wange tun, hatte aber nicht mit der Entschlossenheit von Steffis Erzeuger gerechnet. Der nämlich zog sie an und mit sich in sein Zimmer, wobei er raunte: „Wir sollten aneinander gewöhnen.“ Holly, die an Melissas Bluttransfusion dachte, sich dabei zwar bewusst war, dass sie durchaus schon einmal eine von Magnus‘ Körperflüssigkeiten in sich getragen hatte, die aber, zumindest nach wissenschaftlicher Auffassung, inaktiv, oder sogar tot gewesen war, wogegen allerdings das sehr lebendige kleine Mädchen sprach, das ein paar Räume weiter schlief, zog eine, bei solchen Gelegenheiten vorkommende, Eskalation der Ereignisse durchaus als Risiko in Betracht, gab sich aber dennoch seinem Werben hin, so dass sie, ohne Eskalation, friedlich umarmt einschliefen.

„Ja, ich habe gut geschlafen.“, flötete Steffi und grinste von ihm zu ihr. „Hast du, als du klein warst, auch bei deinen Eltern im Bett geschlafen?“ Das Wort ‚Eltern‘ störte Holly nicht mehr. Im Gegenteil, sie fand es folgerichtig.

„Wir hatten kein Bett im eigentlichen Sinne. Wir hatten ein Lager, auf dem wir alle gemeinsam schliefen.“ Steffi überlegte.

„Mit Lagerfeuer und Bärenfell, und so?“ Magnus lachte und Holly war aufmerksam geworden.

„Nein, es war völlig unromantisch. Es war dreckig, im Winter kalt, im Sommer voller Viecher und bei Regen nass. Ich bin nämlich ziemlich erdverbunden aufgewachsen. Zumindest die ersten Jahre. Ich habe, wie viele meiner Zeitgenossen, zumindest wie viele, die in unserer Gegend lebten, in einem Erdloch gelebt.“ Mutter und Tochter hatten sich ihm zugewandt, halb aufgerichtet und sahen ihn aufmerksam an. Er sah zurück und lachte.

„Ja, so war das vor zweitausend Jahren dort, wo ich geboren wurde.“ Stefania verzog das Gesicht.

„In einem Erdloch?“

„Ja. Während man anderswo in der Welt schon lange in richtigen Häusern lebte, war das bei uns anders. Meine Heimat war damals recht rückschrittlich.“

„Hattest du eigentlich Geschwister?“

„Meine Schwester starb, als sie klein war und mein Bruder wurde von einem Bären gefressen.“

„Oh.“

Irgendwo klingelte ein Telefon. Mit den Worten: „Das ist meins.“, stand Holly auf und schwang ihre Beine aus dem Bett, um nach ihrer Tasche zu greifen. Ihr schien es nichts auszumachen, dass sie nackt war. Ihm erst recht nicht.

„Lass uns ins Bad gehen.“, schlug Magnus seiner Tochter vor und stand ebenfalls auf. Als er stand, merkte er, dass er ebenfalls nackt war und sah Steffi an. Die nahm jedoch nichts zur Kenntnis, sondern stapfte aus dem Zimmer. Mit den Worten „Ich muss mal.“, schlug sie ihm die Badezimmertür vor der Nase zu und er musste unverrichteter Dinge wieder zurück zu Holly, die ihr Telefonat beendet hatte und seltsam dreinschaute.

„Was ist los?“, wollte er wissen. Sie sah ihm in die Augen.

„Das war Mom. Der Hobbyforscher hat eine graphologische Untersuchung machen lassen.“

„Bitte?“

„Er hat den Zettel gefunden, auf den du deine Adresse geschrieben hast und ihn mit seinem Heiligtum vergleichen lassen.“ Magnus setzte sich aufs Bett. Das war symptomatisch für die letzten Tage, hatte er sich doch geschworen, im Bryantschen Haus nichts aufzuschreiben. Alles war so improvisiert, so unüberlegt, so planlos abgelaufen. Es ärgerte ihn, dass er nur schwer die Kontrolle behalten würde.

„Dein Großonkel wird langsam lästig.“

„Mehr sagst du nicht dazu?“ Er zuckte die Schultern.

„Wenn sich das Aussehen über Generationen vererbt, warum nicht auch die Schrift?“

„Magnus!“ Holly hob drohend den Zeigefinger, lachte aber dabei.

„Schon gut.“ Er dachte nach.

„Was willst du nun tun?“, fragte Holly und setzte sich neben ihn.

„Ich lade sie ein und sage es ihnen.“ Holly erschrak.

„Meinst du, das ist eine gute Idee?“

„Fällt dir was besseres ein? Außerdem können wir ihnen dann auch das andere sagen.“

„Was sagen?“

„Dass ihr hierbleibt und dass Steffi meine Tochter ist.“

„Wir bleiben hier?“, hörten sie von der Tür, in der Stefania aufgetaucht war und sie hoffnungsfroh ansah.

„Dachte ich so.“, meinte Magnus und sah von Holly zu Steffi.

„Das ist ja toll!“ Steffi rannte zu ihrem Vater und fiel ihm um den Hals. Der sah ihre Mutter fragend an. Statt etwas zu sagen, nahm Holly die beiden in die Arme.

„Ich weiß nicht, ob Dicks Herz die ganze Sache verkraftet.“, bemerkte Holly in der Küche, wo sie das Frühstück bereiteten.

„Welche Sache?“, wollte Magnus wissen.

„Na ja, zum Beispiel, dass Steffi deine Tochter ist, und das andere.“

„Ach so.“

„Hinzu kommt noch der Flug.“

„Ist er krank?“ Es war noch früh.

„Das Herz eben.“, gab sie unfachmännisch Auskunft.

„Wie machst du das eigentlich mit deinen Papieren?“, fragte Holly, als sie dann am Tisch saßen und Magnus sich wunderte, wie viel ein so kleines Mädchen wie Stefania essen konnte.

„Wie meinst du das?“

„Was steht da für ein Geburtsdatum? Du musst doch alle paar Jahre ein neues Datum einsetzen. Sind deine Papiere gefälscht?“

„Schon lange nicht mehr.“, lächelte er. Holly sah in fragend an und sogar Steffi hörte vorübergehend auf zu kauen.

„Früher konnte ja kaum einer lesen. Also, ich meine, ganz früher, in meiner Jugend.“

„Wie lange ging die?“, wollte Holly wissen.

„Gute Frage. So die ersten fünfzehn, zwanzig Jahre meines Lebens. – Und auch danach gab es keine Papiere. Als es die ersten staatenähnlichen Gebilde gab – Fürstentümer und so etwas - , erfand man Passierscheine. Aber zuvor kamen die Kirchenregister, wo sich jeder eintragen lassen musste. Ein paar hundert Jahre war ich viel auf Wanderschaft, so dass es nie dazu kam, dass ich mich eintragen ließ. Nach den Römern kamen die Missionare, und die hatten ihre ganz speziellen Methoden, den Menschen Gott nahe zu bringen. Mit denen wollte ich nichts zu tun haben, aber die waren irgend wann überall. Also spielte ich ihnen einen Streich und ließ mich unter den verschiedensten Namen in viele Register eintragen. Es ging gut.

Als das finstere Mittelalter begann, verschwand ich für ein paar hundert Jahre von der Bildfläche, danach war ich Magnus Montanus und ein gemachter Mann. Und das hat etwas mit Eis zu tun.“ Er kniff Steffi ein Auge zu. „Es gab dann so etwas wie richtige Staaten mit einem richtigen Passwesen. Ich legte mir alle paar Jahre falsche Papiere zu. Das ging bis vor ungefähr vierzig, fünfzig Jahren, von da ab wurden die Dinger immer fälschungssicherer, es gab elektronische Dateien. Aber ich hatte schon vorher eine erstaunliche Fähigkeit an mir entdeckt.“ Er sah seine zweiköpfige Zuhörerschaft, die mit Spannung weitere Erklärungen erwartete, an.

„Suggestion.“, sagte er einfach.

„Was ist das?“, wollte Steffi lispelnd wissen und er sah, dass auch Holly sich nicht viel darunter vorstellen konnte.

„Nun, sagen wir es einmal so: ich kann bewirken, dass andere Menschen glauben, etwas zu sehen oder zu hören oder zu riechen, das ich möchte, das sie sehen, hören und riechen sollen.“ Hollys Augen verengten sich.

„Was hat das mit deinen Papieren zu tun?“, fragte sie skeptisch.

„Hast du gesehen, dass ich bei unseren letzten Flügen einen Pass vorgezeigt hätte?“ Holly dachte nach und schüttelte den Kopf.

„Habe ich auch nicht, aber die Kontrolleure werden sicher sein, dass ich es getan habe, dabei war es nur ein Stück Pappe, das ich bei mir trage. Das mache ich beim Buchen genauso.“

„Suggestion?“

„Suggestion.“

„Kannst du das auch mit uns machen?“, fragte Holly mit einem eigenartigen Klang in der Stimme.

„Im Prinzip ja, aber ich tue es nicht.“

„Warum nicht?“

„Soll ich meine eigene Tochter hinters Licht führen?“

„Was ist mit mir?“, wollte erweiternd wissen.

„Ich liebe dich.“ Jetzt war es raus und Steffi klatschte in die Hände, während Holly ihr Gesicht in ihren vergrub.

„Du hättest Mom …“

„Sie hatte schon zu viel gesehen, es ging nicht mehr.“, gab er zu Bedenken.

„Seit wann weißt du, dass du unverwundbar bist?“ Stefania lauschte aufmerksam; das wurde ja immer besser.

„Noch nicht lange.“ Holly verdrehte die Augen, Zeit war aus seiner Perspektive schon sehr relativ.

„Seit wann?“

„Ich war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Amerika. Zu dieser Zeit lernte ich die Großeltern von Pauline und Xavier de la Lotte kennen, den Leuten, bei denen Tom und Sarah blieben, nachdem ich sie freigekauft hatte. Ich streifte dann im kanadisch-amerikanischen Grenzgebiet umher, natürlich in friedlicher Absicht. Ein paar Indianer sahen das anders. Sie wollten mich überfallen und hatten die Absicht, sich mit mir einen Spaß zu machen. Ich wehrte mich allerdings und es kam zu einem Schusswechsel. Nun ja, ich schoss mit Kugeln und sie mit Pfeilen. Sie zielten gut und zwei Pfeile trafen mich. Ich merkte das jedoch erst, als ich die Schäfte aus meiner Brust ragen sah. Es tat nicht weh. Ich zog sie heraus und die Wunden schlossen sich. Die Indianer hatten das natürlich auch gesehen und ergaben sich mir. Sie rutschten auf den Knien vor mir umher und sangen in einer Sprache, die ich nicht verstand; dann luden sie mich zu sich ein. Offenbar wollten sie ihren Leuten demonstrieren, was ich für ein Teufelskerl war und so holten sie die einzige Schusswaffe herbei, die es in ihrem Lager gab, und der Häuptling durfte dann auf mich schießen. Ich hatte Angst, dass es bei Kugeln nicht funktionieren würde, aber die Angst war unbegründet. Nach einer Woche Feierei, bei der ich wie ein Gott behandelt wurde, hatte ich die Nase voll und haute ab. Das nächste Mal war, als ich mit Sarah und Tom auf dem Weg nach Norden war. Ein verrückter Südstaatler schoss auf uns. Ich konnte mich gerade noch schützend vor die beiden stellen und eine Kugel traf mich.“ Er lachte. „Die beiden waren ganz schön überrascht.“ Ihm fiel auf, dass Steffi ihn seltsam ansah, aber er dachte, das läge an seiner Geschichte.

„Deshalb hast du meine Messerattacke so gelassen genommen.“

„Ich wusste, dass nichts passieren konnte.“

„Welche Messerattacke? Kannst du noch andere Dinge?“, wollte Steffi gespannt wissen. Hollys Blick pendelte unsicher und peinlich zwischen Magnus und Steffi hin und her.

„Die erste Frage wirst du beantworten müssen.“, meinte er leichthin und Holly rang ihre Hände.

„Nun ja, ich … äh, hatte getrunken. Ein Wort gab das andere. Magnus … dein Dad … hat schlecht über die Familie gesprochen … da lag dieses Messer, ein Küchenmesser, so wie das da. Ich … ich …“

„Deine Mutter hat es mir in die Brust gerammt.“, vollendete er sachlich.

„Mommy!“ Stefania sah ihre Mutter entsetzt an und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast Dad …“ Holly beeilte sich, ihre Tochter in die Arme zu schließen und sah Magnus böse an. Typisch, dachte der, die Frau will den Mann umbringen und ist böse, wenn er es der Tochter erzählt.

„Es ist doch nichts passiert.“, beruhigte Holly ihre Tochter. Was offensichtlich war.

„Es war so wie mit den Pfeilen, Steffi.“, schaltete sich Magnus ein. „Ich habe es rausgezogen, dann hat es aufgehört zu bluten, die Wunde verschloss sich, und … fertig. Schau her.“ Er zeigte Steffi die Stelle, wo das Messer gesessen hatte.

„Aha. – Was ist, kannst du noch andere Sachen?“ Er sah seine Tochter fragend an.

„Was meinst du?“

„Na, über Wasser gehen, und so etwas.“ Nach einer Sekunde, nach der klar war, dass Steffi einen Spaß gemacht hatte, lachten alle drei.

Doch war es so klar, dass Steffi gescherzt hatte?, dachte Magnus, als er in Stefanias Augen sah.

Konnte er denn wohl noch andere Sachen, dachte Holly, und wenn ja, welche?

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