Читать книгу Kuiper und die verschwundene Millionärin - Reinhold Grundguth - Страница 5
Ein Kunstwerk
ОглавлениеKuiper hatte es sich im kleinen Arbeitszimmer neben dem Kopierraum gemütlich gemacht. Sofern man das in einem Raum hinbekommen konnte, der sich erstens in einem muffigen Altbau befand und zweitens mit Billigmöbeln aus den späten Achtziger Jahren eingerichtet war. Immerhin, hier hatte er für die nächsten neunzig Minuten Ruhe. Das glaubte er zumindest. Zwei Springstunden, die er für die Korrektur der Klassenarbeit seiner BV12 zu nutzen gedachte. BV stand für den Bildungsgang, Berufsvorbereitung, die Eins für die Ausbildungsdauer von einem Jahr, die Zwei für Gruppe Zwei. Schlimmer als Gruppe Eins war sie, wie Kuiper zuverlässig wusste, weil er auch dort unterrichtete. Klassenlehrer war er jedoch in der Zwei, während Kollegin Schmalke-Dieterhoff sich mit der anderen Gruppe herumschlagen musste und dabei etwas weniger Stress hatte. Allerdings nur minimal weniger.
BV am Rolf-Rumpel-Berufskolleg war gleichbedeutend mit: Unterricht für die Ärmsten der Armen. BV war ein Sammelbecken für junge Menschen nach erfolgloser Schulkarriere weitab von Abitur oder Fachabitur und ohne Chancen auf eine Ausbildungsstelle. Sozialpädagogik unter dem Deckmantel einer Berufsqualifizierung. Fünf-Tage-Woche, drei davon mit Unterstützung staatlicher Trägergesellschaften als Praxiszeit in einem Betrieb, zwei am Rolf-Rumpel-Berufskolleg, angefüllt mit jeweils sechs Theoriestunden. Kuiper war in beiden Klassen für das Fach ˋGesamtwirtschaftliche Prozesse´ zuständig. Wenn Freunde und Bekannte ihn fragten, was er dort bewegen könne, erwiderte er: „Versuche mal, jungen Menschen, denen bisher immer nur gesagt wurde, dass sie zu blöde zum Pinkeln sind, abstrakte wirtschaftliche Sachverhalte nahe zu bringen. Das ist in etwa so leicht, wie einen Adipösen zu animieren, hundert Meter in Zehn Komma Null zu laufen.“
Brummend machte sich Kuiper an die Arbeit. Teil eins: Wissensfragen. Kimberley hatte die aktuelle Inflationsrate in Deutschland bei 2.600 Prozent veranschlagt, wobei hier offensichtlich eine Verwechslung mit der ebenfalls im Unterricht behandelten Preissteigerung in Venezuela vorlag. Kuiper überlegte, ob er hierfür, unter Einfügen eines wohlwollenden Kommentars - ´für Deutschland leider falsch, für Venezuela richtig´ - die halbe Punktzahl geben sollte.
Teil zwei: Wirtschaftliche Zusammenhänge. Es ging um den Begriff Produktivität. Kuiper hatte versucht zu erklären, warum die Produktivität in kapitalintensiven Branchen leichter zu steigern ist als in arbeitsintensiven Branchen. „Ein Unternehmen, das Autos herstellt, kann durch bessere Maschinen mit seinen Arbeitern an einem Tag locker mehr Autos herstellen“, hatte er gesagt. „Das bedeutet höhere Produktivität. Aber wie soll eine Rockbank an einem Abend mehr Stücke spielen, ohne länger auf der Bühne zu stehen? Die Stücke doppelt so schnell spielen?“ „Das klingt doch scheiße“, hatte jemand unter einhelliger Zustimmung der anderen gerufen. Die Sache hatte seinen Schülern offenbar eingeleuchtet. Jetzt schrieb Dragan: „Mehr Produktivitäht is wenn Jay Z schneller sinkt.“ Kuiper musste zunächst sein Smartphone zu Rate ziehen und erfuhr über wikipedia, dass es sich bei diesem Jay Z um einen Rapper handelte. Daher konnte er davon ausgehen, dass Dragan die Tätigkeit des Singens und nicht die des Sinkens meinte. Auch hier überlegte er, ob er Teilpunkte vergeben könne; schließlich lag Dragan mit seiner Erläuterung nicht völlig daneben, wenngleich er den Kern der Sache auch nicht wirklich getroffen hatte. Er wollte gerade eine Punktzahl notieren, als die Türe aufging und das freundliche Gesicht der Schulsekretärin, Frau Dinkel, hereinschaute. Hinter ihr gewahrte Kuiper die quadratische Gestalt des Hausmeisters. Klaus Thönne, aus naheliegenden Gründen, die mit seiner Statur zusammenhingen, allgemein Tonne genannt, war ein echtes Ruhrpottkind. So sprach er auch.
Zuerst sprach jedoch Frau Dinkel.
„Herr Schönau bittet Sie, einen Sachverhalt zu überprüfen“, sagte sie.
„Das hat er wahrscheinlich wörtlich so gesagt, nicht wahr?“
„Klar doch! Ich würde das nicht so formulieren.“ Frau Dinkel grinste.
„Dat iss vielleicht‘n Ding“, schaltete sich Tonne ein, wobei Kuiper nicht klar wurde, ob er damit den so genannten Sachverhalt oder Frau Dinkels kecke Bemerkung meinte.
Kuiper seufzte tief und stand auf. Vorbei war es mit seiner Korrekturzeit. Vermutlich hatte Dr. Wendland, der stellvertretende Schulleiter, wieder mal mit einer windigen Entschuldigung das Weite gesucht. Und die anderen Bildungsgangleiter befanden sich wohl im Unterricht. Da blieb er als Opfer übrig. Nichts zu machen; wenn Herr Schönau befahl - so war das ‚bittet Sie‘ zu interpretieren - einen Sachverhalt zu überprüfen, war wieder irgendetwas vorgefallen, das ‚Ansehen und Autorität unserer Schule‘ zu untergraben drohte. Zumindest seiner, Schönaus, Meinung nach. So machte der Graue es immer: Andere vorschicken, mündlich berichten und anschließend einen schriftlichen Bericht anfertigen lassen, auf dessen Basis über ‚weitere Maßnahmen‘ entschieden wurde. Wobei Schönau letztendlich die Entscheidung fällte, sofern dem keine aufsichtsrechtlichen Hindernisse entgegenstanden.
Sie machten sich zu dritt auf den Weg. Tonne schnaufte, da eine Treppe zu bewältigen war. Zielort war die Jungentoilette im Anbau. Frau Dinkel blieb diskret vor der Türe stehen und kam daher auch nicht in den Genuss des Kunstwerks, das irgend ein Rabauke in der mittleren Kabine platziert hatte. Der Toilettendeckel war heruntergeklappt, und das, was eigentlich als Ergebnis eines so genannten ‚großen Geschäftes’ in die Toilette hinein gehörte, lag auf dem Deckel.
„So’n Schaiß!“, sagte Tonne.
„In der Tat.“
Mehr fiel Kuiper nicht ein.
„Wat iss getz?“
„Was soll schon sein. Reinigen. Oder wollen Sie sich damit bei einem Museum für moderne Kunst bewerben?“, sagte Kuiper.
„Dat pack ich nich an.“
„Ich auch nicht.“ Kuiper überlegte. „O.k., schließen Sie die Bude erst mal ab. Ich gehe zu Schönau.“