Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 10
Kapitel 8
Оглавление“Kommen Sie doch ruhig einmal vorbei.”
“In Prag?”
“In London. Zurzeit ziehe ich meine Kreise in London, der Bibliotheken wegen.”
“Ja, warum nicht... wenn ich es einrichten kann.”
Er sagt nicht: Und bringen Sie doch Ihre Frau mit...
Sie befinden sich am Flussbett der Ache. Katzenstein war vor ihm da, hat auf ihn gewartet. Es gibt hier einen kleinen Handspringbrunnen, aus dem heilkräftiges Thermalwasser sprudelt, das von den radonhaltigen Quellen kommt, in einem dünnen Strahl, bleistiftdünn, und man sieht ferner eine Menge wilder scheuer Katzen, die hungrig durch die Dämmerung streichen. Ansonsten treibt sich niemand an diesem Ort herum. Es ist ja auch schon Abend.
In ihrer Nähe steht eine Bank. Auf der Bank liegt eine Zeitung, zerknittert und von der Feuchtkühle des Abends teilweise angewest. Jemand muss sie wohl liegen gelassen haben. Sein Weggefährte vielleicht? Es ist ein ausländisches Blatt. Nick wirft im Vorübergehen einen flüchtigen Blick darauf.
Er will am kommenden Tag abreisen. Katzenstein dagegen hat vor, noch für eine Weile zu bleiben. Ihm sei, wie er sagt, an einem Aufenthalt im Gasteiner Heilstollen gelegen, seines Rheumas wegen. Man habe ihm Gutes darüber berichtet. Ausschließlich Gutes.
Nacheinander steigen sie die krummsteinerne, grasüberwachsene Treppe hinauf. Oben an der Straße sagen sie einander Adieu. Katzenstein geht zur nahen Kirche hinüber. Er geht jedoch nicht hinein. Nick zieht sich eine Zigarette und betrachtet die Bergkulisse. Ein Streifen Himmel im Westen zeigt blasses Rot. In der Stadt punkten die ersten Lichter. Und die Dämmerung verschlingt gefräßig das schwindende Tageslicht.
Nick dreht eine Visitenkarte in seiner Hand. Er hat sie, einem Reflex folgend, zufällig aufgegriffen. Sie lag neben dem Zeitungsblatt, auf der Bank unten am Fluss. Er liest einen Namen: Korbinian von Seth. Die Adresse und alles andere sind fast unleserlich, ‘Nürnberg’ lässt sich entziffern, ein Signum: i.m. Bro.J.C... sowie eine Telefonnummer. Auf der Rückseite steht in giftgrüner Schrift, verwaschen, folgender Satz: the party is over.
Er nimmt das Kärtchen mit ins Hotel. Es kommt ihm der Gedanke, die Daten in seinen Laptop einzugeben, um im Netz per Suchmaschine ein paar Nachforschungen anzustellen, nur so, zum Zeitvertreib. Er hat ohnehin nichts Wichtiges vor an diesem letzten Abend vor seiner Abreise. Katzenstein rückte vorhin mit dem Vorschlag heraus, sich zu späterer Stunde an der Bar zu treffen, Nick willigte ein... Bis dahin bleibt noch Zeit. Er wird ein Bad nehmen, sich aufs Bett legen, ein Glas Whisky trinken, eine Zigarette rauchen und surfen. Mal schauen, ob etwas dabei herauskommt.
Es kommt nichts dabei heraus. Es wundert ihn nicht. Aber wie auch immer, es hätte ja sein können... Es ist schließlich nur eine Eingebung gewesen, eine Laune, ein Pausenfüller, nichts weiter. Er wirft die Visitenkarte in den Papierkorb und schickt eine E-Mail an Eva. Anrufen will er nicht. Warum, weiß er eigentlich gar nicht. Sie würde es sicher passender finden. Gleichviel. Es steht ihm nun einmal nicht der Sinn nach Telefonieren. Außerdem hat er erst vorgestern angerufen. Es lief der Anrufbeantworter. Eva war nicht im Haus. Schon möglich, dass sie bei der Gymnastik war. Doch nein, der Kurs findet ja immer freitags statt. Dann vielleicht bei einer Freundin, im Lichtspielhaus oder im Wintergarten.
Nick schaltet den Computer aus, rollt vom Bett herunter, tritt ans Fenster. Er schließt es. Es bläst frostiger Wind herein. Unten auf der Straße ist wie üblich nicht viel los. Ein einsames Auto fährt den Berg herauf. Man sieht die Scheinwerfer. Sie bohren die Finsternis auf, die wie ein mächtiger Tunnel ist. Vielleicht ist das gesamte Universum ein mächtiger Tunnel, ein Tunnel dessen Ausgang zugleich sein Eingang ist…
“Schön, dass sie gekommen sind. Was trinken Sie?”
“ Whisky.”
“Scotch?”
“Bitte ja.”
Es ist eine Einladung. Es ist bereits Nicks dritter Whisky an diesem Abend. Zwei hat er auf seinem Zimmer getrunken. Er fühlt sich angeheitert. Katzenstein scheint das bemerkt zu haben. Er scheint überhaupt ein achtsamer Zeitgenosse zu sein.
Irgendwann bietet der Deuschtscheche ihm unvermittelt das Du an. Nick willigt ein, zögernd, überrascht, im Ganzen eher emotionslos. Immerhin, er versucht ein freundschaftliches Grinsen. Er ist nicht sicher, ob das in der Sache weiter hilft.
“Wie war das jetzt gleich mit Ihren Studien? Ich glaube, ich habe bei dem Gedränge eben nicht richtig aufgepasst.“
“Ich sagte vorhin, ich befasse mich mit Ahnenforschung und erwähnte unter anderem die mütterliche Linie meiner Familie: sie lässt sich zurückdatieren bis ins 17. Jahrhundert. In der Folge, so um 1720, verliert sich die Spur. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts finden sich wieder verläßliche Aufzeichnungen. Es gibt eine Reihe von Merkwürdigkeiten in der Chronik. Und da sieht man sich doch versucht, die Lücken schließen zu wollen. Eben das wurde mir dann zum auslösenden Impuls für weitere Erkundungen. Inzwischen hat sich mein Interesse ausgeweitet. Ich forsche jetzt nicht mehr allein in der eigenen Familiengeschichte.”
“Und, haben sich die… Lücken schließen lassen?”
“Nicht endgültig. Es ist nicht so einfach. Im Verlaufe meiner Nachforschungen wurde es immer wieder erforderlich, umherzureisen, zahlreiche Zeugen zu befragen, Kirchenbücher einzusehen, Ortschroniken zu durchforsten. Es gab ein paar zu ihrer Zeit recht respektable Personen in meiner Ahnenreihe, dennoch, so manche Frage bleibt ungeklärt. So manches haftet weiter im Verborgenen.”
“Und wie kommt man von dort auf die Klimaforschung?”
“Das ist eine Geschichte für sich. Die erzähle ich dir gern ein anderes Mal.”
Warum nicht jetzt, denkt Nick und trinkt einen Schluck? Im Grunde interessiert ihn nicht, was Katzenstein an der Klimaforschung spannend findet. Auch das vorherige Thema löst bei ihm keinen Begeisterungstaumel aus. Sein Gegenüber rührt in seinem Becher mit Tee. An diesem Abend ist es Tee mit Ingwer. Alkohol meidet er anscheinend kategorisch.
“Weißt du, wie unsere Vorfahren im 6.Glied genannt werden?”
“Im 6.Glied?”
“Man heißt sie Alturgroßeltern.”
“Donnerwetter.”
“Im 24. Glied umfasst der Ahnenbaum dann bereits komplette Völkerscharen. Man heißt sie Erzahnenurgroßeltern.”
“Heiliger Christophorus!”
Nick leert sein Glas und stellt es auf dem frisch polierten Bartresen ab und zwar so unsanft, dass es einen Bums gibt. Der Keeper wirft einen missbilligenden Blick zu ihm herüber. Katzenstein setzt seine Ausführungen fort, doch Nick hört nicht mehr richtig hin. Er kratzt sich am Dreitagebart. Was mag der kleine Mann sonst noch so treiben? Er hat sich das bereits mehrfach gefragt. Petr Katzenstein bezeichnet sich als ‘Privatgelehrter’. Offenbar verfügt er über ausreichende Rücklagen, um seinen Studien in Ruhe und Ausführlichkeit nachgehen zu können. Er sei viel unterwegs, sagt er. Er zählt seine Reiseziele auf wie andere Leute die Artikel ihrer wöchentlichen Einkaufsliste. Vorhin sprach er gar davon, dass er sich auf der ganzen Welt heimisch fühle.
Im Hintergrund köchelt das Gemurmel des Saalpublikums, rieselt Barmusik. Der alte Mann am Klavier spielt heute gepflegte Langeweile, Ein lauer Mix aus Schlagermelodien und Wiener Walzer. Es ist voller als an den Abenden zuvor. Nick sieht Köpfe, die ihm von der Tagung her bekannt sind. Ein Glatzkopf, eine toupierte Blondine, eine Afrofrisur. Ihm fällt ein, dass er nach dem Duschen wieder ein Büschel Haare im Ausguß vorgefunden hat. Nick denkt zurück an den Vorabend. Er ist mit dem Deutsch-Tschechen im Spielkasino gewesen. Ein vergoldeter Abend.
Das Kasino war mäßig voll. Nick tauschte an der Kasse 2000 Schillinge in Jetons ein. Was sein Begleiter tauschte, sah er nicht, er beobachtete nur, dass dieser im Verlauf einer knappen Stunde nahezu pausenlos gewann. Er hatte sich an einem der Roulette-Tische einen Sitzplatz genommen, und bald schon türmten sich Berge an Spielmarken vor seiner schmächtigen Brust. Es war beeindruckend. Wie üblich bei Gewinnsträhnen hingen sich, sobald der Erfolgsspieler seine Einsätze tätigte, andere Glückssucher an, setzten auf dieselben Zahlen.
Während Nicks selbst ernannter Duzfreund vorerst keine Anstalten machte, den Standort zu wechseln, begab er sich an die Bar. Er bestellte den fünften Whisky. Er war über sich selber erstaunt - darüber, wie mühelos er das Zeug wegsteckte. Weder wurde ihm schwindlig, noch drohte er aus den Schuhen zu kippen. Auch sein Sprachfluss schien kaum zu leiden. Eine leichte Unschärfe stahl sich bisweilen in seinen Blickradius, das blieb das einzige, was ihm störend auffiel.
Nach einer Weile kam Katzenstein zu ihm herüber. Die Taschen seines Jacketts waren deutlich erkennbar ausgebeult. Unter seiner ausgeprägten Nase lag ein längliches Grinsen, das ein paar Verwerfungen mehr in das zerknitterte Gesicht zeichnete, und aus seinen Knopfaugen strahlte ein feuriger, nahezu unirdischer Glanz. Es war das erste Mal, dass Nick die schmale, hufeisenförmige Narbe auffiel, die der andere unterhalb der linken Wange trug. Sie war fast so blaß wie seine Gesichtsfarbe. Jetzt aber hatte sie einen Lichthof, sie glühte, in Karmesinrot.
Es war nahe Mitternacht. Lustlos kaute Nick auf einer gesalzenen Erdnuss herum. Katzenstein hatte ihn nun nahezu erreicht. Nick sah den kleinen Mann prüfend an. Ihm war der andere im Grunde nicht unangenehm, wenngleich sein Verhalten zuweilen etwas Klebriges hatte. Wie alt mochte er sein? Anfang 70? Es war eine typische Unterwegs-Bekanntschaft. Nick drehte sich der Bar zu. Neben ihm hockte ein Doktor der Rechte aus Rotterdam. Sie hatten zuvor kurz miteinander geplaudert. Der Holländer sprach, wie so mancher seiner Landsleute, recht passabel deutsch.
Auch Nick besitzt einen Doktortitel. Doch er macht sich nicht sehr viel daraus. Er führt ihn nicht an einer Halskette spazieren. An der Tür zu seinem Büro findet sich ein schmales Messingschild, auf dem zu lesen ist:
Dr. Mangold, Projektleiter.
Jedes Mal, wenn es ihm vor Augen kommt, findet er es seltsam, ja fast ein bisschen befremdlich, so als gehöre er nicht recht zu ihm, dieser Titel.
Er hatte einst, überlegte er, während er an dem sechsten Whisky nippte, den Ehrgeiz besessen, sich mit einer wissenschaftlichen Abhandlung einen Platz in der Waffenkammer des Lebens sichern zu wollen, mit seiner Doktorarbeit. Das liegt Äonen zurück. Heute muss er darüber lächeln. Es ist am Ende etwas daraus geworden, das man zu dem gehobenen Routine-Inventar des beruflichen Werdegangs der Ingenieurwissenschaften rechnen kann. Heute arbeitet er in der Forschung, nur sind, zwischen Eisen, Mangan, Quarzsand, Kalkmilch und Haloformen, seinem Gehirnwasser, anders als etwa dem Grundwasser, nicht nur einige chemische Bestandteile entzogen worden, es ist auch Glaubenskraft ausgefallen. Es ist nicht mehr quellfrisch.
Andrerseits, ein Doktortitel bringt gesellschaftliche Anerkennung. Nur ist seine Mutter weithin die einzige Person, die Befriedigung und Stolz darüber empfindet, dass es in der Familie einen akademischen Dienstgrad gibt. Ansonsten dominiert in der Führungsriege seiner Verwandtschaft solider Handwerkergeist. Man ist bodenständig, man ist wertestabil. Nick hat drei Brüder und eine Schwester, altersmäßig steht er in der Mitte. Der Vater ist vor drei Jahren verstorben. Lungenkrebs. Er war exzessiver Raucher und - dem Naturell nach - Melancholiker. Er hatte, wie Nick irgendwann gewahr wurde, früh damit begonnen, die Pfeilspitzen seiner Lebensziele abzuschleifen…
Nick erinnert sich noch, dem Deutsch-Tschechen einen Drink angeboten zu haben, gestern Nacht, nach dessen exorbitanter Glückssträhne, weil er der Meinung war, jetzt wäre es an ihm, eine Einladung auszusprechen. Erst wollte Katzenstein nicht - er trinke keinen Alkohol, lautete seine Begründung, er vertrage ihn nicht - dann willigte er schließlich doch ein, und Nick bestellte für ihn auf Wunsch einen - Eierlikör.