Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеPlötzlich war es kalt geworden. Und neblig. So war er eben, der späte Herbst.
Nick wartete im Foyer auf Katzenstein. Der hatte ihn darum gebeten. Die Uhr zeigte auf halbzehn. Nick hatte kurz gefrühstückt. Das Hotelbuffet war gut, frisch, reichhaltig. Morgens aß er allerdings kaum etwas. Er hätte mit dem Deutsch-Tschechen frühstücken können, doch der frühstückte, wie er sagte, selten bis nie.
Einige Gäste durchquerten die Hotelhalle. Ein älteres Ehepaar mit reichlich Gepäck. Er schwitzend, trotz der Kälte, die im Freien herrschte, sie, Zigarre rauchend und mit einem Hut bewaffnet, der an ein Hirschgeweih erinnerte. Neuankömmlinge. Eine junge Frau schritt an Nick vorüber. Sie trug kondomenge Sportkleidung. Sie kam aus dem Fitnessraum, ein weißes Handtuch um die Schultern gelegt. Auch auf ihrer Stirn glänzte Schweiß. Nick blickte ihr aufmerksam nach. Unter der Stoffhose wölbte sich ein Hinterteil, das jede Edelbirne gelassen ausgestochen hätte.
“Jetzt müsste ihr die Hose platzen, nicht wahr?”
“Guten Morgen.”
Nick wandte sich um, als die weiche Stimme Katzensteins über ihn kam. Der kleine Mann stand da und zwinkerte mit dem linken Auge. Oder war es das rechte? Sie waren so knopfähnlich, seine Augen. Katzenstein trug, wie schon am Vortage, die zerklüftete, senfbraune Kordhose. Selbst das Hemd schien Nick dasselbe zu sein, ein marineblaues Hemd mit altmodisch breitem Kragen. Allerdings fehlte die Fliege...
Nick stoppt die Bilder, die vor seinem inneren Auge Revue passieren. Heute endet die Klima-Tagung. Gestern gab es lediglich eine kurze Veranstaltung, am frühen Nachmittag. Er ist nun also den dritten Tag vor Ort. Das, so denkt er, reichte locker, um den Überblick zu behalten, selbst für jemanden, der nicht weiter als bis dreikommadrei zählen kann. Er wird, nach Abschluss der Tagung noch ein weiteres Mal mit Katzenstein zusammentreffen.
Am Abend zuvor waren sie bereits einmal gemeinsam unterwegs gewesen. Im Spielkasino. Es war Katzensteins Idee… Nick setzte die ganze Zeit über auf die Vier, plein. Doch er gewann nichts. Dabei ist die Vier seine Lieblingszahl. Im Vorfeld gab es noch ein raues Randereignis.
Und zwar auf dem Weg zum Kurmittelhaus. Der Deutsch-Tscheche hatte sich gerade eine Zeitung gekauft, als es passierte. Zwei Halbwüchsige verstellten ihm den Weg, pöbelten ihn an, ohne ersichtlichen Grund. Offenkundig suchten sie Streit. Und die Burschen machten den Eindruck, als hätten sie eine zügellose Nacht hinter sich. Der eine, ein halsloser, krebsroter Mensch mit einem Haufen offenbar überschüssiger Hormone, fasste Katzenstein unvermittelt an der Schulter und machte Anstalten, ihn durch die Luft zu wirbeln.
Nick, der ein paar Meter voraus war, hörte das Stimmen-Crescendo, wandte sich um, lief zurück. Er gewahrte, dass sein Begleiter ernsthaft in Gefahr geriet, verprügelt zu werden. Er überlegte nicht lange, sondern schritt ein und schlug wortlos eine kurze, krachende Rechte. Der aktive Raufbold fiel auf der Stelle um und rührte sich nicht mehr. Sein Kumpel wich verwirrt zurück. Damit war die Partie beendet. Katzenstein staunte anerkennend. Und bedankte sich artig bei seinem Retter, der seinerseits bescheiden abwinkte.
Im Unterbau ist Nick ein eher ruhiger, bedächtiger Mensch. Ein Moment sichtbarer Unruhe an ihm sind seine Arme. Er schleudert diese, wenn er geht, weit von sich. Es ist, als sehe man zwei dicke, feste Taue im Hitzestau. (Jetzt hingen sie allerdings schlaff nach unten). Und er regt sich selten auf. Er ist nicht sonderlich impulsiv. Seine Arbeitskollegen daheim im Wasserwerk halten es für Gelassenheit, seine Frau nennt es Phlegma.
Nick dachte in diesem Augenblick nicht an seine Frau, nicht an Zuhause. Er hat das all die Tage kaum getan, im Grunde seit er hier angekommen ist… Eva und er sind seit knapp sechzehn Jahren verheiratet. Sie haben zwei Kinder, einen Sohn, eine Tochter und seit Jahren nur sporadisch Sex. Doch er liebt seine Frau. Sie sind auch zärtlich miteinander, nicht oft, aber oft genug, für seinen Bedarf.
Auf ihrem weiteren Marsch kamen die beiden Männer an Nicks Wagen vorüber. Nick begab sich an die Rückseite des Fahrzeugs, um einen Stoß Papiere aus dem Kofferraum zu nehmen. Katzenstein - erstaunlich entspannt nach dem unerfreulichen Intermezzo - ließ seinen Blick an dem Aston entlang gleiten.
“Ein schönes Exemplar.”
“Ja.”
“Nicht ganz preiswert, vermute ich.”
“Sie vermuten richtig.”
“Ein britisches Modell, nicht wahr?”
“Ja. Ein Aston Martin V8 Volante, Baujahr 83.”
In Nicks Stimme klang kurzfristig ein fachkundiger Unterton auf. Sanft schloss er die Kofferhaube und blieb, die Arme in die Seiten gestemmt, breitbeinig vor dem Automobil stehen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, es läge eine Portion Besitzerstolz in dieser Haltung…
Ein rostrotes Ahornblatt zitterte über der metallic-blauen Kühlerhaube im Wind. Mein Begleiter, überlegte Nick, mag sich vielleicht fragen, wie ein technischer Angestellter sich einen Wagen wie diesen leisten kann.
“Die Limousine entstammt einem Nachlass. Ein Großonkel, wissen Sie... Er war ein Autonarr.”
“Ich verstehe.”
“Eigentlich hätte ich den Wagen ja verkaufen sollen... wenn es nach meiner Frau gegangen wäre, aber dann… habe ich ihn doch behalten.”
“Man sollte nicht immer nur aus Vernunftgründen handeln.”
“Das gute Stück ist gar nicht so kostspielig im Unterhalt, wenn man einmal vom Spritverbrauch absieht. Leider zeigt es sich seit einiger Zeit unpässlich. Etwas stimmt an der Elektrik nicht. Ich war bereits einige Male in der Werkstatt, aber dort hat man keine Idee, woran es liegen könnte.”
“Nun ja, die Angelsachsen. Sie haben nicht allein ihre Sprache über ihr einstiges Imperium verbreitet, sondern gleichermaßen ihre Defizite. Und beides haftet wie Klebstoff.”
“So habe ich das bislang allerdings noch nicht betrachtet.”
Nick setzte bei diesen Worten des Deutsch-Tschechen ein schwaches Lächeln auf. Als sie sich wieder in Bewegung setzten und die Straße überquerten, um sich in den Pulk der Tagungsgäste einzureihen, welcher entschlossen in das Kurmittelhaus hinein drängte, meinte Katzenstein, fast beiläufig, er habe weder Familie noch Verwandtschaft, bis auf eine jüngere Schwester, im fernen Amerika. Sie lebe bei den Quäkern. Und habe sich von ihm losgesagt. Weil sie ihn für einen Ungläubigen, einen Gottlosen, ja, für einen Antichristen halte.