Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 13
Kapitel 11
ОглавлениеHalblaut schimpft sie vor sich hin.
“Vergiss nicht wieder, eine Packung Pampers mitzubringen, hörst du?”
“Oui, Madame.”
Nicht sie hat es vergessen, die Madame vergaß, es ihr beim letzten Mal zu sagen. Doch wenn eine Sache fehlt oder Probleme macht, stets ist sie die Schuldige. Eines steht für sie schon jetzt unumstößlich fest: Lange wird sie die Familie nicht ertragen.
Die Frau ist ein Nervenbündel, das Baby brüllt am Tage wie in der Nacht, die ältere Tochter ist komplett verzogen, und der Mann, ein Kinderarzt, stellt ihr heimlich nach. Sie bereut es, nicht nach London gegangen zu sein. Aber es war das erste Angebot, das ihr daheim begegnete, und sie wollte ihr Zuhause möglichst rasch verlassen. Also Paris. Dabei mag sie die Stadt. Und mit der Sprache hat sie ja keine Probleme.
Sie verlässt das Haus in der Avenue Hoche. Nach dem Einkauf muss sie die siebenjährige Elaine vom Ballett-Unterricht abholen, die ‘kleine Prinzessin’, wie ihre Eltern sie nennen. Sie hat das Aussehen eines blonden Engels. Nur ist Elaine alles andere als das. Sie ist, Maries Erfahrung nach, eher eine kleine Hexe. Das Mädchen verfügt über ein ausgewiesenes Talent, die Erwachsenen gegeneinander auszuspielen, vor allem dann, wenn etwas nicht nach seinem Willen geht. Und es kann störrischer sein als eine blind geborene Schildkröte. Außerdem mag die Kleine sie, Marie, das neue Kindermädchen nicht. Und sie zeigt es deutlich.
“Du bist hier nur die Dienerin und hast zu tun, was man dir sagt.”
So giftete sie neulich altklug und von oben herab, als Marie ihr etwas verbieten wollte. Bei anderer Gelegenheit, als sie wegen einer heruntergefallenen Puppe Streit miteinander bekamen, schrie Elaine, Marie habe ihre Lieblingspuppe kaputt gemacht, sie habe Negerhaar, und sie sei überhaupt hässlich und gemein. Marie stimmt all das düster und wütend zugleich. Dabei sollte ihr die Arbeit in der Fremde doch dabei behilflich sein, auf andere Gedanken zu kommen, die alten zeitweise wegzuschließen. Das ist es, was sie gegenwärtig am dringendsten nötig hätte.
Sie geht zur nächsten Metrostation, weil Monatsende ist und sie einen neuen Fahr-Coupon braucht, für ihre Carte Orange. Dann macht sie ein paar der ihr aufgegebenen Besorgungen und im Anschluss daran eine Pause im Parc Monceau, wo sie sich gerne aufhält. Heute funkelt der Spätherbst, tupft mit Wattestäbchen Goldlametta in die Lüfte. Oft, wenn sie das Baby spazieren fährt, führt sie ihr Weg durch diese Parkanlage. Und sie hat hier Freundschaft geschlossen mit einem Mädchen, das wie sie bei einer französischen Familie lebt und arbeitet und dass wie sie Anfang Zwanzig ist. Das Mädchen heißt Aicha, kommt aus Bénin. Aicha hat ein fröhliches, unbeschwertes Wesen. Und sie versteht es für gewöhnlich Marie aufzuheitern, wenn bei dieser wieder einmal eine kleine Herzfinsternis aufzuziehen droht.
Eine Kindergruppe in blauen Schuluniformen springt ihr lärmend entgegen. Das erinnert sie an ihr Zuhause. Auch an diesem Vormittag trifft sie Aicha auf einer Bank sitzend an, vor sich die Kinderkarre, die sie, einen Fuß an der Vorderstange des Bodengestells, sachte auf und nieder wippen lässt.
Die beiden Mädchen begrüßen einander. Marie setzt sich. Sie rauchen. Heute ist das Lachen Aichas noch strahlender als sonst. Sie habe sich, wie sie putzmunter berichtet, für eine Tanzausbildung angemeldet. Sie hat lange dafür sparen müssen. Zunächst will sie in einer Musikgruppe tanzen. Ihr französischer Freund ist Musiker. Für die Zukunft träumt sie von einer Karriere als Musical-Star. Denn singen kann sie ebenfalls. Sie ist überzeugt, dass farbige Mädchen gute Chancen haben im Musik-Business, vor allem, wenn sie nicht allein begabt sind, sondern auch gut aussehen. Marie sieht das skeptischer.
Schließlich kennt sie das Metier ein bisschen. Doch sie kommentiert es nicht. Vielleicht täuscht sie sich in diesem Fall ja. Sicher ist in Frankreich manches anders. Marie schaut die Freundin von der Seite her an. Aicha ist ein hübsches Mädchen. Und sie hat eine limonenfrische Ausstrahlung. Merkwürdig, obwohl beinahe gleichaltrig, fühlt Marie sich um Jahre älter.
“Du wirst also in Frankreich bleiben, Aicha?”
“Natürlich werde ich, chérie. Was soll ich in meiner Heimat? Wäre ich nicht dumm, wenn ich dorthin zurückginge? Soll ich einen Bettler heiraten und ein Dutzend Blagen aufziehen? Und du? Du willst nicht?”
“Ich weiß es noch nicht.”
Marie ist seit zwei Monaten in Paris. Gestern hatte sie das erste Mal Heimweh. Vielleicht lag es am Wetter. Heute strahlt blitzsauber die Sonne. Da könnte es ihr, so gesehen, besser gehen. Sie hat vorhin einen Brief zur Post gebracht, adressiert an ihre Mutter und an ihre Brüder. Nach Hause telefoniert hat sie bereits mehrfach. Leider wird es auf die Dauer ziemlich teuer.
Sie ist nicht allein auf dieser Welt, doch es kommt ihr so vor. Es liegt nicht daran, dass sie in der Fremde ist. Es liegt daran, dass sie Tito verloren hat. Denn Tito ist tot. Die Überfahrt nach New York auf einem Bananenfrachter musste er mit dem bezahlen, was man Leben nennt. Schon der Abschied fiel auf einen Tag in Maries Dasein, der voller Schmerz war - ein vergitterter Schmerz.
Tito verstarb infolge eines tragischen Handgemenges mit einem vietnamesischen Matrosen. Die beiden Männer hatten Streit während einer Partie Strip-Poker. Der andere zog unvermittelt einen Dolch und stach zu. Tito, der stets von einem kinohaften Auftritt auf der großen Bühne des Lebens geträumt hatte, war, was den Abgang anging, erhört worden, wenn auch anders als erhofft und ohne Wissen des Großen Publikums...
Marie hielt es nicht länger in ihrer Heimat. Die Trauer drohte sie zu verschlingen. Sie überlegte fortzugehen, und das möglichst rasch. Und sie tat es. Sie verließ Speightstown. Sie verließ Barbados. Ursprünglich kam sie von Guadeloupe. Aber auf Barbados hatten Tito und sie sich kennen gelernt. Sie fasste den Entschluss, sich einen Job zu suchen, als Au Pair, in weiter Ferne, in Europa…
Marie denkt kurz zurück. Es ist wohl wegen des Briefes. Sonst vermeidet sie jeden Gedanken an Zuhause. Bei ihrer Mutter wird die Freude groß sein, von der Tochter zu hören, soviel ist gewiss. Sie vermisst Marie sehr. Sie macht sich Sorgen, natürlich. Ihre Mutter heißt Maria, und ihr wäre es lieber gewesen, wenn auch ihre einzige Tochter diesen Namen hätte tragen können. Der Vater wollte es aber anders, und er setzte sich durch. Das ist, neben dem Verdienst, sie gezeugt zu haben, sein einziger Beitrag zu Erziehung und Werdegang seines Kindes geblieben.
Marie hat ihren Vater, da er zur See fährt, in vielen Jahren kaum gesehen. Ihre Eltern lernten sich auf einem Wochenmarkt in Pointe-à-Pitre kennen, die Mutter hatte dort einen Obststand. Sie heirateten bald. Die Kinder kamen in rascher Folge. Zunächst besuchte der Vater die Familie regelmäßig auf Guadeloupe, sobald sein Schiff an einer der Nachbarinseln vor Anker lag.
Dann wurden seine Besuche seltener. Und wenn er schließlich doch einmal aufkreuzte, blieb er stets nur für wenige Tage. Anfänglich erklärte er es mit den kurzen Liegezeiten der Schiffe, auf denen er gerade Arbeit hatte. In der Folge gab es keine Erklärungen mehr. Schließlich blieb er ganz weg. Es erreichte die Familie eines Tages ein Brief aus dem kanadischen Quebec, der Stadt, wo er geboren und aufgewachsen war, mit etwas Geld und ein paar mageren Zeilen. Danach herrschte Funkstille. Bis heute weiß Marie nicht, wo ihr Vater sich aufhält.
“Ich muss gehen.”
Aicha ist aufgestanden, beugt sich über die Kinderkarre, um zu prüfen, ob das Kleine noch schläft. Marie schaut zur Uhr. Auch für sie wird es Zeit. Sie wirkt nachdenklich. Sie hat gerade einen Entschluss gefasst.