Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеIm Osten kein Rot. Nicht an diesem Morgen. Nicht einmal für Frühaufsteher. Nur Wind bläst stoßweise von dort herüber, von den Bergen herab, herbstrau, fasst ihm kräftig hinter beide Ohren, die, so scheint es, noch weiter von seinem Schädel abstehen als für gewöhnlich. Und kalt könnten sie in Kürze werden, kalt wie ein ausgekühltes Verlangen. Immerhin, sie blättern nicht ab. Und wehen nicht fort.
Nikolaus Mangold steht auf dem Balkon. Sein Blick beschreibt einen Halbkreis. Dunst liegt im Tal. Schade, man erkennt die Berghöhen kaum.
Er hat Zeit. Er wird in aller Ruhe frühstücken können. Ja, er könnte gar - die Stundenuhr erlaubt es - einen kleinen Rundgang machen, hinaus in einen kühlen, spröden Spätoktober. Und genau das wird er jetzt tun.
Der Weg vom Hotel zur Ortsmitte hin ist steil. Er geht raschen Schrittes. Ziemlich bald schon spürt er die eigene Herz-Lungenmaschine - schlecht austrainiert. Die Luft, die er in kurzen hastigen Stößen einsaugt, sticht wie mit Eisnadeln in seinen Atemwegen. Da wäre, überlegt er, noch etwas, was ihn begleitet: Eine Mattigkeit, umlagert ihn seit Tagen, verhangen, diffus, steril. Gibt es Grund zu Befürchtungen? Gibt sein Allgemeinbefinden Anlass, sich Sorgen zu machen? Nein, im Grunde nicht.
Und sonst? Irgendwelche chronischen Beschwerden? Keine. Fantomschmerz? Erbkrankheiten? Mitesser? Ebenfalls keine. Er hat vor kurzem erst einen Check-up machen lassen. Blutdruck unverdächtig. Nichts Auffälliges unter den Laborwerten. Der Lebensabdruck eines Mittvierzigers... es könnte also normalverteilt weitergehen.
Nick hat den Aufstieg vollendet. Er hechelt. Er ist Höhenunterschiede nicht gewöhnt. Er ist Flachländer. Der jüngere Teil des Ortes liegt vor ihm ausgebreitet. Bad Gastein. Es ist hier ziemlich anders als Zuhause. Kaum Leute in den Gassen, zu dieser Stunde, zu jeder anderen vielleicht auch. Er kauft eine Packung Zigaretten in einem kleinen Tabak- und Zeitschriftenladen. Gegenüber findet sich die Bahnstation, dahinter eine Seilbahn.
Er wendet sich zurück, begibt sich wieder abwärts, hinab in den historischen Ortskern, der sich, in luftiger Höhe oberhalb des Tals, seidenmatt in sprödes Berggestein einschmiegt. Er geht auf der Hauptstraße. Der Lärm, der ihm voraus das Pflaster überbraust, zwischen den Belle-Epoque-Fassaden, rührt von diesem berühmten Wasserfall her. Berühmt? Na ja, sagen wir, weithin bekannt... Ein bündiger Lärm, und das einzig wirkliche physische Lebenszeichen einer, wie es ihm vorkommen will, betagten, nahezu erloschenen Stadt. So sein erster Eindruck. Mag sein, dass in naher Zukunft, etwa wenn Schnee fällt, der Schauplatz verändert erscheint, wintersportlich. Ein Spitzenkoch soll hier gelernt haben. Goethe soll einst hier gewesen sein, ebenso Mendelssohn und einst der Kaiser.
Gestern war Sonntag. Und zur Kaffeehausstunde brachte man am Platze vor dem Kurmittelhaus einige spätromantische Tondichtungen zu Gehör. Eine kleine, flotte Wanderkapelle, bestehend aus sehr jungen Konzertmusikern, tat es. Es fanden allerdings nur wenige Zuhörer den Weg dorthin. Von der geöffneten Balkontür seines Hotelzimmers aus konnte er den Klängen folgen, hinter sanft wehenden Vorhängen...
Nick schlägt einen Haken. Er kommt an seinem Automobil vorbei, das in einer Seitengasse parkt. Eine Straße weiter liegt das Spielkasino. Bekränzt von träge rieselndem Restlaub. Borke um Borke. Blatt um Blatt... Er setzt sich in sein Auto, raucht eine zweite Zigarette, schmiegt sich tief in das Connolly Leder, lässt eine Hand aus dem Wagenfenster baumeln; beinahe zärtlich berühren seine Finger das dunkel schimmernde Blechkleid des Cabriolets. In der hiesigen Umgebung fällt ein Wagen wie dieser kaum auf. Er schaltet das Radio ein, schaltet es Minuten später wieder aus. Er verlässt seinen Platz auf dem Fahrersitz, schließt die Wagentür, wirft die halb ausgerauchte Zigarette fort, marschiert abermals eine Handvoll Schritte, ziellos. Dieses Mal geht es Richtung Wasserfall.
Auf der Brücke macht er Halt, blickt rechterhand auf das aus klammer Höhe herabstürzende Nass, blickt linkerhand in die Tiefe, über tosende Gischt hinweg, dann hinauf zu den halb unsichtbaren Berggipfeln ringsumher. Auf einem, heißt es, liege ewiger Schnee. Kogel nennt man hier die Berge, Graukogel, Stubnerkogel. Nick kennt sich mit Bergen nicht so gut aus. Nachdem er sie jedoch aus der Nähe gesehen hat, ist er schon beeindruckt… Zwei Vögel steigen gegen die gesteinten Kämme auf, ein Flugzeug, sowie eine schmale, kalkweiße Wolke. Er kratzt sich am Kinn, das heute stoppelig ist, und seine Gedanken eilen in unbekannte Fernen, mit Blaulicht…
“Das neunzehnte Jahrhundert war voll tragischer, das verflossene voll diabolischer Gestalten, nicht wahr?”
Das äußerte Petr Katzenstein ihm gegenüber in einer Tagungspause. Der Mann hat - eigenen Angaben zufolge - in weit mehr als zwei Berufen gewirkt, aber in zweien, so erzählte er, habe er reüssiert: als Kunstschütze und als Eisenbieger. Und erläuternd fügte er hinzu, früher sei er ein kräftiger Mann gewesen, eine böse Krankheit habe bedauerlicherweise seine Physis ruiniert. Diese Erklärung, befand Nick, war, in Anbetracht der eher kärglichen Leibesumstände des Deutsch-Tschechen, entschieden nötig. Gleichwohl, es wäre eine motorische Rarität, wenn, was er erzählte, der Wahrheit entsprach.
“Derlei Ohren könnten kaum einen Bleistift halten, nicht wahr?”
“So ist es.”
“Ich habe also einen kleinen Geländevorteil.”
Nick erwiderte das Lächeln des anderen. Dafür stößt unser Mann beim Sprechen an, dachte er, mit der Zunge an die Vorderzähne, unmerklich zwar, aber ich merke es. Und er zieht ein wenig das linke Bein nach.
Sie waren ins Freie getreten, auf den Platz vor der schmutziggrauen Tagungsstätte. Der öffentliche Bau stand dort in des Ortes Mitte, unmittelbar über einer Tiefgarage, am Steilhang oberhalb des kurvigen Flussbetts, an exponierter Stelle, eine steinerne Missgeburt, Fleckenfieber in Beton, ein Kuratorium des schlechten Geschmacks - Nick drückte seine Kippe in dem aschgrauen Sand einer der betonierten Eierbecher aus - erschlaffte Ideenrelikte einer ganzen Ära katatoner Innenarchitektur. Kindshoch ragten sie auf, im Foyer des Kurmittelhauses, in das sie zurückkehrten, weil die Pause jetzt endete; weiter ging es von da in die von Sarglicht geisterhaft erhellten Flure im Untergeschoss, wo die Tagungsräume lagen.
Nick drehte sich nach Katzenstein um, welcher, die Hände in den Taschen seiner kraterähnlich zerklüfteten, senfbraunen Kordhose, an einer Pinnwand stehen geblieben war, auf der zahlreiche Ankündigungen aushingen, die aus irgendeinem Grunde zeitweise sein Interesse fanden. Dann folgte ein Blick zu Nick herüber, auffordernd, schelmenhaft.
“Schenkt man sich den Rest der Sitzung?”
“Ich hätte nichts dagegen.”
“Gehen wir in die Hotelbar. Auf einen Drink?”
“Einverstanden.”
Sie verließen das Gebäude also wieder, das sie eben erst betreten hatten, auf neu berechnetem Kurs. Katzenstein ging voran. Nick holte ihn ein, von da an blieb man an auf gleicher Höhe. Der andere musterte ihn von der Seite her, freundlich, forschend, als gäbe es etwas zu entdecken an ihm. Die Stimme des Deutsch-Tschechen wirkte weich, ein dunkles Plätschern in Moll, gelegentlich auch eine helle Stromschnelle. Nick mochte sie eigentlich von der ersten Sekunde an. Als sei sie für mich komponiert, dachte er. Und er grinste innerlich bei diesem übermütigen Gedanken.
“War es nicht zum Sterben langweilig?”
“Da stimme ich Ihnen zu.”
“Weilen Sie oft auf solchen Tagungen?”
“Es war die erste dieser Art. Und ich hoffe, auch die letzte.”
Nick vertrat einen Kollegen, der krank war. Klimaforschung. Darum ging es hier. In überlangen, ermüdenden Referaten. Das Auditorium war randvoll, der Redner gab es viele, aus allen fünf Kontinenten.
In der Hotelbar trank Katzenstein Obstsaft. Nick bestellte Kaffee und Marillen-Schnaps. Er trank den Kaffee mit Schlagobers. Es war ziemlich genau halbsechs Uhr Abends. Außer ihnen und dem Barkeeper war nur ein steinalter, weißhaariger Mann anwesend. Und da sich hier kein weiterer Gast aufhielt, konnte dieser wohl tun, was er wollte. Der Mann war der Barpianist. Er saß an einem Bösendorfer Flügel und spielte vorzugsweise Cole-Porter-Stücke. Nick nahm sein Glas zur Hand, starrte auf die wolkigweiße Creme, zerteilte sie mit dem Löffel und entblößte eine schwarze, mäandrierende Fläche. Er trank von dem Kaffee. Sein Begleiter schaute zu.
“Sind Sie das erste Mal in dieser Region?”
“Das erste Mal, ja.”
“Ich mag die Berge.”
“Ich mittlerweile auch.”
Sie kennen sich seit dem Eröffnungsreferat, vom Vortage. Aus einer Zigarettenpause. Es war Petr Katzenstein, der Nick den ersten Ball zuspielte. Mit einer Spielvariante, die diesem bislang noch nicht begegnet war. Ob er wisse, wie man einen Schiffsknoten binde? Nick verneinte, und der Deutsch-Tscheche fuhr lächelnd fort, er auch nicht, besser wäre es aber zweifellos. Wer es verstehe, einen Knoten zu binden, sollte wohl imstande sein, diesen auch wieder zu lösen; so hätte man hier und heute die Chance, in See zu stechen, um dieser Insel der Unseligen zu entkommen. Mit Insel der Unseligen meinte er die hiesige Tagungsstätte.
Nick fasste den Mann, dessen Rede und Gebaren er zeitweise als etwas umständlich oder sogar geschraubt empfand, näher ins Auge. Er war einen Kopf kleiner als er, was kein Kunststück war, denn Nick war lang, blond, blauäugig und überhaupt in der Summe dominant-rezessiv nordisch. Möglicherweise hielt der andere ihn ja für einen Seemann oder gar für einen Kapitän. Das konnte man, seinem Äußeren nach, umständehalber, tun. Das hatten bereits andere, umständehalber, getan.
Doch nein, der Mensch wollte offenbar lediglich mit ihm ins Gespräch kommen. Während der Begrüßungsrede hatten sie Plätze, die benachbart waren, und schon hier suchte der kleine Mann wiederholt Blickkontakt, warf mehrfach eine Handvoll Worte in Nicks Richtung. Ihm war entfallen, welche. Zu jenem Zeitpunkt widmete er noch dem aktuellen Vortragsredner, einem kolumbianischen Professor der Wetterkunde seine Aufmerksamkeit, gelangweilt, gleichwohl wach, machte sich eine Handvoll Notizen, für seinen erkrankten Kollegen, was er nach dem dritten Vortrag jedoch, müde geworden, aufgab.
Nick reiste nicht sogleich ab, am Folgetag. Die Klima-Tagung war auf drei Tage angesetzt. Drei Tage zu viel. Er war es rasch leid, all das selbstverliebte, international gelehrte Experten-Geschwätz. Nur war er es Tim Leopold Weber, seinem Kollegen, irgendwie schuldig, wenigstens eine Prise nützlicher Informationen einzusammeln. Also beschloss er zu bleiben, bis zum bitteren Abspann.