Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 15
Kapitel 13
ОглавлениеLeise, ja, zärtlich fast brummt der Motorblock der Limousine. Die Klima-Tagung liegt hinter ihm.
Er fährt gern lange Strecken, allein, im Auto. Es entspannt ihn. Es hat zuweilen etwas Meditatives. Es ist ein bisschen wie früher, in seinen jungen Jahren, wenn er mit seinem Vater zusammen ausgedehnte Spaziergänge unternahm.
Nick hat das Autoradio eingeschaltet. Da er keinen passenden Sender ausfindig machen kann, legt er eine Musikkassette ein. Villa-Lobos: Konzert für Gitarre. Zeitweise summt er mit, so gut er eben kann. Ringsum blitzen im Sonnenlicht die Berge der Steiermark. Er ist jetzt seit gut einer Stunde unterwegs. Er hat nicht den geraden, er hat einen Umweg genommen. Zwei Erdentage verbleiben ihm, ehe er zurück an seine Arbeitsstelle muss. Er beabsichtigt, in München einen Zwischenstopp einzulegen. Um einen Freund zu besuchen. Er hat sich angemeldet. Er wird erwartet.
Es ist ein alter Bekannter, aus Studientagen. Man hat sich lange nicht gesehen. Martin Kappes heißt der Mann. Er ist Pressereferent. Nebenher, in seiner kargen Freizeit, spielt er Saxophon. Er sagte Nick am Telefon, er würde heute Abend mit Freunden in einem Lokal eine Jazzsession geben. Nick könne gerne als Zuhörer mit dabei sein. Der ist nur dünn begeistert von dieser Idee, hat aber eingewilligt.
Es erinnert ihn daran, dass er selber keine nennenswerten Hobbys kennt. Ein bisschen Schach, mit einem Arbeitskollegen. Ab und an geht er joggen, mehr aus hygienischen Gründen, das ist schon alles. In seiner Familie dagegen waltet eine gewisse Vereinsmentalität, woran ja weiter nichts Artfremdes ist, im Mutterland der Vereine. Seine Mutter ist in einem Bridge-Club. Sein Vater war Hobby-Astronom und Mitglied in einem Angler-Verein, seine Schwester, sie lebt in Peine, ist in einem Förderverein ehrenamtlich tätig - er hat vergessen, worum es da geht, und sein ältester Brüder schießt in einem Schützenverein.
Nick wechselt das musikalische Material, das Gitarrenstück hat ausgezittert. Er wird bei nächster Gelegenheit einen Rastplatz anlaufen müssen. Er spürt, dass ihn die Blase drückt. Wieso eigentlich muss er so häufig an seinen Vater denken? Jährt sich dessen Todestag? Nein. Gibt es sonst einen triftigen Grund? Er weiß keinen... Er war so unscheinbar, der Vater. Er ist so leise durchs Leben gegangen. Im Grunde hat Nick ihn nicht gut gekannt, nicht gut genug. Doch das geht wohl manchen Söhnen so. Hat er etwas von ihm mit auf den Weg bekommen, ein Charaktermerkmal, ein Talent, eine Neigung? Vielleicht eine Einstellung. Nämlich die Einstellung, die gesellschaftlichen Leitbilder in einem monochromen Licht zu sehen. Wenigstens ab der zweiten Lebenshälfte. Es ist, überlegt Nick, nicht allein Ernüchterung. Es hat auch einen pragmatischen Grund: Es schärft den Blick für das Mögliche.
Eine Äußerung seines Vaters ist ihm haften geblieben, einmal weil sie ihn überraschte, und dann war es, soweit Nick sich entsinnen kann, das einzige Mal, dass der Alte sich zu einem semiphilosophischen Ausspruch hatte hinreißen lassen. Eines Tages brachte er folgenden Satz zu Gehör: Die menschlichen Ideale, sie gleichen den Leoniden, sie glühen flüchtig auf am Firmament des Lebens, um sich bald schon in tausendfacher Verkleinerung ins Halbdunkel der Geschichte zu verabschieden... Das war nicht schlecht für einen Tischlermeister. Der Vater sprach nicht von ‘Halbdunkel’, sondern von ‘Dunkel’. Aber ‘Halbdunkel’, findet Nick, klingt besser.
Die Strecke, die Nick befährt, führt angenehm wenig Verkehr. Er fährt nicht schnell. Erst denkt er daran, das Verdeck zu öffnen, wie auf der Herfahrt, lässt es dann jedoch. Es weht ein zu starker Wind. Außerdem schlägt sein Immunsystem Alarm: eine Armee an Grippeviren steht bereit, in seinen Organismus einzumarschieren.
Ein Hinweisschild beschirmt sein Gesichtsfeld. Der erwartete Rastplatz kündigt sein Erscheinen an. 1000 Meter noch. Es muss von den Unmengen an Kaffee herrühren, am Morgen, dass er erneut den Drang zum Pinkeln verspürt. Oder ist es die einsetzende Erkältung?
Er war vor seiner Abreise mit Katzenstein zum Frühstück. Ausnahmsweise wollte der Mann ihm Gesellschaft leisten, obwohl es nicht ‘seine Stunde’ war. Zum Abschied schenkte er ihm ein schmales Buch, ein Buch über ‘Magische Quadrate’. Nick wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte, bedankte sich aber artig.
Man unterhielt sich über Krankheit und Tod. Das hatte damit zu tun, dass Katzenstein einen Rundgang durch die ortsansässigen Kurhotels absolviert und, wie er berichtete, im Zuge dessen ausführliche Informationen über diese und jene Heilmethode eingeholt hatte.
“Ich habe mich für ein Hotel entschieden, das noch den Charme des 19. Jahrhunderts versprüht. Ich schätze das. Die medizinischen und kurspezifischen Einrichtungen sind gleichwohl von allererster Güte, technisch auf dem neuesten Stand. Ich glaube, dort werde ich mich für ein paar zusätzliche Tage einquartieren.”
“Um Geist und Körper zu sanieren.”
“So in etwa. Und um in Ruhe ein wenig zu schmökern. Ich widme mich zur Zeit der Literatur der Jahrhundertwende. Damals waren viele Autoren noch bestrebt, wie Universalgelehrte zu schreiben. Sie suchten, wie die Wissenschaften, nach der einen großen Gleichung für alle Menschheitsfragen, nach der Weltformel.”
Nick hat die Parkbucht des Rastplatzes erreicht, lässt den Wagen ausrollen. Nur ein einsamer Lieferwagen steht am Rande. Nick benutzt nicht das Toilettenhäuschen, er schlägt sich lieber seitwärts in die Büsche.