Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 9
Kapitel 7
ОглавлениеEs ist heiß, so heiß, dass es den Fahrgästen den Atem nimmt.
Auf der an Schlaglöchern reichen Straße dehnen sich dampfende Pfützen vom letzten Regen. Der Linienbus rattert hindurch, Wasserblasen platzen auf, er rattert vorüber an wogenden Trauben junger Farbiger, die in zahlreichen Rhythmusbasen entlang der Straße stehen, palavernd, rauchend, tanzend, singend, - er rattert Richtung Stadt. Das Ziel heißt Bridgetown.
Das betagte Gefährt macht nicht nur Lärm, er stinkt auch heftig nach Diesel, und der scharfe Geruch dringt den Insassen in die Nasenlöcher, denn Fenster, Türen oder ein Dach fehlen, das Verkehrsmittel ist nach allen Seiten hin offen. Es lässt die Nacht herein. Marie bekommt von all dem kaum etwas mit, sie schlummert während der Fahrt. Sie hat schlecht geschlafen in jüngster Zeit. Sie ist übermüdet. Sie ist auf dem Weg zu Tito.
Tito hält sich seit zwei Tagen in Bridgetown auf, anlässlich eines Auftritts beim Crop-Over-Festival. Er ist mit seiner Calypso-Combo gekommen. Er ist ihr Sänger, und er ist es ungern. Doch man muss Geld verdienen... Seine wahren Vorbilder sind US-amerikanische Formationen wie Outkast oder Xzibit. Denn eigentlich ist er ja ein Hip-Hop-man. So sieht er sich selber. Er war kürzlich für anderthalb Wochen in New York City und schwärmt seitdem Tag und Nacht davon. Er hat Marie Dutzende von E-Mails und SMS geschickt. Sie fand es irgendwann ermüdend. Seine vielen Schnappschüsse der Begeisterung wirkten überbelichtet, überhitzt, manche fühlten sich für sie an wie mentaler Sonnenbrand.
Tito ist achtundzwanzig, ein Jahr jünger als Marie und einen halben Kopf kleiner. Sie stört es nicht, dass sie größer ist, ihn schon. Er zeigt es selten. In Titos Adern fließen ein paar Liter spanisches Blut, von den Vorfahren väterlicherseits; er ist nicht so dunkelhäutig wie seine Eltern, und sein Haar ist nicht so kraus. Neuerdings färbt er es weißblond, trägt es bürstenkurz. Er hat sich einen schmalen Oberlippenbart stehen lassen und gibt sich den Künstlernamen: Boi Cruzz. Er umgibt sich, auch das ist neu, mit einer Eisenhaut. Und er nimmt Drogen. Das ist früher nicht so gewesen. Früher, das heißt, vor gut zwei Jahren.
Da tingelte er noch mit einem Korb selbst gebastelter Calypso- und Sca-Songs über die Insel, und sein Gemüt erschien unbefleckter, heiterer. Marie erinnert sich mit Wehmut dieser Zeiten. Sie sind vorbei. Jetzt umringen ihn neue Freunde, neue Einflüsse. Möchtegern-Gangster aus der lokalen Rap-Szene – das angeblich so wilde Leben der Straße. Hip-Hop-Fantasien.
Ja, jetzt spielt er den harten Jungen, der, während er im Kreis seiner Kumpel Joints raucht oder mit ihnen gemeinsam alte japanische Autos zu Schrott fährt, fortwährend coole, böse Sprüche ausspuckt. Ihr wird übel, wenn sie darüber nachdenkt. Am schlimmsten ist der Kopf der Gang. Er nennt sich Doc Kong, kommt aus Puerto Rico, ein ehemaliger Koch. Er ist kein Musiker. Er spielt kein Instrument. Er ist überhaupt nichts, bestenfalls eine aufgeblasene Kanalratte. Er trägt gern silberne Handschuhe, goldene Ringe und Schaftstiefel, mit denen er seinen Getreuen (man könnte auch sagen: Vasallen) ab und an einen Tritt ins Hinterteil versetzt, wenn sie nicht so spuren, wie er es sich vorstellt. Er benutzt sie alle. Das scheint sein einziges Talent: Menschen zu benutzen. Marie verabscheute ihn von der Sekunde an, wo er ihr das erste Mal begegnete.
Aber sie wäre gut beraten, Vorsicht walten zu lassen. Nicht der eigenen Person wegen - sie hat keine Angst vor diesem Großmaul - nein, es ist Titos wegen. Er ist diesem Zombie auf sonderbare Weise ergeben. Und Doc Kong hat die schlechte Angewohnheit, sich gelegentlich an die Mädchen heranzumachen, die mit den Mitgliedern seiner Truppe liiert sind. Sie erinnert sich an den Diagnoseblick, mit dem er sie bei ihrer ersten Begegnung taxiert hatte. Sie friert, wenn sie sich ausmalt, welch krankes Gedankengut hinter seiner speckigen Stirn verborgen liegt. Sie weiß, er steht auf hellhäutige Frauen. Und sie ist vergleichsweise hellhäutig. Das ist die Mitgift ihres Vaters, der Frankokanadier ist.
Unvermittelt wird sie wach. Der Bus ist über ein Schlagloch gerumpelt, es schüttelt die Fahrgäste so heftig durch, dass einige aus dem schaukelnden Gefährt heraus zu fallen drohen. Marie blickt nach draußen. Sie sind fast am Ziel. Die Stadtlichter leuchten bereits vor ihnen in der feucht brütenden Dunkelheit auf. Sie streckt sich, platziert ihre Handtasche - die sie sich sicherheitshalber während ihres Nickerchens hinter den Kopf geklemmt hatte - auf den Knien und streicht sich eine Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn.
Unter der angegebenen Adresse ist kein Tito. Eine entschieden desinteressiert wirkende Gestalt mit Rastalocken, nur in Shorts, öffnet Marie die Tür, schlurft vor ihr her durch den kurzen Flur in eine Küche, die nicht allein ein Müllhaufen ist, sondern überdies nach fauligem Fisch stinkt. Ein Vorhang aus bunten, zerrupften Plastikstreifen, als Öffnung nach hinten zum Garten hinaus, lässt zwar Luft herein, bringt aber kaum Linderung. Kein Windzug regt sich, die Hitze des Tages wird ungeschmälert zur Hitze der Nacht. Außerhalb des Hauses liegt ein weiterer Rastaboy in einer zerschlissenenen Hängematte, die zwischen Holzpfählen aufgespannt ist, und raucht Gras.
Es ist eine armselige Behausung, eine heruntergekommene Hütte, Putz blättert von den nassen Wänden, der Garten ist von Unkraut überwuchert. Ein Freund wohne hier, hat Tito ihr gesagt, ein guter Freund, und weiter, dass er dort mit seiner Truppe unterkommen würde, solange sie sich in Bridgetown aufhalten. Der gute Freund scheint jedoch nicht anwesend zu sein, und das Jüngelchen, das ihr geöffnet hat, zeigt sich wenig gesprächsbereit. Er wisse nicht, wo Tito sei, vielleicht in der Stadt, vielleicht am Strand, vielleicht irgendwo. Schließlich kann sie dem Jungen eine neue Adresse entlocken, unter der sie hoffen darf, den Gesuchten aufzuspüren. Es ist zwei Straßen weiter.
Die Stadt ist angefüllt mit Menschen. Das Festival wirft seine schrillen Schatten voraus. Es ist näherungsweise so, als herrsche bereits Karneval. Marie schimpft leise vor sich hin. Sie ist erschöpft. Sie will nicht länger umherirren. Sie will ausruhen. Der Schweiß läuft ihr über das Brustbein. Rotierender Lärm in den Straßen. Steelbands dröhnen ihr die Ohren voll, während sie im Finstern nach dem Haus fahndet, in dem Tito sich angeblich aufhalten soll. Dabei ist es eine so prachtvolle Tropennacht. Weiche, trunkene Lüfte, ein von blühenden Sternen übersätes Firmament. Marie hat keine Augen dafür.
Vor ihr, im herausfallenden Lichtschein eines Supermarktes, entladen zwei ebenholzschwarze junge Burschen, barfuss, die muskulösen Oberkörper nackt, in halblangen Shorts, einen Kleintransporter. Eisblöcke türmen sich glitschig auf der offenen Ladefläche. Unter dem Gefährt sammelt sich eine wachsende Wasserlache. Marie würde am liebsten hinlaufen und einen der glitzernden Eiskuben umarmen.
Endlich ist sie am Ziel. Tito empfängt sie, als sei sie gerade einmal um die Ecke gebogen, um eine frische Mango zu besorgen. Er ist beschäftigt, sehr beschäftigt. Sie findet ihn und seine Jungs in einer Hütte, die einem Tonstudio ähnlich ist. Zwischen allerlei technischem Gerät, Kabelkraken und Tonträgern lässt sie sich auf einen alten Autoreifen sinken. Sie weiß, sie wird sich jetzt auf eine längere Warteschleife einrichten müssen. Tito ist hier in seinem Element. Es wird gefachsimpelt, man schraubt an dem riesigen Mischpult herum, es werden Keyboards und Groove-Maschinen bedient, man jagt Zwerchfell erschütternde Bässe durch die Abhörmonitore. Marie kennt das. Sie seufzt resigniert. Mit Tito ist vorerst nicht zu rechnen. Bevor man sich wieder den alltäglichen Dingen zuwenden wird, braucht es zunächst noch eine Runde ultrafett abgemischter, abgedrehter Loops.
Sie erhält ungebeten Zulauf. Es ist dieser Zwerg, der eigentlich gar kein Mitglied der Truppe ist, den Tito jedoch zu seinen neuen Intimfreunden zählt. Ein schmales Kerlchen, das trotz Hitze in einem Outfit aus schwarzer Sonnenbrille, Strickmütze, Schaftstiefeln, und einem olivgrünen Military-Jackett herumhüpft. Er gehört zu dem erweiterten Dunstkreis von Doc Kong. Sie kennt den Jungen, wenngleich nicht näher. Er schleicht jetzt um sie herum, bewaffnet mit einem ebenso breiten wie blöden Grinsen, das er offenbar nicht imstande ist, eine einzige Sekunde lang auszuknipsen.
“Hallo Schätzchen, heute schon gefickt?”
“Weißt du denn überhaupt schon, was das ist, Kleiner?”
“Was soll das, heh, heh! Willst du mich ärgern, Fotze? Dann verpiss dich lieber gleich!”
“Komm Joey, lass sie zufrieden, okay!”
Tito ist hinzugekommen, schiebt seinen reizenden Intimus aus Maries Nachbarschaft, schiebt ihn, während er ihm besänftigend eine Hand auf die Schulter legt, Richtung Mischpult. Marie schnaubt verächtlich durch die Nüstern. Das, denkt sie, ist ein typisches Exemplar jener Wichtigtuer, die den harten Kern der Doc Kong Truppe ausmachen: dummdreiste kleine Jungs, die nichts als Luftblasen produzieren und in deren Wortbeiträgen jedes dritte Wort ‘muthafucka’ lautet.
Tito steht vor ihr, zuckt unentschlossen mit den Achseln. Er wirkt hilflos. Es geht ihm sichtbar gegen den Strich, Zeuge werden zu müssen, wie einer der Jungs sein Mädchen anmacht. Er kann es sich nur nicht eingestehen, nicht vor der Truppe.
Seine an der Grundlinie sanftmütigen Gesichtszüge vibrieren unter einer Anspannung, die ihm beide Herzkammern zuzuschnüren scheint. Er ballt unsichtbar die Fäuste, wendet sich ab, jählings, betrübt, verlegen, trotzig, mit sich selber uneins. Ihm ist bewusst, dass sein Verhalten der Situation nicht gerecht wird. Aber er möchte nun einmal ein supercooler Junge sein.
Sie haben ein Gespräch geführt, vor Tagen, Marie und Tito. Es als Aussprache zu bezeichnen, wäre übertrieben; es war auch keine Auseinandersetzung, kein Streit, eher war es eine Art Missstimmung, einem flachen Stein ähnlich, den man ins Wasser wirft, wo er, ehe ihn die Tiefe verschluckt, eine kurze, zitternde Wellenbewegung hinterlässt.
Daran muss sie denken. Und indem sie das tut, macht es sie traurig. Tito will fort. Er will nach New York City, dort möchte er künftig leben. Es ist kein leeres Geschwätz. Er hat bereits früher davon gesprochen, dieses Mal, das ahnt sie, ist es ihm ernst.
“Du kannst ja nicht einmal richtig Englisch.”
“Das muss ich auch nicht.”
“Und du denkst, drüben wartet man nur auf dich?”
“Glaub mir, ich weiß, was ich tue.”
“Und als was willst du dein Geld verdienen? Als Postbote?”
“Ich habe Freunde im Village.”
“Freunde? Hoffentlich nicht Freunde wie Joey oder Doc.”
“Was hast du gegen sie?”
“Das fragst du? Es sind miese kleine Straßengangster, und sie nutzen dich nur aus.”
“Hah, du bist eifersüchtig auf sie.”
“Ich, eifersüchtig, auf diese Nullen! Da lache ich. Aber du, du vergeudest deine Zeit.”
“Hör auf Marie. Das ist doch jetzt nicht der Punkt.”
“Was ist denn der Punkt?”
“Dass ich hier keine Zukunft habe. Man muss heute da sein, wo etwas passiert in der Musikszene, wo Es passiert, verstehst du! Und nun lass mich gehen, okay! Ich habe Wichtiges zu erledigen!”
“Warte... bitte, Tito, geh jetzt nicht so fort. Ich mache mir Sorgen. Ich habe Angst um dich. Spürst du das denn gar nicht?”
“Entspann dich, Baby. Du wirst sehen, ich schaffe es. Und ich hole dich nach, sobald ich drüben alles geregelt habe. Vertrau mir einfach, okay?”