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Kapitel 17
ОглавлениеMan hat offenbar auf ihn gewartet. Nick trifft die beiden Journalisten in der Ecke an, wo sie regelmäßig zu sitzen scheinen. Ein Kontakt mit Josef Hänel ist ja nun leider nicht zustande gekommen. Dafür hält er eine andere Überraschung für die beiden bereit. Und zwar die gedruckten Fundstücke, die Vera Kinsey ihm übergeben hat.
Er legt Bücher wie Zeichnung auf den Tisch. Kurzes Zögern auf Seiten der Journalisten. Dann greift Oliver Beacon als erster danach und zeigt sich bereits nach wenigen Minuten flüchtiger Lektüre ganz entzückt. Nick gibt alles an James weiter, der, sich ihm zuwendend, die Handreichung mit einem kollegialen Grinsen quittiert.
“Wir wussten, dass Sie zu etwas nutze sind.”
“Da haben Sie wahrlich einen kleinen Schatz gehoben, Mr. Mangold. Woher stammt das Material?”
“Eine Bekannte hat die Sachen auf einem Trödelmarkt erstanden.”
“Das nennt man Fügung.”
“Sie könnten also für Sie von Wert sein, Mr. Beacon?”
“Das will ich meinen...Wissen Sie, was das hier ist, dieses schmale Büchlein? Ich sage es Ihnen: Es ist eines der beiden letzten Skizzenbücher Spares, in den Kriegsjahren entstanden: Adventures in Limbo...Von keinem hohen künstlerischen Wert, aber ein biographisches Juwel. Was die Zeichnung angeht, da zweifle ich, dass es sich um ein Original handelt.”
“Und was ist mit dem zweiten Buch?”
“Nun, soweit ich es in der Kürze sehen konnte, hat es mit unserem Künstler wenig zu tun. Da man die Anfangsseiten herausgetrennt hat, fehlt uns leider der Titel. Immerhin verrät der dem Haupttext vorangestellte Prolog, dass die geistigen Urväter dieser Schrift wohl unter den Gnostikern zu suchen sind.”
Nick empfindet, was jeder empfindet, wenn er Erfolg hat und dafür Anerkennung erntet: Genugtuung. Oliver Beacon blättert erneut eine Weile in dem überreichten Buch. Dann referiert er:
“Wir haben hier ein thematisches Motiv, das, unter dem Motto: Alterius non sit, qui suus esse potest! - Einem anderen gehöre nicht, wer sein eigener Herr sein kann – auf Paracelsus zurückgeht. Auf zwei seiner Werke wird Bezug genommen: De Generatione Hominis sowie: De Viribus Membrorum... In beiden Werken geht es neben anderem um das allem Wesenhaften zugrunde liegende Lebens- oder Nervenfluidum... ein Gedanke übrigens, der sich wie ein Ariadne-Faden bis tief in das 19.Jahrhundert zieht, und etwa im ‘élan vital’ Henri Bergsons verwandelt wiederaufersteht, jener Bergson, dessen Schwester Mina Gefährtin, Muse und Medium von MacGregor Mathers war, einem der Gründungsväter des Golden Dawn... Sie erinnern sich vielleicht... und der nach der Spaltung des Ordens autoritärer Vorsteher der bizarren und narzisstischen Fraktion ‘Alpha et Omega’ wurde...”
“Oliver führt Paracelsus an... Ein Mann ohne Freunde, ein Stotterer, zeitlebens von der Kirche angefeindet, Philosoph, Arzt, Alchemist und selbst gekürter Heiler, der Krankheiten mittels eigens gefertigter Talismane zu kurieren verstand. Heißt es.”
“Frankie verkürzt da ein wenig, Mr. Mangold, sehen Sie es ihm nach... Noch eine kurze Bemerkung zu dem vorliegenden Druckwerk: Sein Verfasser bietet, meinem ersten Eindruck nach, nicht mehr als das übliche krause Allerlei kabbalistisch gefärbter Versatzstücke, wie man es in vielen Schriften dieser Gattung oberflächlich zusammengebraut vorfindet.”
Nick, der anfangs beiläufig erwähnte, dass er auf einer Francis Bacon-Ausstellung war, sieht sich plötzlich einer von Frankie James gestellten Frage gegenüber, die vermuten lässt, der Mann könne sich für dieses Thema entschieden mehr erwärmen als für das okkulte Blabla, das seinen Kollegen beschäftigt.
“Hat Ihnen die Bacon-Ausstellung gefallen, Mr. Mangold?”
“Die Bacon... oh, ich würde sagen, sie war... gewöhnungsbedürftig.”
“Sie haben sich also kräftig gegruselt?”
“Sie haben recht. Zu Beginn ja. Ich war nicht allein dort. Zwei Bekannte, überzeugte Baconianer haben mich begleitet. Sie kannten sich bestens aus in dem Lebenswerk des Künstlers. Und sie wurden nicht wie ich von blinder Panik ergriffen, als ich, unvorbereitet wie ich war, die Papstbilder mit ihren weit aufgerissenen Mündern sah.”
“So, so, Panik, sagen Sie... Es geht die Mär, Bacon habe eine Passion gehabt für Abbildungen, die Mundkrankheiten zeigen. Wussten Sie davon?”
“Nein. Ich wusste vorher überhaupt nichts. Aber ich nehme an, es war nicht das alleinige Motiv, das ihn bei seiner Arbeit geleitet hat.”
“Frankie interessiert sich sehr für die Ticks von Künstlern, Mr. Mangold, vor allem von bedeutenden Künstlern. Das ist seine Passion... Bacon war, nebenbei bemerkt, ein Bewunderer unseres großen Poeten W.B.Yeats, der, wie ich meiner Erinnerung nach bereits an früherer Stelle ausgeführt habe, zeitweise leitendes Mitglied des Golden Dawn gewesen ist. Er zitierte gern aus dem Gedicht ‘The Second Coming’...”
“Sag es schon auf, Oliver, du kannst es doch auswendig!”
“Na schön. Hier also ein kurzer Auszug: Somewhere in the sands of the desert - A shape with lion body and the head of a man, - A gaze blank and pitiless as the sun, - Is moving its slow thighs, while all about it - Reel shadows of the indignant desert birds. - The darkness drops again; but now I know - That twenty centuries of stony sleep - were vexed to nightmare by a rocking cradle...”
Olivers Stimme nimmt, während er rezitiert, einen schwebenden, beinahe singenden Tonfall an, Danach wird sie wieder alltagstauglich.
”Nebenbei bemerkt, jenes vorhin von mir erwähnte Lebensfluidum, auch Spiritus Mundi genannt, findet in dem Poem ebenfalls einen Niederschlag...Yeats wurde im Golden Dawn übrigens unter dem magischen Namen Daemon est Deus Inversus geführt, was soviel bedeutet wie: Satan ist Gott in Umkehrung.”
“Das könnte man auch anders kehren.”
Frankie James führt nach diesem Kommentar sein Glas an die Lippen, wo es, während er trinkt, einen milden Schlürflaut hinterlässt. Dabei legt er seinem Freund einen Arm um die schmalen Schultern.
“Wie Sie sicher bereits bemerkt haben, Mr. Mangold, sind wir zwei alt gediente Wühlmäuse.”
“Sie kennen sich wohl schon sehr lange?”
“Ja, wir kennen uns schon lange. Ich fürchte... seit dem Dreißigjährigen Krieg.”
“Ich wollte sie gern noch weiter zu Josef Hänel befragen, Mr. Beacon.”
“Bitte fragen Sie.”
“Wissen Sie etwas über seine Familie, seinen Vater?”
Über seinen Vater? Mr. Hänel ist, soweit mir bekannt, bei seiner Mutter aufgewachsen. Sie war nie verheiratet. Der Vater stammt aus Deutschland. Das ist das, was ich Ihnen dazu sagen kann.”
Nick massiert behutsam seine Nasenflügel. Von den Tagebüchern spricht er nicht. Warum eigentlich nicht? Später vielleicht. Oliver Beacon reicht – offenbar aufgrund einer spontanen Langzeiterinnerung - einen Hinweis nach:
“Da fällt mir ein… im Verlauf meiner Nachforschungen stieß ich auf eine Frau, bei der Mr. Hänel vor Jahren gewohnt haben soll, zur Untermiete. Möglich, dass Sie von ihr mehr erfahren. Ich könnte die Adresse heraussuchen und Sie ihnen geben.”
“Das würde mich freuen.”
“Unser deutscher Poet und Ihr Landsmann, Mr. Mangold sollte sie nicht zu sehr gefangen nehmen. Ich denke, er ist ein Scharlatan, ein Falschspieler. Mir ist auch nicht bekannt, wo je ein Werk von ihm veröffentlicht worden wäre. Hast du etwas gehört, Oliver?”
“Ja. Es gibt, soweit ich weiß, zwei Bücher mit Sammlungen fantastischer Erzählungen, eines davon in englischer Übertragung, Im ersten Fall lautet der deutsche Titel ‚Neonherz’... der zweite Titel... ist mir entfallen. Über die Inhalte vermag ich wenig zu sagen, sicher nichts von tragender Bedeutung. Darin stimme ich dir zu.”
“Der Mann umgibt sich, wenn man mich fragt, mit einem magischen Schutzschild, vielleicht um die Dürftigkeit seiner diesseitigen Existenz zu kaschieren.”
“Versucht das nicht ein jeder von uns bisweilen? Bemühen wir uns nicht alle darum, gelegentlich einen Feuerzauber in unser Leben zu setzen, der nur auf unseren inneren Landkarten zündet, nicht aber in der Wirklichkeit?”
“Ein hydrolyrischer Gedanke, mein Freund, schuldlos umkränzt von Ringelblumen...”
Als Nick geht, verspürt er gewaltigen Durst. Warum hat er dann nicht eine Bestellung aufgegeben, schließlich war er hier in einer Kneipe? Nein, er möchte für sich allein sein. Er will innehalten. Nicht nur das Gespräch mit den Journalisten geht ihm nach. Manches andere ebenso. Er durchschreitet, während er an einer seinen Weg kreuzenden Milchbar stoppt, eine Kurzphase der Rückbesinnung.
Wo laufen die Spuren zusammen, wo verzweigen sie sich? Auf welche Weise hat sich all das, was ihn gegenwärtig umtreibt, dereinst in Bewegung gesetzt? Was heißt überhaupt einst? Sind es nicht letztlich nur ein paar gedehnte, überlange Augenblicke?
Nick wischt sich den Mund ab. Er hat sich einen Becher Buttermilch aus dem Getränkeautomaten gefischt. Er ist sich nicht sicher, ob es Buttermilch ist, es schmeckt seltsam. Er trinkt zügig. Es ist, als trinke die Buttermilch ihn. Ja, er treibt in einem Ozean milchtrüber Stimmungen. Sie umarmen ihn. Manche würgen ihn auch ein ganz kleines bisschen.
Er raucht eine Zigarette. Er raucht sie nur halb zu Ende. Er beobachtet, wie der Rauch aufsteigt, sich verflüchtigt. So wie dieses Stück Gegenwart oder ein anderes. Wind poltert gegen die Fensterscheiben der Milchbar, macht pfeifende Geräusche. Passanten spannen Regenschirme auf. Es hat zu regnen begonnen. Nick drückt die Zigarette aus und schaut zu, wie eine winzige Welt voller Glut alphanumerisch vor ihm im Raum verlischt.
Er hätte sich auf manches wohl nicht einlassen sollen. Nun scheint es dafür zu spät. Doch ist es, denkt er, nicht immer für irgendetwas zu spät? Er bereut sein Tun nicht wirklich. Es bereitet ihm nur ein wenig Sorge. Hat aber nicht jeder bis zu einem gewissen Grade das Sorgerecht für die Umstände, die er sich selber schaffen hilft? Hätte er gedacht, dass er auf seine späten Tage noch einmal wie ein Student wohnen würde? Gewiss nicht.
Er ist Familienvater. Projektleiter. Er hat promoviert. Er lebt solide, er lebt sesshaft. Er kennt seine berufliche Zukunft, seine voraussichtlichen Rentenbezüge und den Platz, wo sein Grab sein wird. Das alles zählt jetzt nicht – vorläufig. Nur was, fragt er sich, ist eigentlich nicht vorläufig?
Genug der Selbstbefragung… Er ist also zu dieser Verabredung im Bat Eye gewesen. Ja, er ist jetzt Teil des Spiels. Und er hat ein paar Dinge anzubieten. Ein paar Dinge, deren Kontext so außerhalb seiner Umstände, seines Jobs, ja, seines ganzen bisherigen irdischen Wirkens liegt wie eine Mücke, die einen Elefanten doubelt.