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Kapitel 9

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Er hat Schmerzen. Er hatte keinen Unfall. Er hatte einen Vollrausch. Das haben andere gelegentlich auch. Nur bei ihm war es das erste Mal. Als er erwacht, liegt er im Rinnstein. Es ist finster. Es ist Kino. Blut perlt, wie er feststellen muss, als er mit der Handfläche darüber wischt, auf seiner Unterlippe. Er richtet sich auf. Er sieht sich um. In seinem Kopf trommelt es. Er blickt die Straße aufwärts. Er blickt sie abwärts. Niemand zu sehen. London calling? Nein. Die Gegend ist fremd. Wieso kommt es ihm aber so vor, als sei er schon einmal hier gewesen?

Nick macht den Versuch, aufzustehen. Der Versuch gelingt. Er schaut an sich herunter. Er hat ein Loch im Hosenbein, links, in Höhe der Kniescheibe. Er schaut zum Himmel. Der Mond scheint, sichelförmig. Das süßsaure Lied eines verspäteten Heimwehs flattert irgendwo durch die Nacht.

Unvermittelt meldet sich sein Gedächtnisspeicher zurück. Er ist in einer Erotik-Bar gewesen, oben in der Vingerlingstraat. Dort muss er ein Bad in der Alkoholmenge genommen haben. Nick fasst in die Innentasche seines gelben Sakkos, während der Brummkreisel in seinem Kopf weiter munter seine Runden dreht. Irrtum, Anschlussfehler. Es ist ja gar nicht das gelbe Sakko, es ist das braune. Er klopft sich an die Stirn. Das gelbe hat er gestern in die Reinigung gegeben... Es bewahrheitet sich, was er schon befürchtet hatte: seine tastenden Finger fördern nichts zutage. Sie ist verschwunden, perdu - die Geldbörse.

Wie spät mag es sein? Er hat keine Uhr, nicht weil die ihm ebenfalls fehlte, er trägt schon seit Jahren keine mehr. Lindes Raunen, rezitiert er... tiefe Nacht. Spät jedenfalls. Was ist geschehen? Er hat einen Anfangsverdacht, auch wenn er nur schemenhaft Bilder als Indizien zu Rate ziehen kann. Man muss mir, kombiniert er, K.O. Tropfen oder ähnliches in ein Getränk gemischt haben. Er mag gut abgefüllt gewesen sein, aber doch nicht so sehr, dass ihm die Besinnung vollständig abhanden gekommen wäre. Er kann sich an das Mädchen in der lackgoldenen knielangen Seidenhose erinnern, daran, mit ihr aufs Zimmer gegangen zu sein, ihr beim Auskleiden geholfen zu haben. Dann folgt der Riss… Vom Jäger zur Beute.

Hat es Handgreiflichkeiten gegeben? Wahrscheinlich nicht. Er ist, so rechnet er sich die Algebra des Bösen zusammen, einfach ins Land der Träume geschickt, ausgenommen und danach hierher an diesen malerischen Ort verfrachtet worden. Es macht den Eindruck, als sei er nicht weit entfernt von der Vingerlingstraat, denn er erkennt, nachdem er, noch etwas unsicher auf den Beinen, leise schwankend sechs, sieben hakelige Schritte getätigt hat, das eine oder andere Teil in seiner Umgebung wieder.

In einiger Entfernung erblickt er eine zweite einsame Gestalt, männlich. Sie schleicht, den schwarzen Torso einer Schaufensterpuppe unter dem Arm, schlingernd quer über das Straßenpflaster. Der Anblick hat etwas Spukhaftes. Das Licht der Laternen wiegt sich in sonderbar schaukelnden Tippelschritten. Es gibt kaum Geräusche um ihn herum, nur das metallene Klappern von Schuhabsätzen auf den Kopfsteinen. Es stammt von diesem schlurfenden Untoten dahinten, der mit der Stoffpuppe im Schlepptau. Ein paar riesige Minuten verstreichen. Rote Schatten punktieren Nicks Netzhaut. Er hört sein Herz unruhig pochen. Es scheint sich oberhalb des Jochbeins zu befinden, sein Herz.

Er seufzt. Gelichter. Widergänger, Ghule. In den Niederungen seines umnebelten Geistes treiben sie sich herum, nekromante Phantome der eigenen Nachtzone. Er stöhnt leise. Er fühlt sich hundeelend, wie ausgesetzt. Bruchlaute, Stimmenfetzen tropfen durch das Unterholz seinen Hypothalamus, der konfus ist, der erfüllt ist von einer wild galoppierenden Kopffuge, dem Honigtau einer Schicksalsmelodie, tick tack, dickflüssig geworden; Sekret aus spakig schimmernden Zeitfäden, tick tack, Zuckerguss, versteinert, tick tack, im Grünspan des Vergessens. Ihn fröstelt. Geht der Sommer zu Ende? Oder ist er bereits ausgestorben?

Er lehnt sich an eine Mauer, über die von der anderen Seite der starke Arm einer Kastanie herüber ragt. Laub und Zweige decken den Erdboden um seine Schuhe herum, - ein Pflanzensarg. Die unterkühlte Nachtluft verströmt einen hybriden Duft, versetzt mit Milchsäure, kontaminiert mit Quecksilber. Und sein Pectoralis Major schmerzt. Nick möchte nach Hause, obwohl er nicht genau weiß, wo das ist. Und er hat den Wunsch nach einer warmen, weiblichen Umarmung. Er entschließt sich, um sein Hirn auszumüllen, zu einem Fußmarsch, durch die, wie er sie für sich gern bezeichnet ‘Braune Stadt’.

Schrittweise stellt sich seine Orientierung wieder ein, zumindest die ortsanhängige. Antwerpen? London? Was hat ihm das Schicksal da eigentlich vor die Füße gespült? - Zwischen Klärwasser und Theaterluft. So fern von daheim. In einem anderen Stück, einer anderen Maske. Hat er sich die Rolle, die er spielt, wirklich selber ausgesucht? Er denkt an die Aufführung des Sommernachtstraums, an Marie, an Marc, an Hänel, Hauke und Prodigium, an die ganze, ihn umkreisende menschliche Vogelschar. Ist er nun Rabe oder Kuckuck?

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