Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 16
Kapitel 14
ОглавлениеEr blättert im Telefonbuch. Irgendwo müsste sich doch ein Eintrag finden lassen. Sein Zeigefinger gleitet über die Eintragungen unter dem Buchstaben M hinweg: Manstein, Manteufel, Manthey... Edeltraut Manthey. Na also, da haben wir es ja. Sie existiert folglich, wenigstens dem Verzeichnis nach.
Er greift nach dem Hörer, schiebt die Telefonkarte ein, die er sich eigens beim hiesigen Postamt hat besorgen müssen und wählt die angegebene Nummer. Niemand meldet sich. Nach mehreren Anläufen gibt er auf. Er überlegt, was zu tun ist. Er wird später einfach hinfahren, zu der angegebenen Adresse. Heute Abend. Vielleicht hat er dann mehr Glück.
Hansestadt Bremen. Marc Kilian war nie zuvor in dieser Stadt. Den Ärmelkanal hat er auf einem betagten Frachter überquert, als blinder Passagier. Dank eines Freundes, der bei einem Schiffsmakler arbeitet, konnte er sich unbemerkt auf diesen alten, abgewrackten Kahn schleichen, um in Rotterdam ebenso unbemerkt wieder von Bord zu gelangen. Wenn ich schon als Darsteller unentdeckt bleibe, so dachte er mit einer gewissen grimmigen Sammlerwut, warum sollte mir das nicht auch als Passagier möglich sein? Nebenbei fragte er sich, wieso man überhaupt von blinden Passagieren spricht? Blind, sind das im Grunde nicht die anderen?
Er setzte die Reise im Anschluss mit der Bahn Richtung Bremen fort. Dort angekommen, verließ er den Hauptbahnhof, sah sich um und fand es öde. Unschlüssig lief er auf und ab. Mit irgendwas musste er die nächsten Stunden die Zeit totschlagen. Er kam an einem Museum vorbei. Es war das Übersee-Museum. Und er beschloss, da es draußen kalt, windig und ungemütlich war, hineinzugehen...
Am selben Abend. Die Großtante lebt in einem Fachwerkhaus. Marcs Blick gleitet gleichgültig über die liebevoll restaurierte Fassade hinweg. Er macht sich nichts aus Fachwerkhäusern. Seinem Wunsche entspräche es eher, ein Apartment in der 106.Etage eines spätbarocken Wolkenkratzers zu bewohnen.
Unten, dem Hauseingang benachbart, ist ein Musikladen. Er hat geöffnet. Regentropfen tanzen auf dem Glas des Schaufensters. Marc bleibt stehen, die Hände in den Jackentaschen, den Kragen hochgeschlagen und guckt, was es zu gucken gibt. Die Dekoration strahlt bereits Adventsstimmung aus. Und das, obwohl es noch eine gute Weile hin ist bis zu den Festtagen.
Er geht endlich hinein, spaziert einige Male zwischen den Regalen umher, wühlt sich durch schier endlose CD-Stapel, schnappt sich Kopfhörer, um ein paar aktuelle Musiktitel anzutesten und verlässt den Laden wieder, ein halbes Dutzend unbezahlter Silberscheiben in den Taschen seiner Windjacke. Er wird die Beute, entscheidet er, entweder hier am Bahnhof oder auf dem nächstbesten Flohmarkt verticken.
Er betritt das Haus der Tante. Vorne im Treppenflur lümmelt sich ein Rudel Fahrräder, davor lagern Kinderkarren. Es riecht nach Bohnerwachs. Er steigt die Treppe in den 2. Stock hinauf. Klingelt bei Manthey. Es dauert, ehe sich hinter der Eingangstür etwas tut. Dann wird diese einen Spalt weit geöffnet, und jenseits der Absperrkette zeigt sich ein Augenpaar mit heftig grünen Lidschatten. In den Tiefen der Wohnung piepst ein Kanarienvogel. Durch den schmalen Türspalt dringt eine helle, jung gebliebene Stimme.
“Wer sind Sie? Was wollen Sie?”
“Ich bin dein Neffe, Tante Edeltraut, Marc Kilian.”
Die Tür wird nach einer mittleren Pause entriegelt und schließlich ganz geöffnet. Eine kleine, rundliche, alte Frau in einem pinkfarbenen Morgenrock steht vor ihm. Ihr Blicke, nach wie vor ein wenig misstrauisch, gleiten an Marcs Jacke, den grauen Jogging Hosen und den weißblauen Turnschuhen herunter, danach wieder herauf, um abschließend auf seinem Gesicht haften zu bleiben.
“Mein Neffe, sagst du...? Ich erkenne dich nicht... aber du hast ein hübsches, offenes Gesicht. Komm also herein. Ich will dir vertrauen.”
Marc streicht sich eine blonde, ewige Haarsträhne aus der Stirn und tritt in die Wohnung. Im Flur ist es dunkel. Es riecht nach Getier. Marc folgt der Großtante nach hinten, wo die Küche liegt. Dort hocken sie, auf Tischen, auf Stühlen, auf Schränken, auf der Fensterbank. Blicke aus einem Dutzend funkelnder Katzenaugen mustern ihn, unbewegt, schläfrig, unergründlich.
“Du bist ein junger Mensch, und hast sicher handwerkliches Geschick. Sei so lieb und schau dir im Flur die Deckenleuchte an. Sie ist defekt. Es muss wohl eine neue Glühbirne hinein. Kannst du das für mich tun?”
“Wenn ich eine Glühbirne kriegen kann, die intakt ist… kein Problem.”
“Natürlich, mein Junge. Schau in die Schublade. Dort findest du welche. Such dir eine passende heraus. Und nimm den Hocker hier, damit du auch bis oben zur Decke hinaufreichst. Brauchst du sonst etwas?”
“Einen Schraubenzieher vielleicht.”
“Findest du ebenfalls in der Schublade. Soll ich uns inzwischen einen Tee zubereiten?”
“Warum nicht, Tante.”
Die Großtante erweist sich als einstige Operettengröße. Sie lebt allein und von einer winzigen Rente, verrät sie ihrem Großneffen später beim Tee. Es reiche gerade so für sie und ihren Katzen-Zoo, Und er erfährt ferner, dass sie Zuhause war, als er von der Zelle aus anrief. Sie sei nur nicht ans Telefon gegangen. Sie habe wenig Kontakt zur Außenwelt. Sie besitze nicht einmal einen Fernseher.
Stattdessen hat die Tante eine Menge verstaubter Schallplatten, darunter solche, wie sie erzählt, auf denen ihre eigene Stimme zu hören sei. Auf der Mehrzahl ist allerdings die Goldkehle ihres unbestrittenen Lieblingssängers eingeritzt - Richard Tauber. Marc kennt den Mann nicht, ebenso sind ihm die anderen Gesang-Sterne fremd wie der Jupiter. Einzig der Name Franz Léhar sagt ihm etwas. Natürlich muss er auf Wunsch der Großtante die eine oder andere Schellack-Scheibe anspielen und ist überrascht, manches davon gar nicht so übel zu finden. Allen voran besagten Tauber.
Seltsamerweise interessiert sich die Großtante weder für den familiären Hintergrund ihres aus dem Nirwana aufgetauchten Großneffen, noch für den Anlass seines unangekündigten Besuches. Sie nimmt seine Anwesenheit auf, als sei er ein guter Nachbar und hätte kurz mal hereingeschaut, um einen Tee mit ihr zu trinken.
Marc ist es recht so. Er hätte ohnehin eine xbeliebige Geschichte erfunden, wäre er jetzt von ihr befragt worden. Er kennt die Tante ja kaum. Als er sie das letzte Mal sah, muss er um die vier Jahre alt gewesen sein. Alles was er über sie weiß, weiß er durch seine Mutter. Die hat oft von dieser Verwandten gesprochen und das mit einem gewissen Respekt. Ihrer Darstellung nach müsste Tante Edeltraut in fernen Tagen tatsächlich ein gefeierter Operettenstar gewesen sein und das auf mancher bedeutenden Bühne dieser Welt. Sie könnte also das Sahnehäubchen sein im ansonsten eher unauffälligen Eintopf des Familienalbums.
Marc gefällt die alte Dame. Ganz offenbar lebt sie in ihrer eigenen Traumwelt. Was ihn nicht stört. Nein, er findet es anregend und nachvollziehbar. Zwar bleibt ihm vieles von dem, was sie zu erzählen weiß, fremd (schließlich entstammt sie einer versunkenen Epoche), doch die Art, sich einzuspinnen in eine gleichermaßen künstliche wie kunstvoll handgestrickte Wirklichkeit, weckt bei ihm Sympathien. Schließlich ist er Schauspieler.
“Weißt du, die Leute hier im Haus glauben, ich ticke nicht ganz richtig. Sie halten mich für eine verrückte Alte, von der man die eigenen Kinder fern halten muss. Mich lässt das kalt. Sollen Sie meinetwegen denken, was sie wollen.”
Marc ist mit der Absicht gekommen, Geld aufzutreiben. Notfalls wird er, hat er sich im Vorfeld überlegt, ein wenig nachhelfen müssen, so die Tante sich nicht geneigt zeigen sollte, ihrem jungen Verwandten unter die Arme zu greifen. Er glaubt ein gewisses Gespür dafür zu haben, wo alte Leute ihr Erspartes aufbewahren. Es gilt lediglich, einen geeigneten Augenblick abzupassen, um sich in Ruhe umzuschauen. Warum, dachte er sich, nicht die Umstände nutzen, die mich in diesen Winkel verschlagen haben? Und sollte es nicht klappen, wäre es halt Pech.
Mittlerweile ist er nicht nur anderen Sinnes geworden, es kommt auch anders als vermutet.
“Du brauchst Geld, nicht wahr?”
“Tante, ich...”
“Schweig nur still. Du musst mir nichts erklären, mein Junge. Ich will deine Gründe gar nicht kennen. Zwar besitze ich selber nicht viel mehr als das, was man zum Leben nötig hat, aber ich habe da etwas, das ich dir geben kann. Vielleicht kann es dir eine Hilfe sein.”
Die alte Dame öffnet eine Kommode und entnimmt ihr eine mit rotem Samt ausgelegte Schatulle. Sie stellt sie auf dem Tisch im Wohnzimmer ab, öffnet sie. Sie klaubt einen Ring heraus. Es ist ein Goldring, besetzt mit einem Solitär. Sie greift nach Marcs linker Hand und hat, ehe er reagieren kann, das Kleinod über seinen Ringfinger geschoben. Passgenau.
“Er ist von meinem verstorbenen Mann. Nimm ihn. Ich schenke ihn dir... Ich sehe, er steht dir.”
“Danke, Tante... Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.”
“Das ist auch besser so… Und jetzt zu etwas anderem. Du bist Schauspieler, sagtest du? Kannst du steppen?”
“Es gehörte zu meiner Ausbildung.”
“Also du kannst. Dann tu mir einen Gefallen, eh du gehst. Ich habe da eine wundervolle Schallplatte. Es ist eine amerikanische Schallplatte. Leg sie bitte auf und lass uns gemeinsam zur Musik ein wenig steppen. Wirst du das tun?”
“Natürlich, Tante.”
Sie zeigt ihm, wo die Scheibe zu finden ist. Es handelt sich um eine Aufnahme aus dem New York der 40ziger. Ein farbiges Brüderpaar - offensichtlich ein bekanntes Tanzduo jener Zeit - ist auf dem Cover abgebildet. Marc legt die Schellack-Platte auf. Die Tante bringt zwei Paar Steppschuhe angeschleppt. Das größere ist für ihn. Es passt, wie schon der Ring gepasst hat. Die Musik spielt auf, ein wenig kratzig, ein wenig verrauscht. Und die Tanzeinlage kann beginnen.