Читать книгу Notaph - Reinhold Zobel - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеDer Nachmittag liegt träge ausgebreitet. Nick hat nichts Entscheidendes vor. Die Luft ist würzig violett, als habe man Oktober, was nicht der Fall ist.
Erst wollte er sich bei Marc Kilian melden. Ob der Junge ihm böse ist? Wie viel mag er wissen oder ahnen? Wird Marie ihm etwas erzählt haben? Nick hatte bislang keine Gelegenheit, das zu überprüfen. Jener Abend, jene Nacht, sie machen Poch Poch in seinem Blut. Er vibriert, sobald er daran denkt. Auch Marie möchte er wiedersehen. Natürlich. Nur wie? Seine Lebensumstände, so lautet sein vorläufiges Fazit, bedürfen dringend einer Kläranlage. Die Konstruktionspläne dafür wird er seinem Erfahrungsschatz allerdings erst noch hinzufügen müssen.
Er hat Hauke Morath in Antwerpen angerufen, um sich nach der Situation dort zu erkundigen. Er hat Einzelheiten erfahren über die “Unregelmäßigkeiten“ (Originalton Hauke) während des Gastspiels von Prodigium. Und es kursieren Gerüchte, so Hauke weiter, Olga beabsichtige, aus der Truppe auszusteigen.
Nick hat eine Idee, die, wäre er Sekt-Gourmet, einer Sektlaune entsprungen sein könnte. Er gedenkt einen Abstecher in jene Gegend zu machen, wo der seitens Oliver Beacon erwähnte Maler A.O.Spare die letzten Jahre seines Lebens verbracht haben soll. Vielleicht kann ihn das auf neue Gedanken bringen. Er ist nicht ungerüstet. Er hat zwei Adressen. Damit ist er für die kommenden Stunden zwar nicht am Ziel seiner Wünsche, aber seine Wünsche haben ein Ziel.
Der eine Wink, der auf das Gespräch mit den Journalisten zurückgeht, beinhaltet eine einstige Anlaufstelle des Malers, der zweite stammt von Katzenstein. Sie trafen sich heute gegen Mittag. Sie aßen eine Kleinigkeit im Bat Eye. Es war kein ausgedehntes Treffen. Der Deutsch-Tscheche hatte nicht viel Zeit. Nick schilderte ihm kurz seine jüngsten Erlebnisse. Es zeigte sich, dass Katzenstein nicht nur Leben und Werk des Malers vertraut war, sondern gleichermaßen mancherlei aus dem kulturgeschichtlichen Hintergrund. Nick erhielt den Rat, einen Buchladen aufzusuchen, dessen Besitzerin Katzenstein vorgab, gut zu kennen, eine Frau namens Laura Wynne Easten; sie könne ihm sicher einiges über Spare erzählen.
Mit diesem Inventar im Gepäck fährt Nick nach Brixton. Eine Gruppe Muslime schnattert lärmend hinter ihm, während Nick vor einem unscheinbaren Laden für Mal- und Zeichenbedarf Halt macht. In der Auslage, liegen, wie ihm aufgefallen ist, zwei Druckwerke, die den Schriftzug A.O.Spare im Titel tragen. Nach kurzem Zögern tritt er durch die Ladentür. Eine Klingel patrouilliert über seinem Haupt, es klingt, als kugelten Klopfgeister durch künstliche Paradiese. Röhrend, gurgelnd, rasselnd, von Trommeln unterstützt, durchkämmen ihre Klangatome den hell erleuchteten Raum.
Hinter der Ladentheke wartet ein junger Mann auf Kundenwünsche. Mag sein, dass er auch auf etwas anderes wartet. Den Oberkörper des Jungen deckt ein kurzärmeliges, bunt bedrucktes, hüftlanges T-Shirt, das einen freiwillig unfreiwilligen Blick auf überreich mit Tattoos verzierte, muskulöse Arme gestattet. Sein Kurzhaarschnitt gipfelt in einem rostroten kreisförmigen Mittelfeld, das die Einflugschneise für einen Zwerg-Asteroiden abgeben könnte.
“Sie wünschen, Sir?”
Die Stimme, die durch den Raum rollt, klingt dunkel, heiser und irgendwie unbeugsam. Der Jüngling steht lässig da, schaut, während Nick unschlüssig in der Mitte des Ladens verharrt, von unten schräge vom Tresen auf (wo er bis eben mit obskuren Blechteilen hantiert hat).
“Ja, also... Sie haben da im Fenster ein paar Sachen über oder von Austin Osman Spare. Ich interessiere mich für diesen Künstler.“
“Sie wollen etwas über ihn lesen?”
“Gegebenenfalls.”
“Spare hat dort, wo Sie gerade stehen, oft gestanden. Hier in unserem Geschäft kaufte er nämlich, als er noch lebte, sein Arbeitsmaterial.”
“Ist das so?”
Nick zieht die Brauen in die Höhe. Dann macht er leider (unwissentlich) einen Fehler. Er erwähnt Oliver Beacon, spricht davon, dass der Journalist an einer Biografie über den Maler arbeite und fragt den Angestellten, ob ihm der Name etwas sage.
“Oh, dieser Klugscheißer! Sicher, hier im Viertel kennt man ihn. Er hat sich quasi bekannt gemacht durch seine… Verhörmethoden. Mit solchen Leuten verkehren Sie? Ich warne Sie, es lohnt die Mühe nicht.“
“Und warum nicht?“
“Ihr Mann hofft offenbar, er könne etwas von jener Wirklichkeit einfangen, die die Existenz einer gewissen Person namens Austin O. Spare bestimmte. Doch wird außer Geschwätz nicht viel dabei herauskommen. Was wissen Leute wie er von Künstlern, wie AOS einer war? Von den Kellern menschlicher Existenz? Von den dunklen Fluren des Daseins? Dass AOS ein karges Leben führte, ein Leben am Rande von Armut und Vergessen, aber auch eines in stolzer, selbst gewählter Abgeschiedenheit, kann das Ihr Tintenkleckser je nachempfinden? Nein, er sieht lediglich die Fassade, den Zuckerguss, aus dem man Legenden strickt, Legenden für das zahlende Publikum. Was jedoch versteht er von den Innenwelten eines solchen Mannes? Von seinen Visionen? Von den Geistern, die er rief, die ihn heimsuchten? Nichts. Rein gar nichts.”
“Hm. Haben Sie vielleicht auch schon einmal von einem gewissen Hänel gehört?”
“Jesus, noch so ein Schwätzer, der darauf aus ist, das Leben Spares für sich und seine eitlen Zwecke auszuschlachten. Mit den Schätzen, die er im Nachlass von AOS zu heben gedachte, glaubte er wohl, sein eigenes kümmerliches Talent aufpolieren zu können, möchte sich außerdem zum Türsteher irgendeiner kommerziellen Heilslehre aufschwingen. Zum Teufel mit ihm und seinesgleichen! Was soll dieser jähe Rummel um AOS? Der Mann ist doch lange tot! Plötzlich fällt hier jeder über sein Leben her, sucht den verkannten Genius, den großen Magier - Presseleute, Sammler, Pseudoartisten, ein kompletter Käfig sensationsgeiler Narren. Hätte ich eine Flinte, ich würde ihnen das Hirn wegpusten, glauben Sie mir. Selbst Typen aus dem Musikgeschäft bedienen sich mittlerweile seiner Texte, schmücken sich mit seinen Werken, tun, als wären sie seine geistigen Erben, Wegbereiter seiner Lehren, seiner Träume und haben am Ende doch nur die Schleimspur ihrer eigenen Karriere vor Augen.”
Nick, der den Satzkaskaden kaum zu folgen vermocht hat, sagt sich: Anscheinend habe ich da eine Lawine losgetreten. Das lag nun wirklich nicht in meiner Absicht. Der Junge redet anders, als er ausschaut; er redet wie ein Schnellfeuergewehr.
“Es könnte ja aber vielleicht auch Personen geben, die es ehrlich meinen mit ihren Nachforschungen?”
“Sicher gibt es die, ich kenne sogar ein paar von ihnen. Doch werde ich ihre Namen nicht preisgeben. Diese Leute brauchen keine Publicity. Sie tun, was sie tun, aus persönlichen Motiven, sie wollen nicht allein das Andenken des Künstlers, sondern auch seine Würde bewahren, und sie wissen, man muss behutsam zu Werke gehen, sehr behutsam, denn man hat es hier mit einem äußerst seltenen Exemplar der menschlichen Gattung zu tun.“
Der Junge nagelt nach seinen letzten Worten die rechte Pranke auf das Holz der Ladentheke und greift sich eines der dort deponierten Blech- oder Plastikteile - was es genau ist, ist aus der Entfernung nicht auszumachen. Er hatte wohl, als Nick das Geschäft betrat, gerade damit begonnen, an etwas herumzubasteln - vielleicht an einer Handgranate.
Nick seinerseits ist betrübt, dass das Gespräch einen so missglückten Verlauf genommen hat. Indessen scheint der Verkäufer jegliches Interesse an einer Fortführung ihres Dialogs verloren zu haben. Einmal nur hebt er noch flüchtig das Haupt, kneift die Augen zusammen und fixiert sein Gegenüber mit einem teils gelangweilten, teils spöttischen Blick.
“Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir? Ein paar Dosen Ölfarben vielleicht, Malpinsel, Zeichengerät...?”
“Nein, vielen Dank. Das war vorerst alles.”
“Dann haben Sie die Güte und lassen Sie mich meine Arbeit tun!”
Nick verlässt den Laden mit gemischten Gefühlen. Immerhin, sein Interesse ist erwacht. War das jetzt eine Einstiegsdroge? Er möchte mehr herausfinden. Er durchstreift die umliegenden Straßen. Sein nächster Besuch gilt der Buchhandlung, die Katzenstein ihm angegeben hat. Sie befindet sich ganz in der Nähe jenes Basements, das A.O.Spare in seinen letzten Lebensjahren als Aufenthaltsort gedient haben soll.
Laura Wynne Easten ist eine korpulente Frau in mittleren Jahren. Sie führt das Geschäft offenbar allein. Als Nick eintritt, steht sie neben der Schaufensterauslage und wendet sich ihm mit einer Entschlossenheit zu, als habe sie ihn bereits erwartet. Sie hat die Augen einer Eule sowie eine spröde, maskuline Stimme. Nick kommt ohne Umschweife zur Sache. Er sei auf der Suche nach Informationen über den Maler Austin Spare. Er erwähnt (er weiß gar nicht recht, warum) seinen Besuch in dem Laden für Mal- und Zeichenbedarf sowie sein seltsames Gespräch mit dem hiesigen Angestellten dort.
“Sie haben also mit Roman gesprochen. Lassen Sie sich nicht von dem rüden Ton des Jungen verschrecken. Er hat eine flinke Zunge und einen raschen Verstand. Er ist Kunststudent. Natürlich hat er keinerlei authentische Informationen. Kann er auch nicht haben. Was er weiß oder zu wissen vorgibt, ist ihm über Dritte zugetragen worden… Gut, der ehemalige Besitzer des Ladens, in dem er arbeitet, hat Spare noch gekannt, lebt jedoch seit Jahren nicht mehr. Ich kann Ihnen immerhin aus sicherer Quelle sagen, dass die magische Weste dieses Malers ganz so fleckenlos nicht gewesen sein kann. In späten Jahren beschäftigten ihn, wie überliefert ist, merkwürdige, ja abseitige sexualmagische Praktiken, die ein nicht gerade schmeichelhaftes Licht auf einen Menschen werfen, um dessen Vita sich in manchen Kreisen ein wahrer Personenkult gebildet hat.... Aber, sagen Sie, Sir, was interessiert sie so an Spare? Seine Malerei?”
“Nun, ich kenne da ein paar Leute und Geschichten aus seinem Umfeld und würde gerne mehr erfahren, das ist alles.”
“Ach, wirklich?”
“Jedenfalls danke ich Ihnen für die Auskünfte. Vielleicht komme ich später noch einmal auf sie zurück. Sie scheinen mir ja ein wahres Nachschlagewerk zu sein.”