Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 34
10.
Оглавление"DU KANNST IHN nicht umstimmen“, sagte Agnes.
„Ich will nicht mein Leben lang mit der Frage verbringen, ob ich’s nicht vielleicht doch gekonnt hätte“, erklärte Cyprian.
„Diesmal sind er und meine Mutter sich sogar einig. Wenn sie unterschiedlicher Meinung gewesen wären … aber so …“
„Ich hätte nicht versucht, deine Mutter und deinen Vater in dieser Frage gegeneinander auszuspielen.“
Agnes warf Cyprian einen Blick zu. „Nicht mal um meinetwillen?“
Cyprian vermutete, dass es halb scherzhaft hätte klingen sollen, aber es klang nur verzweifelt. Er setzte ein Lächeln auf. „Es gibt nichts, was ich um deinetwillen nicht tun würde“, sagte er. „Außer, deinem Vater eins auf die Nase zu geben.“ Der Scherz war verunglückt. Cyprian verfluchte sich innerlich dafür. Agnes hatte genauso wie alle anderen mitbekommen, was damals passiert war.
„Wir haben keine Chance, Cyprian“, sagte Agnes. „In ein, zwei Wochen geben sie meine Verlobung mit Sebastian Wilfing bekannt, und dann ist alles aus.“
„Ein, zwei Wochen sind eine lange Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen.“ Cyprian stellte fest, dass es ihm schwer fiel, den Optimisten zu spielen. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. In den letzten Wochen hatte er mehrfach versucht, mit Niklas Wiegant zu sprechen. Der Kaufmann hatte ihm stets einen Termin verweigert; es schien, dass der sonst so zugängliche Mann sich davor fürchtete, dass jemand ihm in aller Ruhe auseinandersetzte, dass er seine einzige Tochter auf den Weg ins Unglück schickte. Cyprian hatte aus Agnes’ Berichten herausgehört, dass mehr hinter der Weigerung, einer Verbindung der Familien Khlesl und Wiegant zuzustimmen, zu stecken schien als nur ein Versprechen unter Geschäftsfreunden oder die raison d’etre zweier Firmen, die hart um ihr Überleben kämpften. Agnes hatte nackte Angst in den Augen ihres Vaters gesehen. Cyprian konnte sich nicht vorstellen, was es war, das Niklas Wiegant trieb – doch er vermutete, dass ein Gesprächstermin mit Agnes’ Vater ihm zumindest einen Hinweis eröffnet hätte. Vielleicht lag auch darin Niklas Wiegants Verweigerung begründet; ohne jede Selbstüberschätzung wusste Cyprian aus den früheren Begegnungen mit Agnes’ Vater, dass dieser ihm eine Menge zutraute. Umso weniger verständlich war es, dass er sich darauf versteifte, Agnes mit Sebastian Wilfing junior zu verheiraten.
„Sebastian ist ein Teigkloß“, murmelte Agnes hasserfüllt. Cyprian horchte schon lange nicht mehr auf, wenn ihrer beider Gedanken einmal wieder parallel nebeneinander herliefen. „Er ist drei Wochen vor seinem Vater von der Reise zurückgekommen, angeblich um sich auf die Verlobungsfeier vorzubereiten. Dabei habe ich gehört, dass er solche Angst vor der Schiffsreise von Lissabon nach Madeira hatte, dass der alte Wilfing ihn nach Hause schickte.“
Sebastian Wilfing und Cyprian waren gleichen Alters. Als Kinder hatten sie in der Gasse gespielt – der kompakte, bullige Cyprian, dem man schon als Kind ansah, dass er nie flink, sehnig oder drahtig aussehen würde, genauso, wie ein guter Beobachter ihm auch ansah, dass er dennoch alles dies unter einer täuschend dünnen Schicht vermeintlicher Trägheit sein würde; und Sebastian Wilfing, von ähnlicher Gestalt … bloß dass selbst der schlechteste aller Beobachter sofort gewusst hätte, dass Sebastian junior alles das war, wonach er aussah. Als Heranwachsende hatten beide ihren Kinderspeck verloren; Cyprian hatte ihn durch Muskeln ersetzt, Sebastian durch den Speck eines Erwachsenen. Cyprian hatte sich bislang nicht um die Defizite des ehemaligen Spielkameraden gekümmert.
„Was hat er bei dir gewollt?“, fragte Agnes.
Cyprian sah auf. „Woher weißt du, dass er mich besucht hat?“
„Gelegentlich riskiere ich einen Blick zum Fenster hinaus.“
Schritte näherten sich. Einer der Stadtknechte kam auf seiner Runde an ihnen vorbei. Bei Tag und in Friedenszeiten hatte niemand etwas dagegen, wenn die Wiener Bürger zum Wehrgang der Stadtbefestigung hinaufstiegen; es konnte nicht schaden, wenn sich so viele wie möglich dort oben zurechtfanden, für den Fall, dass die ständig drohende Türkengefahr in einem neuerlichen Angriff auf Wien kulminierte. Das Kärntnertor war den Angriffen am stärksten ausgesetzt gewesen und beinahe unterminiert worden; seitdem gab es ein halbes Dutzend bewachter und gesicherter Anfänge von Stollen, die von der Torinnenseite aus in den Boden führten, um im Fall eines Falles schneller mit Gegenminen zur Hand zu sein; und kaum ein Bewohner der Kärntner Straße und der umliegenden Gassen wusste nicht, wo die Schaufeln gelagert wurden oder bei welcher Gruppe er sich melden musste, wenn es darauf ankam, schneller zu buddeln als der Feind. Der Stadtknecht warf einen Blick auf den rot werdenden Westhimmel.
„Die Sonne geht, das Volk geht auch“, sagte er in unmelodischem Singsang
„Wir sind gleich weg“, sagte Agnes leise. „Es ist so schön hier heroben.“
Der Stadtknecht entdeckte etwas Glänzendes in Cyprians Fingern. Als es ihm zugeschnippt wurde, bereitete es ihm keine Mühe, es zu fangen. Die Blicke des Stadtknechts huschten an Agnes auf und ab, er zwinkerte Cyprian zu und machte eine anerkennende Miene, ehe er weitermarschierte.
„Da wäre noch ein Anwärter, falls du dich weder für Sebastian Wilfing noch für mich entscheiden kannst“, sagte Cyprian.
Agnes lächelte nicht. „Er hat dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen“, sagte sie. „Dieser pompöse Bastard.“
Cyprian fand es unnötig, zu widersprechen.
„Hat er dir gedroht?“
„Ist doch völlig egal, Agnes. Denk einfach nicht an ihn.“
„Wie soll ich nicht an ihn denken, wenn ich ihn nächstes Ostern heiraten soll?“
„Ich rede noch mal mit deinem Vater …“
Agnes warf die Hände in die Höhe und ließ sie wieder fallen. Sie gab ein hoffnungsloses Geräusch von sich. Als sie sich abwandte und nach draußen sah, füllte das Licht der schwindenden Sonne ihr blasses Gesicht mit Wärme und Leben. Cyprian streckte eine Hand aus und strich mit einem Finger über ihre Wange.
„Geh mit mir weg“, flüsterte sie.
„Wohin?“
Sie packte seine Hand und drückte sie. „Nach Virginia“, stieß sie hervor. „Geh mit mir nach Virginia! Ich habe Vater darüber reden hören. Einer von den englischen Kaperfahrern hat in der Neuen Welt eine Kolonie gegründet. Zuerst war es nur ein Schlupfwinkel für die Seeräuber, aber jetzt will man, dass sich Menschen dort ansiedeln. Vater hat bereits darüber nachgedacht, ob man exklusive Handelsrechte nach dorthin sichern sollte.“
„Sir Walter Raleigh“, sagte Cyprian. „Er hat es Virginia genannt zu Ehren der Jungfräulichkeit von Königin Elisabeth. Ich habe auch davon gehört. Die Namensgebung hat einige Lacher hervorgerufen. Das sind alles Protestanten, Agnes.“
„Das ist mir doch so egal wie dir, Cyprian!“
„Vielleicht ist es denen nicht egal, dass wir Katholiken sind.“
„Dann konvertieren wir! Ich glaube an die Liebe, Cyprian, nicht an irgendeine Konfession!“
„Agnes!“ Cyprian wand seine Hand aus der ihren und betrachtete die Stellen, an denen ihre Fingernägel blutunterlaufene Halbmonde in seine Haut gedrückt hatten. „Ich bin einmal konvertiert. Ich konvertiere nicht noch einmal. Mein Onkel hat meine Familie nicht überredet – er hat uns überzeugt.“
„Aber um meinetwillen!“
„Ich gehe um deinetwillen bis ans Ende der Welt – vor allem mit dir. Virginia?“ Er nahm ihre Hände und drückte sie. „Wenn sie uns nicht als Katholiken haben wollen, dann zum Teufel mit ihnen.“
„Du willst es tun?“
„Als dein Mann, ja.“
Sie starrte ihn an. Cyprian fühlte einen Stich, als das Funkeln aus ihren Augen wich. „Aber…“ Sie stöhnte. „Du weißt doch …“
„Ich flüchte nicht“, sagte er. „Unser ganzes Leben würde ständig im Zeichen der Flucht stehen, und das Wissen, dass wir hier ein Unrecht begangen haben, würde zwischen uns stehen. Nach einem Jahr würdest du dich nur noch vage daran erinnern, dass du deine Eltern gehasst hast; nach zwei Jahren würdest du mir die Schuld dafür geben, dass du sie ohne Abschiedswort verlassen hast; nach drei Jahren würdest du aufgehört haben, sie zu hassen, und mich dafür hassen.“
„Nein!“, rief sie. Sie entriss ihm ihre Hände. „Nein, das würde ich nie tun!“
Ihr Blick suchte den seinen. Cyprian wich ihr nicht aus. Ihm war klar, dass dies das erste Mal war, dass er sich einem ihrer Wünsche widersetzte. Er blinzelte nicht. Er hatte nie wirklich gewusst, was sie in ihm sah oder was sie zu ihm hinzog, von diversen Rettungsaktionen abgesehen, die auch ein anderer vollbracht hätte, wäre er nur so schnell zur Stelle gewesen wie Cyprian. Aber er wusste, was sie in ihm sehen würde, wenn er jetzt nachgab – was sie in ein paar Jahren in ihm sehen würde: den Mann, der ihre Familie zerstört hatte.
Agnes senkte den Kopf. Er fühlte ihre Hände kalt und leblos werden. Als er sie losließ, sanken sie herab und blieben an ihren Seiten hängen.
„Wir haben keine Chance“, sagte sie und starrte wieder hinaus in den Sonnenuntergang. „Wir haben keine Chance … keine Chance …“
Er trat hinter sie und nahm sie in die Arme. Er roch den Duft ihres Haars und fühlte die Schwere ihres Körpers, als sie sich an ihn lehnte. Sie war fast ebenso groß wie er; kein zartes Hühnchen – das war sie nie gewesen –, sondern eine junge Frau, die den Stürmen trotzen konnte, auch wenn sie ihr die Tränen in die Augen trieben. Überrascht erkannte er, dass es das erste Mal war, dass diese Nähe, dass ihre Umarmung nicht im Spaß geschah … und dass der letzte Ringkampf, den sie miteinander ausgefochten hatten, Jahre zurücklag. Irgendwo in diesen Jahren war die Unschuld auf der Strecke geblieben, die den Berührungen innegewohnt hatte; etwas anderes hatte sie ersetzt, das beinahe drohend war, weil es von Gefühlen sprach, die um so vieles größer waren als der Spaß und die Kameradschaft der früheren Jahre. Seine Überraschung war umso größer, als ihm klar wurde, dass diese Gefühle trotz der ausweglosen Situation in ihm erwachten. Er wollte sie noch stärker an sich drücken; er wollte, dass sie sich umdrehte und die Umarmung erwiderte; verwirrt stellte er sich vor, dass ihre Hand seine Wange streichelte und dass ihre Lippen die seinen suchten und sie einen Kuss miteinander teilten. Er spürte das Gefühl in seine Lenden sinken und ließ sie los. Sie regte sich nicht, als er einen Schritt zurücktrat, und er war froh darüber, dass sie sich nicht umdrehte. Er wusste nicht, was sie in seinem Gesicht hätte lesen können.
„Alles wird gut“, sagte er und hatte die dumpfe Ahnung, dass er selten etwas Sinnloseres gesagt hatte.
„Bevor ich das letzte Mal versuchte, meinen Vater umzustimmen, war ich in der Heiligenstädter Kirche“, sagte Agnes.
Cyprian fühlte die Erregung in sich zu Asche werden. Er betrachtete ihren Rücken, ihre hochgezogenen Schultern. Das Sonnenlicht webte nun einen goldenen Saum um ihr schwarzes Haar, der Wind, der wie stets von Osten her kam, an den Mauern des Kärntner Tors in die Höhe stieg und darüber hinweg fuhr, zauste es und ließ es wie einen Schleier um ihren Kopf wehen. Er konnte nicht einmal ihre Wangenlinie ausmachen.
„Ich war schon einige Male dort, seit du mich damals in den Katakomben gefunden hast“, sagte Agnes. „Das hast du nicht gewusst, stimmt’s? Ich habe es dir nie gesagt.“
„Du kannst natürlich gehen, wohin du willst“, sagte er mit einer Leichtigkeit, die er nicht empfand.
„Willst du nicht wissen, warum ich es getan habe?“
„Warum hast du es getan?“
Sie blickte über die Schulter. Der Wind wehte ihr eine Strähne über die Augen. Als sie sie weggewischt hatte, hatte Cyprian seine Gesichtszüge in der Gewalt. „Ich bin immer dorthin gegangen, wenn ich über etwas nachdenken musste, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Es schien mir stets, als gäbe es eine Verbindung zwischen der Kirche und mir seit damals; manchmal dachte ich sogar, es habe sie immer gegeben.“ Sie lachte nervös. „Wenn ich dort war und über meine Sorgen nachdachte, musste ich mich nur daran erinnern, dass es auch damals keinen Ausweg zu geben schien, doch dann kamst du und brachtest mich zurück ins Licht.“ Sie musterte ihn. Ein Lächeln huschte über ihre Züge. „Du siehst aus, als wäre dir die Erinnerung daran unangenehm.“
„Nein“, sagte er. „Nein, ist sie nicht.“ Er war erleichtert, dass sie sich wieder abwandte.
„Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn die Tür zu den Gewölben ebenso offen gestanden hätte wie die oben hinter dem Altar. In welche Dunkelheit wäre ich geraten? Hätte es auch von dort noch einen Ausweg gegeben? Wäre ich in den See gefallen und ertrunken? In dem Labyrinth verhungert, von dem der alte Pfarrer sprach?“
„Es gibt den See doch gar nicht“, sagte Cyprian heiser. „Und wer weiß, was für ein Märchen das mit dem Labyrinth war!“
„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich hinter die Tür hätte vordringen können. Vielleicht wäre ich dann darauf vorbereitet gewesen, dass es eine Dunkelheit gibt, die noch schlimmer ist als die, in der ich mich damals befand.“ Sie begann zu weinen. Cyprian fühlte sich so schlecht, dass sein Magen einen sauren Klumpen bildete. „Die Dunkelheit einer Liebe, die sich nicht erfüllen kann!“
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. Er fühlte den Schweiß, der ihm am ganzen Körper ausgebrochen war, und dachte, auch sie müsse ihn wahrnehmen. Stattdessen lehnte sie sich erneut an ihn. Ihr Körper wurde von ihrem Schluchzen gestoßen.
„Wir finden auch von hier heraus wieder ans Licht“, flüsterte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihn nochmals sehen“, schluchzte sie. „Ich habe den Pfarrer gebeten, mir die Tür zu öffnen. Ich wollte sichergehen, dass es ihn wirklich gegeben hat – diesen Weg zurück ans Licht.“
Cyprian hielt den Atem an.
„Er ist weg!“, schrie sie. „Die letzte Überschwemmung hat alles mit Schlamm gefüllt, und der ist hart gebacken wie Stein!“
Cyprian fühlte ihre Not und hasste sich für die Erleichterung, die er empfand. „Er war nur ein Symbol“, hörte er sich sagen. „Es bedeutet nichts, dass es ihn nicht mehr gibt.“
Ihr Weinen sagte ihm, dass sie ihm nicht glaubte. Sie schmiegte sich in seine Arme, und er hielt sie fest. Der Wind zerrte an ihnen, und der Sonnenuntergang übergoss sie mit warmem Licht, das weder seine noch ihre Seele erreichte. Der Stadtknecht wanderte erneut vorüber, betrachtete sie, grinste Cyprian an und zwinkerte ihm ein zweites Mal zu.
„Halt’s Mädel nur gut fest, Bub“, murmelte der Stadtknecht. Er war ein alter Mann mit grauem Bart. „Es gibt nix Flüchtigeres als wie die Liebe.“
Cyprian lächelte zurück mit einem Gesicht, das aus Gips zu sein schien. In seinem Körper hallten die Herzschläge wie in einer tönernen Schale mit vielen Rissen.