Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 44
20.
ОглавлениеPater Hernando stellte sich auf ein langes Konklave ein. Im Zweiten Konzil von Lyon hatte Papst Gregor X. in seiner Bulle Ubi periculum festgelegt, dass der Beginn der Papstwahl so gelegt werden müsse, dass die Sedisvakanz mindestens fünfzehn und höchstens zwanzig Tage dauern durfte. Das war vor mehr als dreihundert Jahren gewesen, und seitdem hatten Ubi periculum und ihre Nachfolgerinnen Licet, Ne romani, Licet in constitutione, Periculis et detrimentis und wie sie alle hießen genügend Zeit gehabt, sich in die Mauern des Vatikans zu graben wie die Zehn Gebote in die Steintafeln Moses’. Diesmal hätte das Konklave nicht pünktlicher beginnen können. Am fünfzehnten Oktober war Papst Gregor heimgerufen worden; der Gerufene war der Aufforderung stöhnend und sich seit Tagen in grünlichem Erbrochenen windend gefolgt, eine Prozedur, der Pater Hernando von weiter Ferne und mit unterdrücktem Grauen gefolgt war, während der von ihm bestochene Dienstbote ihn über die Neuigkeiten auf dem Laufenden hielt, die er aus fünfter oder sechster Hand bekommen hatte. Pater Hernando fand es mehrfach nötig, Stunden allein im Gebet zu verbringen, um sich zu versichern, dass das, was er dem Heiligen Vater angetan hatte, hatte getan werden müssen, damit die Christenheit nicht in die Katastrophe steuerte.
Heute war der siebenundzwanzigste Oktober MDXCI, das Jahr des Herrn 1591. Die letzten Atemzüge des Papstes waren bereits vom Hämmern der Zimmerleute akzentuiert worden, mit denen zwei Säle und Kapellen im Quirinalspalast durch Bretterwände unterteilt wurden. Jetzt standen das Volk und die minderen Ränge des Klerus, unter ihnen Pater Hernando, vor den Toren des Vatikans und gaben den einziehenden Kardinälen das Geleit. Der Nieselregen dämpfte die Lust des Pöbels am Grölen, Klatschen und Schreien ganz erheblich; so weit Pater Hernando feststellen konnte, hatte nur der Jubel für Girolamo Kardinal Simoncelli natürliche Ursachen. Der Kardinal nahm bereits an der siebten Papstwahl teil und galt selbst unter den abgebrühten Römern als besonderer Zeitgenosse. Das Geklatsche und Geplärre für Kardinal Facchinetti war hingegen gesteuert. Pater Hernando wusste es deshalb so genau, weil er dahinter steckte. Kardinal de Gaetes Anweisungen waren in dieser Hinsicht genau gewesen. Facchinetti war einer aus ihrem Kreis und sollte die Tiara bekommen – Pater Hernando war sicher, dass Kardinal de Gaete und mit ihm der ganze spanisch-italienische Zirkel, den er auf seine Seite gebracht hatte, entsprechend stimmen würde, und was noch an Überzeugungsarbeit zu leisten war, würden die Kardinäle innerhalb des Konklaves verrichten.
Kardinal Facchinetti war so grau und bedrückt durch das Spalier aus Menschen geschlichen, dass man meinen konnte, er ginge zu seiner eigenen Beerdigung. Er hatte nur ein einziges Mal aufgesehen, als er an einem Mann im Bischofsornat vorbeigeschritten war, der ihm zugenickt und gelächelt hatte. Pater Hernando kannte den Bischof nicht, einen hageren Mann mit prominentem Bart.
Etliche Kardinäle fehlten; einige würden zu spät eintreffen, weil sie Schwierigkeiten auf der Reise bekommen hatten, einige, weil sie sich der quälenden Prozedur nicht stellen wollten, der immer einmal wieder ältliche Kardinäle zum Opfer fielen, die diskret hinten hinaus getragen wurden, während vorne ein glücklicherer Kollege verkündete: Habemus papam! Natürlich fehlte auch Gaspar Kardinal de Quiroga wieder, der Großinquisitor. All seinen Bemühungen zum Trotz gab es immer noch lebende Ketzer in Spanien, deren Ausrottung jeder Papstwahl vorzuziehen war, im Namen Gottes und der Barmherzigkeit.
Der Dominikanerpater sah den von Alter, teurem Stoff oder Juwelen gebeugten Gestalten zu, in deren Händen die Wahl des nächsten Führers der Christenheit lag und aus deren Mitte er hervorgehen würde. Er konnte nicht anders als sich beklommen fühlen. Ein Abend mit Kardinal de Gaete hatte ihm erschlossen, wie anfällig für Korruption und Erpressung dieser ganze Vorgang war und wie wenig heilig sich das Heilige Kollegium in den nächsten Tagen verhalten würde. Pater Hernando hatte sich für einen Zyniker gehalten. Im Vergleich zu Kardinal de Gaete und den meisten anderen der Männer, hinter denen sich die von Schweizergardisten bewachten Tore schlossen, war er ein geradezu naiver Glaubender. Er hoffte, dass aus all dem Sarkasmus und den politischen Kungeleien letztlich doch das herauskommen würde, was nötiger war denn je: den Mann zum Papst zu wählen, der die größte Waffe, die ihnen jemals gegen das Böse und die Ketzerei in die Hände gefallen war, auch benutzen würde.
Noch haben wir sie nicht gefunden, dachte Pater Hernando. Er seufzte. Aber Pater Xavier würde das Vermächtnis des Satans auftreiben. Hernando zweifelte keine Sekunde daran, dass sich sein Bruder in dominico vom Grundsatz, dass die Kirche das Blut scheut, keine Sekunde abhalten lassen würde, jeden Widerstand zwischen sich und seinem Ziel gründlich zu vernichten. So viele weitere böse Taten, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen … Pater Hernando war unsicher, ob irgendwo in Jesu Christi überlieferten Worten auch nur einmal davon die Rede war, dass man morden musste, um den Glauben zu bewahren.
Die Menge blieb vor dem Tor versammelt, durch das das Heilige Kollegium verschwunden war, als ob damit zu rechnen gewesen wäre, dass man das Ende des Konklaves abwarten konnte. Pater Hernando drängte sich aus dem Gewühl. Er hatte noch nie Schwierigkeiten damit gehabt, dem Flehen der Ketzer nach Gnade bei der peinlichen Befragung zuzuhören und dem Henker ein Zeichen zu geben, die Befragung zu verschärfen; das Gebrüll der bei lebendigem Leib Verbrennenden und der Anblick der schmorenden Fleischklumpen in den eisernen Ringen, zu denen sich die Körper am Ende des Autodafés reduziert hatten, hatte ihn kein einziges Mal bedrückt. Er hatte seine Pflicht mit reinem Gewissen getan, hinterher für die Seelen der Geläuterten gebetet und sich dann die Akten der nächsten Delinquenten vorgenommen. Heute jedoch erfüllte ihn eine Angst und Unsicherheit, die er nie gekannt hatte. Er stellte sich vor, wie Pater Xavier mit der Teufelsbibel in Rom ankam, und obwohl er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie das Vermächtnis des Bösen aussah, sah er dennoch den greifbaren Schatten in aller Deutlichkeit, der sich mit seiner Ankunft über die Stadt legte. Pater Hernando erschauerte.
Der Dom von Sankt Peter war offen und würde es die ganze Zeit über bleiben, bis der neue Papst gewählt war.
Pater Hernando stolperte durch Gerüste und Sackleinen in die ewige Baustelle hinein und sank wenige Schritte nach dem Eingangsportal auf die Knie, die Hände vor dem Gesicht gefaltet und die Augen geschlossen. Sein Flüstern klang wie das Flattern kleiner Flügel im gewaltigen hallenden Dom. Und ob ich auch wandle durch das Tal der Angst, ich fürchte nichts, denn Du bist bei mir … darum vertrauen auf Dich, die Deinen Namen kennen; denn Du hast nicht verlassen, die Dich, HERR, suchten … tue mir kund den Weg, darauf ich gehen soll; denn zu Dir erhebe ich meine Seele …
Pater Hernando öffnete die Augen und richtete den Blick auf die Figur des Gekreuzigten beim Altar. Als wäre er ein tumber Mönch und nicht einer der Exzellentesten seines Ordens, hoffte er, dass ein Zeichen geschehen und die Gestalt am Kreuz ihm zunicken oder zulächeln würde. Doch Jesus Christus hatte den Kopf gesenkt. Seine Augen blickten an Pater Hernando vorbei ins Leere, und der Düsternis in der Kirche und der weiten Entfernung zum Trotz glaubte Pater Hernando einen Ausdruck von Abscheu in dem geschnitzten Gesicht wahrzunehmen.
Am Abend des ersten Tages leerte sich der Dom, der sich im Verlauf des Tages zusehends gefüllt hatte. Es blieben dennoch genügend Betende, Ratsuchende oder Sensationslüsterne zurück, dass niemandem die schwarz-weiße Gestalt auffiel, die sich an einer Säule zusammengerollt hatte und in einem unruhigen Schlaf seufzte und zuckte. In der Nacht wagte sich ein einsamer Kirchgänger an die Gestalt heran, hielt ihr die Hand dicht vor Mund und Nase, und als sie nicht aufwachte, ging er daran, die Taschen des Habits zu durchsuchen. Dominikaner standen im Ruch, ihre Aufgabe als die Wachhunde des Herrn versilbert zu bekommen, und wenn einer von den Kuttenträgern so dämlich war, in der Kirche einzuschlafen, dann wollte selbst Gott, dass man ihn um seinen Wohlstand erleichterte. Doch der Dieb fand nichts außer einer Brille, mit der er nichts anzufangen wusste, und einem silbern schimmernden Kruzifix, und das abzureißen reichte seine Unverfrorenheit nicht aus. Ärgerlich über die Ergebnislosigkeit seiner Suche und über seine eigene Feigheit wandte er sich vom Kruzifix ab, so dass der Heiland nicht sehen konnte, was er tat, holte sein Glied heraus und pisste dem schofligen Dominikaner über die Kutte.
Den zweiten Tag des Konklaves verbrachte Pater Hernando in fieberndem Gebet und in seine eigene Geruchsglocke nach Urin eingehüllt, die er nicht wahrnahm. Das Gesicht des Gekreuzigten sah immer mehr wie das von Papst Gregor aus, das Blut auf seiner Stirn schwarz von dem Gift, das Pater Hernando ihm verabreicht hatte. Was hatte er getan … was hatte er getan? Herr Jesus Christus, Abraham wollte seinen einzigen Sohn opfern um deinetwillen; auch ich habe einen unschuldigen Menschen geopfert um deinetwillen und um die Christenheit zu bewahren. Er merkte nicht, wie das Licht, das durch die Kirchenfenster fiel, im Lauf eines ganzen Tages die Schatten vor sich hertrieb, ohne sie aus dem Gotteshaus tilgen zu können, wie die Schatten von jeder Stelle, die das Licht verließ, wieder Besitz ergriffen.
Irgendwann rissen ihn großes Geschrei und Gejubel und eine Hand, die ihn an der Schulter schüttelte, aus dem Fieber. Er taumelte mit den anderen hinaus. Die Gassen waren schwarz vor Menschen, die tanzten und klatschten und einen Namen riefen, den er nicht verstand. Die Menge spie ihn vor dem Tor aus, durch das das Heilige Kollegium ins Konklave gegangen war. Die Tore standen offen. Hinter den bunten Landsknechtsuniformen von Schweizergardisten erblickte Pater Hernando Gestalten im Kardinalspurpur; der Purpur sah in den Schatten aus wie geronnenes Blut. Das Geschrei und der Jubel entfernten sich vom Ort des Konklaves mit dem Tempo, das ein Fähnlein Gardisten an den Tag legt, das sich – seinen kostbaren Schützling in der Mitte – einen Weg durch die Menge bahnt. Der neue Papst war unterwegs zur Sixtinischen Kapelle, um dort sein Gewand anzulegen und dann wieder zum Konklave zurückzukehren. Pater Hernando stand unter den Leuten, die um ihn herumliefen und ihn stießen oder beiseite schubsten, wie einer, der soeben erwacht ist und nicht weiß, ob die Wirklichkeit nicht noch schlimmer wird als sein Alptraum. Er sah einen Schweizergardisten auf sich zukommen und hörte ihn etwas sagen; ohne es verstanden zu haben, folgte er dem Mann. Der Gardist führte ihn zu Kardinal de Gaete und Kardinal Madruzzo.
Das Schildkrötengesicht von Cervantes de Gaete sah starr aus. Madruzzo hatte seinen Handschuh abgenommen und biss erbittert auf seinen Fingernägeln herum. Er rümpfte die Nase, als Pater Hernando in seine Nähe kam, und hielt sich unwillkürlich den parfümierten Handschuh vors Gesicht.
„Innozenz IX“, raschelte die Stimme Kardinal de Gaetes. „Ich hätte erwartet, dass er sich Julius nennen würde. Wir brauchen einen kriegerischen Papst, keinen, der die Unschuld auf seine Fahne schreibt! Wie sehen Sie denn aus, Pater? Sie machen ein Gesicht, als wüssten Sie es noch nicht: Habemus papam.“
„Ich weiß es“, sagte Pater Hernando heiser.
„Wissen Sie, wo Ihr dominikanischer Bruder ist? Pater Xavier?“, bellte Kardinal Madruzzo.
„In Prag …“
„Wo genau?“
„Ich …“
„Wir werden ihn auf keinen Fall zurückpfeifen!“, schnappte Kardinal de Gaete. „Verfallen Sie bloß nicht in Panik, Madruzzo – ein altes Waschweib ist gegen Sie der Stein von Gibraltar, bei der Liebe Christi!“
„Was wollen Sie! Es ist doch alles aus!“, stöhnte der deutsche Kardinal.
„Nichts ist aus. Unser Kreis hat sich nur um einen Mitstreiter verkleinert, das ist alles. Wir werden einen neuen Mann finden, der die Lücke schließt. Glauben Sie, ich gebe jetzt auf? Wo wir so nahe dran sind wie noch nie?“
„Aber was wollen Sie denn tun?“ Madruzzo machte eine resignierte Geste. „Da wäre es noch besser gewesen, irgendeinen Papst zu haben als ausgerechnet ihn! Hätten Sie doch die anderen bedrängt, mich zu wählen! Ich hatte im ersten Durchgang immerhin acht Stimmen.“
Pater Hernando sah von einem der Kardinäle zum anderen. Die Augen von Cervantes de Gaete funkelten, polierte Glasmurmeln im Steinbruch seines faltigen Gesichts.
„Pater Hernando …“, begann der alte Kardinal.
Pater Hernando hatte es gewusst. Er hatte nicht ahnen können, was sich abspielen würde, und auch jetzt war ihm nur ein Bruchteil dessen klar, was vorgegangen war oder was der neu gewählte Papst seinen beiden Kardinälen befohlen hatte. Die Welt schwankte um ihn herum. Er hörte das Geschrei des Pöbels wieder lauter werden und wandte sich unwillkürlich um. An der Spitze einer Parade von winkenden Händen, fliegenden Hüten und einer Welle von „Papa! Papa!“-Rufen näherte sich das Kontingent Schweizergardisten. Pater Hernando konnte eine weiß schimmernde Gestalt zwischen ihnen erkennen. Die unsicher geschliffenen Linsen seiner Brille und der Regenschleier darauf hätten ihn kein Gesicht ausmachen lassen dürfen, dennoch sah er ganz deutlich das magere, graubärtige Gesicht Giovanni Facchinettis. Papst Innozenz IX. Kardinal de Gaetes Intrigen, Bestechungen und Verhandlungen hatten offenbar genau das Ergebnis gezeitigt, auf das er und der gesamte Zirkel um ihn herum gehofft hatten: der dritte Kardinal unter ihnen war der neue Papst. Und doch … Pater Hernando blinzelte in den Regen. Würde ein Papst, der sich den Namen Innozenz gab, eine Waffe für den Kampf um die Einigkeit des Christentums in die Hand nehmen, die der Teufel selbst geschmiedet hatte?
„Pater Hernando …“
Der Dominikanermönch wandte sich ab. Kardinal de Gaete starrte ihn an.
„Sie müssen gehen. Pater Hernando, wir haben uns doch verstanden?“
Pater Hernando schloss die Augen und trat einen Schritt in den großen Abgrund hinein. Und ob ich auch wandere …
„Natürlich“, flüsterte er.