Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 56

11.

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Andrej blieb stehen, als sie durch den Mauerdurchbruch neben dem Tor geklettert waren.

„Ich glaube, ich kann das nicht“, sagte er leise.

„Reißen Sie sich zusammen“, sagte Cyprian.

„Ich sehe es alles vor mir, wie es damals war … der Torbau hier … der freie Klostervorhof … Dort stand ich, und der Wahnsinnige stürmte auf mich los. Es ist, als wäre es gestern gewesen.“

„Schön“, sagte Cyprian. „Dann können Sie mir ja helfen, mich zurechtzufinden.“

Andrej starrte ihn an. Cyprian seufzte.

Selbst jemand, der mit allgemeiner Klosterarchitektur vertraut war, hätte es schwer gehabt, sich in dem Trümmerfeld zu orientieren. Es gab kaum eine freie Fläche; Mauern schienen weniger eingesackt als übereinander gestürzt zu sein, Bruchkanten ragten in die Höhe, Quadersteine und Balken bildeten Tunnels. Fährten zogen sich darüber hinweg, helle Streifen im Grau, auf denen keine Flechten krochen und die davon zeugten, dass sich hier schlurfende Schritte entlang bewegten. Die Fährten verschwanden nicht selten in Höhlenöffnungen, als ob sie der Pfad zu einer Behausung wären.

Das Kloster war nicht groß – in Wien gab es größere, von denen kein Mensch bewundernd sprach –, doch in seiner Verwüstung schien es sich in alle Richtungen zu dehnen und jeden Durchlass abzuwehren.

Cyprian erinnerte sich an einen späten Januar in seiner Heimatstadt, in dem nach hartem Frost plötzlich Tauwetter eingesetzt hatte: eine kleine Flut war herangerollt, hatte das Eis in der fast vollkommen zugefrorenen Wien gebrochen und die Schollen in der weiten Kurve beim Ochsengries aufeinander getürmt. Die zackige Eislandschaft war mehrere Tage lang über die Kiesebene aufgeragt, dass man meinen konnte, sie kletterte an der steilen Böschung dahinter in die Höhe. Auf dem Stubentor und der Braun-Bastei hatten sich die Leute gedrängt und gegafft; die Unternehmungslustigeren unter ihnen hatten sich in die wüsten Verwerfungen gewagt und waren darin herumgeklettert. Cyprian war selbstverständlich unter ihnen gewesen. Er erinnerte sich an die Trostlosigkeit, die man angesichts der übereinander getürmten, zersplitterten, kantigen Eisschollen unter dem düsteren Januarhimmel empfunden hatte, obwohl die Stadt nur ein paar Steinwürfe weit entfernt lag. Im Schlagschatten der hohen Uferböschung, die die Mittagssonne abblockte, und unter den überhängenden Eisplatten hatte einen ein eisiger Hauch angeweht; durch die Spalten, Durchlässe und Tunnel und über die schrundigen Gipfel war ein beständiger Wind gekrochen. Er spürte den Eishauch auch hier.

Die Kirche ragte hinter der Verwüstung auf und machte den Anblick nur noch schlimmer mit ihrem bloßgelegten Dachgerippe und den zerfressenen Turmstümpfen. Zu ihr zu gelangen war fast unmöglich; der Trümmerhaufen, der direkt davor aufragte, war fast so hoch wie ein einstöckiges Haus. Andrej wies mit dem Kinn darauf.

„Dort war der Eingang zum inneren Klosterbereich“, sagte er. Seine Stimme klang gereizt. „Ich hoffe, ich konnte Ihnen eine Hilfe sein.“

Etwas scharrte, und sie duckten sich unwillkürlich hinter einen Mauerbrocken. Die abgerissene schwarze Gestalt mit dem Nicht-Gesicht konnte noch nicht wieder von ihrem Gang um das Kloster herum zurück sein; sie hatten gewartet, bis sie um die entfernte Ecke des ehemaligen Klosterbereichs herumgekrochen war, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten. Dennoch sahen sich beide nach ihr um. Das Scharren kam jedoch von irgendwo dort vorn, wo die vielen Fährten über das Gestein führten. Dann sahen sie den Trümmerstein, der sich ruckartig vorwärts bewegte. Cyprian hatte das Gefühl, dass ihm die Realität abhanden kam. Er kniff die Augen zusammen.

„Wahrscheinlich nimmt man die Farbe des Staubs an, wenn man lange genug hier gewesen ist“, sagte Andrej.

Der Trümmerstein war eine weitere zerfledderte Gestalt, gebeugt, rundrückig, in sich selbst zusammengekrümmt und von graubraunen Fetzen bedeckt, die sich nicht vom Hintergrund abhoben. Sie beobachteten, wie sie mit quälender Langsamkeit in eine Höhlenöffnung kroch und sich in der Dunkelheit darunter auflöste. Cyprian wandte sich ab und betrachtete Andrej.

„Mit Ihrer Kleidung sind Sie hier genauso unauffällig wie eine Spinne auf dem Quarkkuchen“, sagte er.

„Sie müssten sich auch erst eine halbe Stunde im Dreck wälzen, um denen hier ähnlich zu sehen“, versetzte Andrej. „Sie tragen zwar Schwarz, aber ein Schwarz, das leuchtet, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Cyprian ignorierte Andrejs Feindseligkeit. Er richtete sich auf und balancierte über die Brocken. Die Geräusche sagten ihm, dass Andrej ihm folgte.

„Da … werfen wir die Decken über“, sagte Cyprian und deutete auf ein kleines Bündel neben einem Höhleneingang.

„Sind Sie verrückt? Glauben Sie, ich will mich anstecken?“ Andrej stieß das Deckenbündel mit dem Fuß an. Eine Decke verrutschte und offenbarte ein Gesicht, in dem zwei unregelmäßige Löcher klafften – ein aufgerissener Mund und eine Nasenhöhle. Die Augen waren geschlossen, die Gesichtsfarbe gelb wie geronnenes Wachs. Im Inneren der klaffenden Öffnungen sah man träge wimmelndes Leben. Andrej sprang zurück.

„Verdammt noch mal“, flüsterte er.

Cyprian schwieg. Er wusste, dass seine Stimme nicht besser geklungen hätte als die Andrejs. Er erneuerte seinen Vorschlag nicht, sich mit den Decken zu tarnen. Sie kletterten über einen Pfad, der auch im Hochgebirge hätte sein können, auf die mächtige Klippe des eingesunkenen Klostergebäudes zu. Es kostete Überwindung, sich mit den Händen abzustützen, wenn man wusste, welche Hände dort vielleicht zuvor Halt gesucht hatten.

Cyprian drehte sich um und ertappte Andrej dabei, wie dieser versuchte, seinen Ärmel so weit nach vorn zu ziehen, dass er den Stoff über die Handballen zerren konnte. Andrej gab seinen Blick zurück und starrte dann trotzig auf Cyprians Brust. Cyprian folgte ihm und erkannte, dass er sich bereits mehrfach dort die Hände abgewischt haben musste; das Wams war ruiniert.

Aus der Nähe besehen, wirkte die Ruine des Klosterbaus nicht mehr so unwegsam. Ein Teil der Außenmauer war unter dem Gewicht des eingestürzten Dachs nach außen gedrückt worden und in sich zusammengefallen, aber der Haupttrakt schien im Wesentlichen unversehrt; es waren andere Gebäude, die gegen seine Mauern gesackt und zusammengestürzt waren. Die Ruine besaß ein intaktes Eingangsportal mit einer verzogenen Holztür. Cyprians erster Impuls war, sie aufzudrücken, doch dann merkte er, dass er unwillkürlich zögerte, die flache Hand auf das Holz zu legen. Es gab mehrere dunkle, abgewetzte Stellen, die bewiesen, dass auch andere mit ihren Händen gegen das Türblatt gedrückt hatten. Cyprian biss die Zähne zusammen und versuchte eine Stelle zu finden, die halbwegs unberührt aussah. Er war sich Andrejs Blicken bewusst. Die Tür regte sich nicht.

„Abgeschlossen“, murmelte er und war froh, die Hand wegnehmen zu können.

Andrej sah sich um. „Wo sind alle?“, wisperte er.

Cyprian zuckte mit den Schultern.

„Ich denke … es ist ja nicht so, dass hier niemand wäre, oder? Die Spuren über den Schutt … die Gestalten, die wir bereits gesehen haben … der Tote …“

„Sie liegen alle in ihren Löchern“, sagte Cyprian.

„Sie meinen … gestorben?“

„Nein, versteckt.“

„Ach ja“, sagte Andrej und grinste humorlos. „Aus Angst vor uns vermutlich. Sollen wir ihnen verraten, dass wir mehr Angst vor ihnen haben als sie vor uns?“

Cyprian warf ihm einen Seitenblick zu. „Angst vor uns?“

„Die erkennen doch, dass wir gesund sind. Was meinen sie wohl, was die Unglücklichen glauben? Die halten uns für Gesandtschaft aus Chrudim, die nachschauen kommt, ob dieser Friedhof hier brennt, wenn man genug Öl darüber gießt!“

„Incendia purgo“, sagte Cyprian. „Das Feuer reinigt.“

„Amen.“

Cyprian schüttelte den Kopf und sah sich gleichzeitig um. Es wirkte, als würde er wittern. „Nein“, sagte er. „Nein. Wenn die guten Bürger von Chrudim so etwas vorgehabt hätten, wäre es schon lange geschehen – und das wissen die armen Schweine ganz genau.“

„Was haben die Leute hier dann Ihrer Meinung nach?“

„Angst vor dem Ende der Welt“, sagte Cyprian, ohne zu überlegen. Er musterte Andrej, der ihn anstarrte. „Vor dem Ende ihrer kleinen, unglücklichen, höllischen Welt.“

Andrej erwiderte nichts, aber er zog die Schultern hoch. Cyprian wusste selbst nicht, warum er das gesagt hatte, aber er war überzeugt, dass es der Wahrheit entsprach. Es lag in der Luft – wie der Hauch von Verwesung über einem Totenacker, und damit meinte Cyprian nicht den tatsächlichen Gestank, der an den Schutthaufen klebte.

„Wie hat es hier ausgesehen, als Sie zum ersten Mal hier waren?“; fragte er.

„Nicht so sehr zerstört“, sagte Andrej nach einer langen Pause. „Das Kloster war damals schon eine Ruine, aber seither … Ich weiß nicht, was hier passiert ist, aber es sieht aus, als wäre der Zorn Gottes darüber hinweg gezogen. Mein Vater ist in dieses Gebäude gegangen, und aus diesem Gebäude sind auch der Wahnsinnige und die anderen Klosterbrüder gekommen … und der schwarze Mönch mit der Armbrust, der den Rasenden erschossen hat.“

„Was glauben Sie, warum es in dieser Ruinenlandschaft eine abgeschlossene Tür gibt?“

„Weil jemand was zu verstecken hat?“

Cyprian hob den Fuß, um die Tür einzutreten. Andrej packte ihn am Arm.

„Schauen Sie“, sagte Cyprian. „Sie wollen herausfinden, was aus Ihren Eltern und aus Jarmilas Mutter geworden ist. Ich will nur das Buch. Sie glauben nicht mal, dass das Buch existiert. Meinen Sie, Sie finden dort drin irgendjemanden, der Ihnen die Antworten gibt, die Sie hören wollen?“

„Meinen Sie, Sie finden das Buch?“

„Ich kann zumindest alles auf den Kopf stellen.“

„Sie werden mich nicht los. Ich gehe mit Ihnen hier rein.“

Cyprian musterte ihn. Er dachte daran, dass Andrejs Vater hier eingetreten und nie wieder daraus hervorgekommen war. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn es sich um seinen Vater gehandelt hätte. Er sah das Bild wieder vor sich, wie der Bäckermeister Khlesl ins Mehl flog und der weiße Staub explodierte und Cyprian ebenso erstickend einhüllte wie die unsägliche Wut auf den massigen Mann, der wie betäubt zwischen seinen Säcken lag. Ihm fiel ein, dass er nicht da gewesen war, als sein Vater starb; als er eintraf, hatte er nur noch einen erkaltenden Leichnam in seinem Bett vorgefunden. Er hatte überraschend klein und alt ausgesehen und eher so, als hätte ein ungeschickter Künstler versucht, Cyprians Vater in Wachs nachzubilden. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dies der Mann war, den er so sehr geliebt hatte, dass die Liebe in Hass umgeschlagen war, als sie keine Erwiderung fand. Ja, er konnte Andrej verstehen.

„Los jetzt“, sagte er. „Glauben Sie, ich will die ganze Arbeit allein machen?“

Sie traten gemeinsam gegen die Tür. Sie flog auf und prallte an die Wand dahinter. Das Echo flatterte über die Trümmerlandschaft und in das Gebäude hinein, wo es erstickte. Andrej hielt sich an Cyprian fest und schüttelte sein Bein aus. „Verdammt“, knurrte er. „Das tut weh! Sie haben darin Übung, oder?“

Cyprian erwiderte nichts. Er starrte in die Dunkelheit hinein, die sich vor ihnen auftat. In der Dunkelheit war Leben.

„Gut“, sagte Andrej. „Gut. Sie sind immer noch Herr der Lage, oder?“

„Keine Ahnung“, knurrte Cyprian. „Aufpassen, Kopf!“

Es war zu spät. Das Obergeschoss des Baus war durchgesackt, und dass die herunter gebogenen, halb geborstenen Tragbalken die Last noch hielten, war eines von Gottes größeren Wundern. Die Balken waren so gekrümmt, dass selbst der stämmige Cyprian den Kopf einziehen musste, um darunter durchzukommen. Der hoch aufgeschossene Andrej jedoch … Cyprian verdrehte die Augen, als der Aufprall durch den Gang dröhnte. Es hörte sich an, als habe Andrejs Dickschädel der Ruine den Rest gegeben; ein Knacken und Knistern lief durch das zerstörte Gebälk wie Mäusefüße, die nach allen Richtungen flüchten. Vielleicht waren es tatsächlich Mäuse, die um ihr Leben rannten; Cyprians und Andrejs stumme Begleiter jedenfalls huschten ebenfalls auseinander, ein Knäuel Spinnen, neben dem jemand mit dem Fuß aufgestampft hat. Cyprian stand still und horchte dem Knacken hinterher, mit dem die Ruine sich weigerte, einzustürzen.

Die vermummten Gestalten krochen wieder näher heran. Andrej stöhnte und rieb sich die Stirn.

„Hören Sie auf zu simulieren und kommen Sie weiter“, sagte Cyprian.

„Haben Sie eine Ahnung, was die Kerle von uns wollen?“, ächzte Andrej.

„Frühstück?“, schlug Cyprian vor.

„Wir werden eingeladen?“

„Nein, wir werden der erste Gang.“

Andrej schwieg eine Weile. „Und was glauben Sie in Wirklichkeit?“

„Sie wollen uns was zeigen.“

„Ich denke nicht, dass ich es sehen will.“

„Irgendwas stimmt hier nicht. Und damit meine ich nicht den Umstand, dass die armen Teufel hier zusammengetrieben worden sind, um lebendig zu verfaulen.“ Cyprian versuchte die Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Er war sicher, dass die Merkwürdigkeit, die er fühlte, den Rahmen dessen sprengte, der für die unseligen Erkrankten längst zur Normalität geworden war. Er dachte daran, was er draußen zu Andrej gesagt hatte: er hatte Angst gefühlt, Angst vor dem Ende. Auch an ein Leben wie dieses konnte man sich klammern, wenn man sonst keines hatte.

Niemand hatte sie bedroht; niemand hatte sie zu etwas gezwungen; niemand hatte sie angesprochen. Die Mauer aus lebendig verfaulenden, verhüllten Leibern, die hinter der eingetretenen Tür gestanden war, hatte sich vor ihnen geteilt, hatte sie in ihre Mitte aufgenommen und sich dann schweigend in Bewegung gesetzt. Cyprian und Andrej waren der sanften Aufforderung gefolgt; es war das oder die Ahnung, dass man ihnen einfach auf die Pelle gerückt wäre, bis Körperkontakt entstanden wäre. Und bei aller Höflichkeit und dem Versuch, kaltes Blut zu bewahren – ein Hindernis zu sein, gegen das sich ein in gammelige Fetzen gehüllter, zerfallender Körper schmiegte, bis man dem Druck nachgab, besaß keine große Attraktivität.

Der Weg führte um eine Gangbiegung und dann hinab. Das bisschen Licht, das er erhielt, stammte von Löchern in der Zwischendecke, durch die man den eingestürzten Dachstuhl sehen konnte. Cyprian war noch immer schleierhaft, was eine solche Zerstörung hatte verursachen können; es schien, als wären die Gebäude auf einem Fundament aus Sand errichtet gewesen, und dann war dieses Fundament einfach in sich zerfallen. Sie kletterten die Treppe hinunter, die jemand wenigstens so weit von Schutt und herab fallenden Teilen befreit hatte, dass man sie benutzen konnte, ohne sich sofort den Hals zu brechen.

„Das ist ein Weg, der öfter gegangen wird“, sagte Cyprian.

Andrej brummte etwas. Er ging in gebückter Haltung und schielte ständig nach oben, obwohl das Treppengewölbe intakt war. Es war nicht so einfach, eine Treppe hinunterzuklettern, an deren Rändern Steine und Bruchteile lagen, deren Beleuchtung ständig schwächer wurde, je weiter sie vorankamen, und gleichzeitig aufzupassen, dass man sich nicht den Kopf einrannte. Cyprian erwartete jeden Moment, seinen unfreiwilligen Begleiter nach einem Aufschrei die Treppe hinunterkugeln zu sehen, seine bunten Höflingsgewänder ein nach unten verschwindender Wirbel aus Farben und Seidenschimmer.

„Vater sprach von einem Gewölbe“, murmelte Andrej.

„Ein Versteck für das Buch?“

„Er nahm an, dass es irgendwo in der Tiefe verborgen sein würde; irgendwo, wo man es in der Dunkelheit verstecken könne; irgendwo, wo man im Notfall den Zugang für immer versperren konnte, wenn man es zum Einsturz brachte.“

Cyprian dachte an die halb zusammengebrochenen Katakomben der heidnischen Kultstätte unter der Heiligenstädter Kirche. Das Muster passte. Er bewegte die Schultern, als er wie von einem kalten Hauch angeweht wurde. Plötzlich sah er sich, eine um viele Jahre jüngere Ausgabe seiner selbst, wie er mit einer Fackel durch die Gänge eilte, die Fabelwesen an den Gangwänden schnappten nach ihm und zuckten im vorbeihuschenden Licht, wie er eine zusammengerollte zierliche Gestalt aufhob und so schnell es ging vor den Eingang zu diesem unterirdischen Labyrinth brachte, bevor der Priester herausfand, wie weit Agnes tatsächlich vorgedrungen war; wie er sie am Fuß der Stufen niederlegte und sie aufzuwecken begann und hoffte, sie würde sich nicht daran erinnern, wo sie gewesen war.

„Es ist dort unten“, sagte Andrej.

Cyprian schüttelte den Kopf, aber er war nicht überzeugt. Er hatte sich nie für jemanden gehalten, der besonders feinfühlig für Schwingungen war, doch hier – hier vibrierte die Luft. Etwas in ihm sagte, dass es nicht so einfach sein konnte, dass das Ziel von vierhundert Jahren Verschwörung und einer Suche, der Päpste zum Opfer gefallen waren, nicht einfach in den Ruinen eines zerstörten Klosters lag. Und doch …

„Wir werden sterben“, sagte Andrej.

Sie hatten den Fuß der Treppe erreicht. Das Tageslicht reichte nicht bis hierher, doch voraus schien das gelbe Flackern einer Fackel. Cyprian schnupperte – der übliche Gestank war zu bemerken, aber bei weitem nicht stark genug. Die Fackel war eigens für sie entzündet worden. Er blieb stehen. Der Eindruck, den er auch gehabt hatte, als er zum ersten Mal vor dem Labyrinth unterhalb der Heiligenstädter Kirche gestanden hatte, war so stark, dass er ihn lähmte. Was von den Wänden im Fackellicht zu sehen war, schien roh behauen und aus dem Gemisch aus hart zusammengebackenem Lehm, Geröll und Gestein zu bestehen, das den Untergrund des Landstrichs bildete. Es war kein zuverlässiges Material, um ein Gewölbe hinein zu graben. Die Ahnung, dass Millionen Tonnen von Schutt darauf warteten, bei der geringsten Erschütterung herunterzukommen und sie zu zerquetschen, war stärker als jemals zuvor im Ruinenfeld des Klosters. Cyprians Nackenhaare stellten sich auf.

„Gehen Sie weiter“, flüsterte Andrej und drängte sich von hinten an ihn heran, als ihre Begleiter aufrückten. Cyprian hörte die Panik in seiner Stimme. Er hoffte, dass Andrej nicht aus dem Leim ging; er hätte darauf bestehen sollen, dass die lange Bohnenstange draußen blieb. Er ahnte, wenn Andrej vollends in Panik verfiel, dann würde auch er die Nerven verlieren.

Man zwang sie weiter. Der Gang war niedrig, die Decke unregelmäßig. Der Boden war trocken, obwohl das Bachbett relativ nahe liegen musste. Wäre der Untergrund wasserdurchlässiger gewesen, wäre dieser Gang schon längst in sich zusammengestürzt. Cyprian glaubte ein Ächzen zu hören. Seine Füße waren kalt. Etwas flüsterte unentwegt, Fetzen von korruptem Latein und beinahe deutlichen Silben. Plötzlich schienen all die Geschichten von verfluchtem Wissen, für das Männer töteten und von dem sie getötet wurden, nicht mehr so abwegig, und die Legende vom eingemauerten Mönch, dem der Teufel bei seinem Werk beistand, verlor an Naivität. Wer hatte gesagt, dass man das Vaterunser nur rückwärts zu beten brauchte, und man habe dem Teufel gehuldigt? Das Flüstern wehte durch die Düsternis wie die hasserfüllte Beschwörung aller Dämonen der Hölle.

Zwei, drei niedrige Öffnungen in die totale Finsternis kamen heran. Die Luft, die daraus drang, roch vollkommen leblos. Würmer wären darin vertrocknet, Ratten aus Verzweiflung zugrunde gegangen. Sie passierten sie, und Cyprian ertappte sich dabei, wie er die Fäuste öffnete; er hatte sie unwillkürlich geballt bei dem Gedanken, von ihren Begleitern dort hinein gestoßen zu werden. Hatte er tatsächlich zu Andrej gesagt, er solle keine Waffe mitnehmen? Was war nur immer mit ihm, dass er Dinge sagte, die er kurz darauf schon bereute? Doch in seinem Herzen war ihm klar, dass er vermutlich ein Messer gezogen hätte, anstatt nur die Fäuste zu ballen, als sie die schwarzen Schlünde passierten, und dass dann der Weg zum Blutvergießen nicht mehr weit gewesen wäre.

Cyprian hörte ein verzweifeltes Räuspern hinter sich. Andrej versuchte, nicht zu stöhnen. Beinahe hätte er nach hinten gefasst und den Mann an der Hand gepackt, aber er ließ es sein. Er hatte das Gefühl, ihn verstehen zu können. Wahrscheinlich fragte er sich, ob sein Vater auch durch diesen Gang getrieben worden war, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Möglicherweise lag seine vertrocknete Leiche in einer der Kammern, zu denen die niedrigen Öffnungen führten, mumifiziert, vertrocknet, schwarz … Möglicherweise waren es keine Kammern, sondern Hallen, die sich in die Tiefe dehnten, und in ihnen lagen Hunderte von Toten – Männer, die gerade eben noch der Ansicht gewesen waren, weiterhin Herren der Lage zu sein.

Die Gestalt mit der schwarzen Kutte stand so plötzlich vor ihnen, dass Cyprians Herzschlag aussetzte. Andrej geriet ins Stolpern und rempelte ihn an. Die Gestalt sagte kein Wort. Licht wanderte von hinten heran, riss die Kutte aus der Dunkelheit und verlieh ihr gleichzeitig einen Schatten, der vor ihr in die Finsternis flüchtete. Cyprian fühlte Schwindel. Ein Lumpenbündel kroch an ihm vorbei; er zuckte unwillkürlich zurück. Das heisere Flüstern hing um die Gestalt in der Kutte wie Schwefelgeruch … confiteor Dei, qui tollis peccáta mundi, miserére nobis… credo in unum Deum, patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium… dómine Deus, miserére nobis, miserére nobis … erbarme dich unser, erbarme dich unser …

Die Gestalt in der Kutte streckte eine Hand nach der Fackel aus und packte sie. Die Hand war weiß und vollkommen unbefleckt. Cyprian sah, dass die Kutte nicht schwarz war, sondern alle Schattierungen von Grau, Braun, Altersschwäche und Schmutz hatte und weniger eine Mönchskutte als vielmehr ein altertümliches Kleid ohne Gürtel war. Die Kapuze war kein Skapulier, sondern der Überrest eines Mantels. Er blickte überrascht in den Schatten, in dem das Gesicht lag; er erkannte, dass er eine Frau vor sich hatte.

Als würde sie auf seine Überraschung antworten wollen, zog sie die Fackel näher heran. Sie mochte dreißig oder sechzig Jahre alt sein, kein Mensch hätte es zu sagen vermocht. Ihre Gesichtshaut war fast weiß, ihr Gesichtsschnitt ebenmäßig. Unter der Sonne und mit entsprechender kosmetischer Unterstützung hätte sie schön sein können. Unter der Sonne und ohne den Aussatz … Die linke Hälfte ihres Mundes war eine schwarzgraue Angelegenheit aus totem Fleisch, das sich von den Zähnen zurückgezogen hatte und bis zu den Nasenlöchern hinaufgeeitert war, eine einzige nässende Wunde, aus der zerstörte Zahnruinen schimmerten. Das Loch in ihrem Gesicht war von Pusteln umgeben, die über die linke Wange und zum Kinn hinab krochen, um dort das Zerstörungswerk fortzusetzen. Stillzustehen und nicht zurückzuprallen war alles, was Cyprian tun konnte. Er betete, dass sein Gesicht sich nicht vor Ekel verzog; als der Anblick des vernichteten Antlitzes verschwamm, wurde ihm bewusst, dass ihm stattdessen Tränen in die Augen gestiegen waren.

Die Frau starrte ihn unbewegt an, große Augen unter eleganten Brauen. Sie bewegte den Mund. Er wusste nicht, ob das Fleisch ihrer unteren Gesichtshälfte schon tot war oder ob es schmerzte, als die Wunde an ein paar Stellen aufriss und Flüssigkeit in den Rissen schimmerte; und er konnte kaum verstehen, was sie sagte, aber sein Gehirn übersetzte, was seine Ohren sich aufzunehmen weigerten.

Sie sagte: „Dank sei dem Herrn, dass ihr gekommen seid.“

Der alte Mönch lag auf einem Lager aus Stein; sie hatten versucht, es mit Lumpen und trockenem Gras bequemer zu machen, aber er hatte alles heruntergefetzt und wälzte sich nun schwach auf dem nackten Stein. Sein eingefallener Mund stieß die geflüsterten Gebete aus, trockener Schaum in den Mundwinkeln. Cyprian trat vorsichtig näher heran, gefasst auf den Gestank von Verwesung und Exkrementen, doch alles, was er wahrnahm, war der staubige Geruch von ungeheuer altem Sackleinen und einem noch älteren Körper, der darin vertrocknete. Hände und Füße des Mönchs waren nackt, fast fleischlos, Haut und Knochen; sein Kopf lag auf der Kapuze, anstatt sich darin zu verstecken.

Cyprian hob die Fackel und beleuchtete den alten Mann. Er hatte sie mit zusammengebissenen Zähnen von der aussätzigen Frau übernommen mit dem Gefühl, es ihr schuldig zu sein, seine bloßen Hände nicht zuerst mit seinem Ärmel zu schützen. Ihrem Gesicht war nicht anzumerken gewesen, ob sie seine Geste würdigte oder nicht. Der alte Mönch blinzelte in die Flamme. Ungläubig trat Cyprian noch einen Schritt näher.

„Er hat keinen Aussatz“, brachte die Frau hervor. „Hat ihn nie bekommen … in all den Jahren nicht …“

„Wer ist er?“

„Unser Halt in der Welt.“

„Er hat sich um die … er hat sich um euch gekümmert?“

„Gekümmert?“ Sie keuchte; vermutlich war es ein Lachen. „Gekümmert? Nein … er war einfach nur da. Er hat sich fast nur hier aufgehalten, und wenn man ihn fragte, bekam man nur ausnahmsweise eine Antwort. Aber dass es ihn gab, dass er nicht floh und dass er nicht erkrankte, gab uns Mut. Ich glaube nicht, dass du das verstehen kannst.“

„Nein“, sagte Cyprian.

„Er stirbt“, sagte sie. „Ihr müsst ihm helfen.“

„Wie sollen wir das anstellen?“

„Ich weiß nicht. Ihr seid hier hereingekommen … Ihr habt sicher einen Weg gefunden, wie ihr wieder hinauskommt … Nehmt ihn mit. Wir können hier nichts für ihn tun. Und selbst wenn es nur darum geht, dass er stirbt, dann soll es nicht hier unten geschehen. Irgendwie hat er uns ein wenig Licht gespendet in all der Zeit … Wir wünschen, dass er das Licht noch einmal sieht, bevor er die Welt verlässt.“

„Das ist alles?“

„Das ist alles?“, echote Andrej und griff nach Cyprians Arm. „Und wie stellen Sie sich das vor?“

Cyprian gab den Blick aus den schönen Augen zurück. „Sie glauben hoffentlich nicht, dass wir nur deswegen gekommen sind.“

„Ich glaube, dass Gott eure Schritte gelenkt hat.“

„Wir können ihn nicht mit hinausnehmen.“

„Warum nicht?“

„Weil … weil …“ Verlegen erkannte Cyprian, dass der erste Grund, der ihm einfiel, für die Frau und all die anderen Erkrankten ein Schlag ins Gesicht war. Er verstummte und wich ihrem Blick aus. Andrej neben ihm wand sich unbehaglich.

„Na gut“, sagte die Frau. „Dann dürftet ihr selbst auch nicht mehr zurückkehren.“

Er sah sie überrascht an. Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er die Welt draußen anstecken kann dadurch, dass ihr ihn mit hinausnehmt, könnt ihr es auch.“

„Wir sind nicht lange genug hier …“

„Was heißt lange? Was glaubst du, wie lange ich Seite an Seite mit einem Aussätzigen gelebt habe, bevor ich die Krankheit bekam?“

Cyprian räusperte sich. „Wie lange?“, fragte er schließlich, als sie nicht weitersprach.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich bin nie wissentlich auch nur von fern mit einem Aussätzigen in Kontakt gekommen. Eines Tages hatte ich ein Mal im Mundwinkel, das nicht mehr heilen wollte …“

Cyprian hörte das Geräusch, das Andrej machte; auch ihm war nach diesem entsetzten Winseln zumute, aber er beherrschte sich.

„Warum fragen Sie nicht, wozu wir wirklich hierher gekommen sind?“

Sie schwieg; Cyprian, der sich bisher für denjenigen in einem Gespräch gehalten hatte, der es durch sein Schweigen steuern konnte, sah sich in die Verliererposition gedrängt. Die Situation, die unwirkliche Umgebung, der Anblick dieser Frau, in deren schönem Gesicht die hässliche Leprawunde schwärte … Er holte Atem.

„Es geht um …“, begann er.

„Meine Eltern sind hier ermordet worden“, fiel ihm Andrej ins Wort.

Die Augen der Frau verengten sich, als sie Andrej anblickte. Cyprian spürte, wie sein Begleiter zusammenzuckte.

„Vor zwanzig Jahren, als dies hier noch ein Kloster war und keine … äh …“

„Dies ist seit zweihundert Jahren kein funktionierendes Kloster mehr gewesen“, sagte die Frau.

„Ich war mit dabei.“

„Und ich habe mein ganzes Leben in Chrast gelebt. Das Kloster von Podlaschitz war eine Ruine seit den Hussitenkriegen. Ich kann mich an einen oder zwei Klausner erinnern, die dort ihr Auskommen fristeten, sonst nichts.“

„Ich habe die schwarzen Mönche gesehen.“

„Es gab keine schwarzen Mönche.“

„Wie oft sind Sie hierher nach Podlaschitz gekommen, bevor die Krankheit ausbrach?“, fragte Andrej feindselig. Die Frau blinzelte.

„Nie“, sagte sie schließlich nachdenklich. „Irgendwie … ist kaum jemand hierher gekommen. Man sah die Ruine von weitem, und man dachte …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Andrej nickte grimmig.

„Es gab die schwarzen Mönche“, sagte er. „Ich habe gesehen, wie einer von ihnen eine Gruppe Frauen und Kinder ermordet hat. Meine Mutter war unter ihnen; mein Vater ist hier ebenfalls umgekommen. Ich habe von beiden niemals die Leichen gesehen, aber sie sind seither verschwunden, und ich habe den Wahnsinnigen dabei beobachtet, wie er mit seiner Axt durch die Unglücklichen rannte!“

Das Flüstern des alten Mönchs erstarb mit einer letzten Silbe. Cyprian wandte sich von Andrej ab und musterte den Alten. Dieser starrte in die Luft. Sein Mund hatte aufgehört zu arbeiten; seine welken Lippen zitterten.

„Meine Mutter war unter den Frauen, als der Wahnsinnige über sie herfiel“, sagte Andrej. „Die anderen waren nicht von hier … Ich erinnere mich, dass sie ganz anders gekleidet waren und ganz anders aussahen. Seit einiger Zeit weiß ich, dass es eine Gruppe von adligen Damen unter der Führung der Gräfin Anděl war. Ich bin hierher gekommen, um herauszufinden, was wirklich aus ihr geworden ist … und aus meinen Eltern.“

Die Frau schwieg. Sie sah Andrej nachdenklich an. „Es gibt eine Geschichte“, sagte sie schließlich.

Der alte Mann auf seinem Lager rollte den Kopf herum. Seine Augen starrten in die Cyprians. Cyprian konnte förmlich sehen, wie das Leben, das schon fast von diesem hinfälligen Körper Abschied genommen hatte, in sie zurück kroch.

„Es ist nicht viel mehr als ein Gerücht. Es heißt, dass eine Gruppe von Flüchtlingen in unseren Landstrich kam. Es waren ausnahmslos Frauen und Kinder, die in einer fremden Sprache redeten. Keiner konnte sie verstehen, keiner wollte etwas mit ihnen zu tun haben. Jemand behauptete, sie stammten aus England und seien vertriebene Katholiken; andere erzählten, sie waren aus Frankreich und waren Hugenotten, die nach dem Massaker am Bartholomäustag geflohen waren. Wer auch immer sie waren – dem Gerücht zufolge sandte man sie zu den Klausnern von Podlaschitz in der Hoffnung, dass man dort Rat wisse, aber unterwegs tat sich plötzlich die Erde auf, der Teufel erschien auf seinem feurigen Ross und mit einer brennenden Kutsche, und die Frauen stiegen dort ein und fuhren mit dem Leibhaftigen in die Hölle; was dafür sprechen würde, dass sie tatsächlich Ketzerinnen waren.“ Sie machte eine ratlose Geste mit ihren unbeschädigten Händen. „Was nun auch immer stimmt: die einzigen nahen Details dieser merkwürdigen Geschichte beschränkten sich auf das Aussehen des Teufels und seiner Kutsche. Niemand, der einigermaßen bei Verstand war, nahm sie ernst. Ich hätte sie beinahe vergessen. Sie ist nur eine Geschichte unter vielen, die sich die Leute erzählen, wenn sie nicht wissen, was sie wirklich gesehen haben.“

„Der Sturm“, stöhnte der alte Mönch plötzlich. Cyprian fuhr zusammen. Er hatte ihn verstanden; so wie er die aussätzige Frau verstand, die mit einem ähnlichen Akzent sprach wie Andrej. Das Alter hatte jeden Akzent aus der Stimme des Alten getilgt.

„Der Sturm ... der Atem des Satans …“

Die Frau wandte sich ab und beugte sich über den alten Mann.

„Still, Bruder“, sagte sie. Ihre Hände zuckten, als ob sie ihm über die Wange streichen wollte, doch dann zog sie sie zurück. „Still …“

Der Alte bäumte sich auf. „Der STURM!“, schrie er plötzlich. „Er kam nach dem Frevel! Das Grab war noch kaum eingesunken, da kam der Hauch des Drachen über uns … O Herr, vergib uns, wir haben gesündigt! Kyrie eleison, kyrie eleison!“

„O mein Gott“, flüsterte die Frau. „Der Sturm! Man vergisst alles, wenn man hier gefangen ist …“

Der Sturm war vor fast zwanzig Jahren über Podlaschitz gekommen; während der alte Mönch abwechselnd Gott um Vergebung anflehte oder schrie: „Der STURM!“, teilte die Frau ihre lückenhafte Erinnerung mit ihnen.

Cyprian verstand nicht, weshalb der alte Mann sich verantwortlich dafür fühlte, dass die Katastrophe geschehen war, aber dass er es tat, war unbestreitbar. Es war auch unklar, was das Unwetter mit dem Grab zu tun hatte, von dem der Mönch stöhnte; doch was der Alte am Ende des Berichts stammelte, ließ Cyprian einen kalten Schauer über den Rücken rieseln, der jeden Eishauch, den er vorher in diesen Gewölben verspürt hatte, zu einem Nichts reduzierte.

Der Sturm …

Ein Gewitter, dass sich den ganzen Tag angekündigt hatte; drückende Hitze schon am Morgen, Feldarbeiten, die nur schleppend erledigt wurden; Warentrecks, die über die Straße von Chrudim nach Westen krochen; gereizte Tiere, gereizte Menschen … die Fliegen waren so bösartig gewesen, dass Kühe stampfend über die Weide liefen und Pferde mit geblecktem Gebiss ausschlugen. Dann hatte sich Dunkelheit über den flachen Kessel gelegt, in dessen Zentrum die Ruinen von Podlaschitz standen. Die Wolken hingen bauchig am Himmel, indigofarben, schienen herabfallen zu wollen.

„Wie damals“, sagte Andrej.

„Herr vergib uns, Herr vergib uns …“, flüsterte der Mönch.

Zuerst war es nur ein heftiger Wind; der Wind schwoll an zu einem Orkan. In den Wolken flackerten Blitze, ohne jemals die Erde zu erreichen. Der Donner rollte so laut, dass Kinder sich auf den Boden fallen ließen und weinend die Ohren zuhielten; Erwachsene kniffen sich die Nasen zu und pusteten, um den Druck loszuwerden, doch der Druck legte sich auf sie, sobald sie wieder einatmeten. Es regnete nicht. Der Herr hatte das Strafgericht heraufbeschworen, wie Er es damals mit Sodom und Gomorrha getan hatte, und Sein Zorn kam mit heulenden Winden, nicht mit Wasser. In Chrast brach ein mächtiger Ast aus der alten Gerichtslinde; in Rositz zerbarst der größte Schuppen des Orts, als eine plötzliche Bö hineinfuhr; in Horka wirbelten die Grasdächer fast aller Häuser davon, und in Chacholitz löste ein wütender Staubsturm eine Panik in einer Schweineherde aus, die die Tiere quiekend und blind vor Furcht zwischen den Hütten umherrennen ließ, bis sie sich die Schädel an Hauswänden oder Bäumen einrannten. Podlaschitz stand … die Zwillingstürme zitterten, von den eingestürzten Gebäudeteilen lösten sich kleinere Teile und rollten über den Klosterhof, aber Podlaschitz stand.

„Bis der Schwanz des Drachen die Erde berührte“, sagte die Frau, aus deren klaffender Wunde Blut und Eiter tropften.

Kurz vor Podlaschitz streckte das Unwetter, das von Westen nach Osten durchzog wie die Wilde Jagd, eine lange Hand aus, einen Tentakel … einen Riesen aus Staub und Wind und Dreck und Trümmerteilen, der tanzte und stampfte und zertrat und empor schleuderte und über die Klosterruinen herfiel und brüllte wie eine Million verhungernder Rinder und kreischte wie alle verdammten Seelen im Fegefeuer …

„Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, dómine Deus, miserére nobis, miserére nobis…!“

Cyprian versuchte den alten Mann auf dem Lager festzuhalten, aber irgendwo in dem halb mumifizierten Körper steckten die Kräfte des Irrsinns. Der Mönch taumelte auf die Beine und packte Cyprian am Kragen.

„Es war ein Befehl!“, brüllte er. „Regula Sancti Benedicti, Caput V: De oboedientia! OBOEDIENTIA! Das heißt GEHORSAM!!“ Er sank gegen Cyprians Brust und schluchzte trocken. „Warum hast du das verlangt, Vater, warum hast du das verlangt?“

Der Tentakel griff in die Öffnungen halb abgedeckter Dächer und riss die Dachsparren heraus; er warf sich gegen die bröckelnde Ruine des Torbaus und ließ sie in sich zusammenfallen, als bestünde sie aus Geröll; er tobte zwischen den Zwillingstürmen der Klosterkirche und schleuderte einzelne Steine wie Wurfgeschosse davon, knickte den einen Turmhelm ein und fetzte den anderen herunter; drosch in das Kirchenschiff, dessen Dachschindeln und Balken in die Höhe flogen wie bei einer Explosion; er hatte einen Halo aus Schmutz und wirbelnden Teilen, der sich in aufrecht stehende Mauern und Gebäudeteile grub wie tausend Morgensterne in den Fäusten von Riesen. Wenn der Zorn Gottes je eine Gestalt gehabt hatte, dann war es dieser von den Wolken bis zum Erdboden reichende Teufelsrüssel; wenn er je eine Stimme besessen hatte, dann dieses sausende, heulende Gebrüll. Sodom und Gomorrha waren in Feuer und Asche untergegangen; Podlaschitz versank in Kreischen und Staub und wirbelnden Trümmerstücken.

Cyprian griff unwillkürlich zu, als dem alten Mann die Beine nachgaben und er nach unten rutschte. Er meinte, eine Gestalt aus Stroh und Luft festzuhalten. Er versuchte, den Mönch zu seinem Lager zu tragen.

„Tötet das Kind“, murmelte der Alte. Seine Lippen bebten, sein Gesicht war nass von Speichel und Tränen. „Tötet das Kind. Es ist ein Neugeborenes, es ist vollkommen unschuldig, aber TÖTET ES!“ Er stöhnte. “OBOEDIENTIA!“, brüllte er dann. „Was ist die fünfte Ordensregel, Bruder? GEHORSAM!“

Cyprian ließ ihn zu Boden sinken, als habe er sich an dem dürren Körper verbrannt. Das Entsetzen, das ihn erfüllte, war auch in den Augen von Andrej und der aussätzigen Frau zu erkennen. Andrejs Mund arbeitete.

„Gehorsam!“, stöhnte der Alte. „Gehorsam … töte das Kind, Bruder Tomás … Ich gehorche, Vater Superior, ich gehorche …“.

Der Sturmtentakel ließ keine einzige Struktur auf dem Klostergelände heil. Er verwandelte die Kirche in das Skelett eines toten Ungeheuers und das gesamte Kloster in einen Friedhof. Er vernichtete den alten Obstgarten, ebnete die Gemüsebeete ein, trug die Hasenställe davon und verwandelte die Hühner in weit über das Land verstreute, zerschmetterte Federbälle. Er tötete zwei von den drei Mönchen, die sich dort aufhielten; dann fiel er auf dem Weg den langen Hügel östlich von Podlaschitz hinauf in sich zusammen und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Lediglich das zerstörte Kloster und eine mehrere hundert Mannslängen messende Spur aus aufgerissener Erde zeugte davon, dass er da gewesen war; der Regen begann zu fallen wie aus Eimern und bildete kleine Tümpel, Weiher, Seen in der Spur und auf dem Trümmerfeld des Klosters, und wenn Gottes Zorn jener Tentakel gewesen war, dann war der Platzregen Gottes Trauer, und was immer Seinen Zorn erregt hatte, seine Tränen wuschen seine Überreste ab und aus und salzten das Land mit Seinem Fluch.

„Warum hast du das verlangt, Vater … warum? Erbarme dich unser, o Herr, erbarme dich unser … Erbarme dich unser …“

„Ich habe von dieser alten Geschichte gehört“, sagte die Frau. „Ein Buch, das ein verfluchter Mönch geschrieben hat und mit dem er den Teufel übertölpelte. Diese Geschichten gibt es doch überall. Ich habe sie nicht mit unserem Land hier in Verbindung gebracht, und ich habe ehrlich gesagt auch nie jemanden gehört, der es getan hätte.“

Sie wies mit ihrer makellosen Hand auf den ungeordneten Haufen aus zerrissenem Papier und Pergament, der in einer Ecke der Kirche lag und vor sich hin moderte. Für Cyprian war es dieser niedrige Hügel aus zerfallendem Papier und zerlaufenden Buchstaben, aus verlöschendem Goldilluminat und schimmelig gewordenem Indigo, der mehr noch als das zerbrochene Kruzifix und der geborstene Altar verkündete, dass Kirche und Kloster von Podlaschitz tot waren. Andrej seufzte.

„Wenn es ein Buch gegeben hat, dann liegen hier seine Überreste.“

Cyprian erwiderte nichts.

„Dafür ist mein Vater in den Tod gegangen“, sagte Andrej. „Für nichts.“ Er sah zu Cyprian. „Ihre Mission war auch für nichts. Und wofür bin ich hergekommen?“

Cyprian zuckte mit den Schultern. Die Frau sah von einem zum anderen.

„Die Ungewissheit hat einen Vorteil: man kann noch hoffen“, sagte sie.

Andrejs Augen verengten sich. Er starrte in die Ferne. „Da haben Sie Recht“, sagte er. „Da haben Sie verdammt Recht.“

Die Teufelsbibel-Trilogie

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