Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 47

2.

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Wenn du nicht sicher bist, ob du das Richtige tust, aber auch nicht weißt, ob du damit aufhören sollst, dann setz dich hin und mach eine Liste, hatte Andrejs Vater immer gesagt. Schreib die Nachteile und die Vorteile auf. Tu dann das, bei dem die Vorteile die Nachteile aufwiegen. Andrej sah das vergnügte Blinzeln des alten Langenfels vor sich. Natürlich hatte sich der Alte selbst nie daran gehalten. Es hatte immer einen Grund gegeben, warum das Gefühl des alten Langenfels die Entscheidung besser trug als die Liste. Andrej dachte an die Geschehnisse vor zwanzig Jahren, die er nun durch die ständigen Bitten Kaiser Rudolfs, ihm die Geschichte zu erzählen, andauernd vor Augen hatte – die Schatten im Nebel, die zu fliehen versuchten und unter den Axthieben fielen, das Geschrei, der brüllend aufgerissene Mund im Gesicht des verrückt gewordenen Mönchs, aus dem plötzlich die Spitze des Armbrustbolzens ragte; er konnte nicht umhin zu denken, dass der Trick mit der Liste vermutlich mehr versprach als sich auf sein Gefühl zu verlassen. Zumindest konnte es damit nicht schlimmer kommen.

Die Februarkälte im Inneren seines Häuschens war so beißend, dass selbst das Wasser im Krug eine dicke Eisschicht trug. Der Rauch aus den Kaminen, von denen manche so niedrig waren, dass ein großer Mann mit der flachen Hand die Abzugsöffnung hätte zudecken können, drückte in die gewundene, enge Gassenführung, hinter der die Böschung steil zum Hirschgraben abfiel. Andrej fühlte sich zu resigniert, um auch nur aufzustehen und das Feuer im Kamin anzuschüren, und zugleich zu nervös, um ruhig sitzen zu bleiben. Seine Hände fuhren auf der Tischplatte herum, seine Knie pumpten im Rhythmus eines unsichtbaren, hektischen Taktgebers, und ohne dass es ihm bewusst war, hatte er seine Unterlippe bereits wund genagt. Das Haus hatte nur einen Raum; selbst die Behausung, die er mit Giovanni Scoto geteilt hatte, war geräumiger gewesen. Dennoch vermochte es das Feuer im zugigen Kamin in der Regel nicht einmal, den Wasserkrug über Nacht aufzutauen. Es kam ohnehin nicht oft vor, dass Andrej sich genügend Holz leisten konnte, um die Glut bis zum Morgen am Leben zu halten. In der Nische zwischen Kamin und Seitenwand stand ein Bett, das Andrej zusammen mit dem Haus übernommen hatte; sein Vorgänger hatte ihm außerdem einen Tisch und eine vergammelte Ansammlung von Vexierkolben, Phiolen, Mörsern und Flaschen mit undefinierbarem Inhalt hinterlassen, die Andrej verkauft hatte, um sich zwei Stühle zu seinem Tisch leisten zu können. Er hätte auch nur einen Stuhl kaufen und damit einen Teil des Verkaufserlöses der Alchimistenküche sparen können, doch es war ihm erschienen, als sei er nicht ganz so allein, wenn wenigstens ein weiterer Stuhl im Haus war und andeutete, dass irgendwann vielleicht irgendjemand kommen und sich darauf niederlassen könnte. Sein Vorgänger hatte außerdem einen mysteriösen sternförmigen braunen Fleck an einer der mit sonstigen Flecken übersäten Wände hinterlassen, und Andrej wurde den Verdacht nicht los, dass sein Vorgänger gar nicht über Nacht gepackt und Prag verlassen hatte, sondern immer noch da war. Bis jetzt hatte Andrej es vermieden, dem Fleck mit Wasser und einem Lappen zu Leibe zu rücken; er war nicht scharf darauf, womöglich zu entdecken, dass der Fleck sich in rote Flüssigkeit auflöste. Er hatte den Tisch neben die Eingangstür unter das eine der beiden Fenster gerückt und die Stühle so daneben gestellt, dass sie einander gegenüber standen. Nach einigen Wochen war es Andrej leid geworden, den leeren Stuhl zu betrachten; er hatte seinen herumgedreht, so dass er zum Fenster hinausblicken konnte. Nicht, dass dort draußen etwas Interessanteres zu sehen gewesen wäre als der ständige Rauch und Nebel, die abblätternden Fassaden der Häuschenreihe gegenüber und gelegentlich eine Gestalt, die schnell über das Pflaster huschte. Jeder in der Goldmachergasse schien geduckt zu gehen und sich zu beeilen; das Verhalten der Bewohner trug dazu dabei, dass man sich in einem Reich wähnte, das nur halb real war und in denen die Lebenden mit den Geistern der Toten um die Wette spukten.

Halb real, dachte Andrej. Mehr ist es auch nicht. Alle hier leben von der Gnade des Kaisers – oder besser gesagt: von seiner Verrücktheit. Morgen kann es ihm einfallen, alles hier niederreißen zu lassen oder alle hilflos rätselnden Astronomen, ergebnislos forschenden Alchimisten, Unsinn schwätzenden Traumdeuter, fälschenden Raritätensammler und meine eigene jämmerliche Wenigkeit in Käfige zu stecken und im Hirschgarten aufzuhängen, um uns dort beim Verrotten zuzusehen. Er dachte an den Mann, den er heute wieder in seiner Sammlung aufgesucht hatte – das erste Mal nach Wochen der Abstinenz. In der warmen Jahreszeit gab es Wochen, in denen er dem Kaiser näher war und ihn öfter sah als jeder seiner Höflinge, einschließlich seiner Familie oder seiner seit Jahren einsam resignierenden spanischen Verlobten; nicht, dass diese Nähe dazu geführt hätte, dass Andrej seine Angst verlor, ganz im Gegenteil. An manchen Tagen sah er geradezu den Gefangenen, der im immer grotesker werdenden Körper des Kaisers steckte, aus den Gitterfenstern der wimpernverhangenen Augen spähen, sah er Rudolf von Habsburg, deformiert durch ein Leben der Unterdrückung, der erbarmungslosen Abrichtung, in Ketten gelegt durch die Reflexe der spanischen Hoferziehung und von Anfang missverstanden, ungeliebt, am falschen Ort, mit der falschen Aufgabe betraut. Und er sah die Verzweiflung, zu der der Geist des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs geronnen war, aus den wässrigen Pupillen starren. An diesen Tagen wartete Andrej darauf, dass sich das unförmige Monster, das vor ihm in den Kissen lag, plötzlich brüllend über ihn wälzen und ihn verschlingen würde; er brauchte alle seine Kraft, seine Stimme ruhig und sein Gesicht ausdruckslos bleiben zu lassen. Kaiser Rudolf war an drei Tagen von sieben vollkommen unzurechnungsfähig, aber mit der Schlauheit der Verrückten durchschaute er sofort, welche Gefühle sein Gegenüber beherrschten, wenn man sich nicht sehr vorsah. Andrej war nicht sicher, was der Kaiser, wenn er die Todesangst seines fabulator principatus gespürt hätte, getan hätte, und er wollte es nicht darauf ankommen lassen, es herauszufinden.

Kaiser Rudolf war heute nicht in seiner Sammlung gewesen, sondern hatte im Bett in seinem Schlafzimmer gelegen. Er schien friedlicher Stimmung gewesen zu sein, denn er hatte sogar seinem Leibarzt erlaubt, ihn zu untersuchen. Ein wochenlanger Anfall von völliger Ablehnung jedweder Körperhygiene war vor wenigen Tagen zu Ende gegangen, die Mägde hatten die Decken und die Bettvorhänge und die Teppiche verbrannt und dafür gesorgt, dass Ersatz kam, hatten die Fenster geöffnet und in einem zweitägigen Kampf den Sieg über den Gestank nach verfaulender Scheiße, gangränöser Haut, schwärenden Körperfalten und verkästen Geschlechtsteilen davongetragen, der zuvor in jedem Winkel des Palastes zu riechen gewesen war. Des Kaisers Schlafzimmer hatte geradezu frisch geduftet, als Andrej eingetreten war; mit nur einem leichten Oberton nach aufgebrühten Kräutern und Alkohol und einer weiteren Note, die kaum zu spüren war und sich nur dann bemerkbar machte, wenn man sich dem Bett des Kaisers näherte – etwas wie verbranntes Haar oder heiß gewordenes Horn, ein Duft, der sich eher in der Kehle als in der Nase bemerkbar machte und der einen zum Erbrechen reizen würde, wenn er stärker würde. Doktor Guarinoni behandelte Andrej mit äußerster Verachtung, aber da er allen und jedem außer seinem Patienten mit demselben monumentalen Ausmaß an Verachtung begegnete, fühlte Andrej sich in seiner Nähe fast wie in der Gegenwart eines Freundes. Der Arzt drückte Andrej einen gepichten Beutel in die Hand, der oben zugebunden war und sich eiskalt anfühlte.

„Seine Majestät klagen über Hitze und Schmerzen im Unterkiefer“, brummte Guarinoni. „Drücken Sie ihm das aufs Kinn, wenn er danach verlangt, aber passen Sie auf – zu großer Druck verursacht ihm ebenfalls Schmerzen.“

„Was fehlt ihm?“, raunte Andrej.

Der Arzt musterte ihn mit einem Blick, der besagte, dass es gleich war, wie einfach auch die Erklärung ausfiele, für ihn, Andrej, wäre sie Meilen außerhalb jeglichen Verständnisses. Andrej wusste, dass Bartholomäus Guarinoni alle möglichen Amphibien und Insekten sammelte und in alkoholgefüllten Flaschen aufbewahrte; er stellte sich vor, dass derselbe Blick einen Frosch traf, der die Kühnheit besaß, fragend zu quaken, während der Arzt sein konservierendes Grab vorbereitete.

„Etwas frisst seine Knochen auf“, sagte Guarinoni schließlich. Er hielt Andrej eine Hand unter die Nase. Von der Hand stieg der Geruch nach zerstörtem Horn auf, dessen Hauch auch in der Luft lag. Andrej prallte zurück. „Sie riechen nachher genauso, keine Sorge“, sagte Guarinoni. „Sie können den Kühlbeutel gar nicht mit so spitzen Fingern anfassen, dass ihnen der Gestank nicht in die Haut steigt. Sie müssen sich die Hände mit Asche abreiben, bis sie fast wund sind, um ihn abzubekommen. Viel Vergnügen beim Geschichtenerzählen – halten Sie die Luft an, wenn er Sie bittet, ihm ins Ohr zu flüstern.“ Der Arzt lächelte kalt und marschierte hinaus.

Danach hatte Andrej zum hundertsten Mal die Geschichte erzählt, wie sein Vater einem Buch nachgejagt war, das die Weisheit des Teufels enthielt und das ihn und seine Frau das Leben gekostet hatte, während ihr kleiner Sohn nur durch eine glückliche Fügung entkommen war, und fragte sich dabei zum tausendsten Mal, ob es dem Kaiser nicht einmal in den Sinn kam, dass es seinen Ersten Geschichtenerzähler schmerzte zu berichten, wie er zur Vollwaise geworden war.

Und jetzt saß er wieder in seiner winzigen Kerkerzelle von Haus, starrte in den trägen Tanz der Rauchschwaden und fror, ein weiterer Tag in der Kette aus stumm schreiender Qual, Einsamkeit und Langeweile, zu der sich sein Leben reihte. Es gab Gelegenheiten, da hätte er sich am liebsten mitten in die Gasse gestellt, die Ohren zugehalten, Mund und Augen aufgerissen und geschrieen, geschrieen, geschrieen, bis ihm die Halsschlagader platzte oder das Herz stillstand. Der Kaiser hatte kein einziges Wort gesprochen, hatte nur dagelegen mit halb offen stehendem Mund, hatte aus dem Mundwinkel gesabbert und ab und zu ein Geräusch gemacht, das ein Stöhnen hätte sein können. Andrejs Hand war halb erstorben, während sie den Eisbeutel hielt, und er hatte die ganze Zeit über so flach geatmet, dass er fast zu ersticken meinte, obwohl der Geruch auch in unmittelbarer Nähe des Kaisers nicht schlimmer war als direkt bei der Tür. Nachdem er die Schlafkammer verlassen hatte, hatte er vorsichtig an seiner Hand geschnuppert. Sie hatte keinerlei Geruch angenommen. Der Arzt hatte ihn angelogen, oder er hatte seinen Patienten mutiger angefasst als Andrej es gewagt hatte und daher mehr von dem Duft in seine eigene Haut gerieben. Mit dem Gefühl, einmal mehr der Trottel gewesen zu sein, war Andrej nach Hause geschlurft.

Unvermittelt ging ihm auf, dass die Schritte, die er vor einer kleinen Weile vom Palast her kommen gehört hatte, seine Tür nicht passiert hatten. Er hatte auch keine der Türen in den nächsten beiden Nachbarhäusern gehört, aus denen die Geräusche bis in sein eigenes Domizil trugen. Schlagartig brach ihm der Schweiß aus. Das war der Augenblick, den er gefürchtet hatte seit dem Tag, an dem Oberstlandrichter Lobkowicz ihn aus Giovanni Scotos Hütte hatte schleppen lassen: Kaiser Rudolf hatte entweder das Interesse an ihm und seiner Geschichte verloren, oder er war gestorben. In jedem Fall hatte er ihn der Gnade der Schakale überlassen, die Andrej dafür hassten, dass sein Aufstieg am Hof nicht über jahrzehntelanges Buckeln erfolgt war, und die jetzt das Urteil an ihm vollzogen, das seit damals nur aufgeschoben war: an eine Leiter gebunden über den Köpfen des Volkes zu schweben und dem Henker dabei zuzusehen, wie er einem die Bauchdecke aufschlitzte, einen Haken in das Gewickel der Därme steckte und dann an der Winde drehte, mit der der Haken über eine Schlachterkette verbunden war. Andrej saß starr. In seinen Ohren rauschte das Blut, als höre er bereits sein eigenes wahnwitziges Schmerzgebrüll.

Das Pochen an der Tür ließ ihn auffahren. Die Instinkte gewannen die Oberhand über ihn. Er stieß den Stuhl um, krabbelte über den Tisch und riss wie verrückt an den Fensterflügeln. Der Krug hüpfte über den Tisch, machte einen vollendeten Salto und krachte auf den Boden; das Wasser spritzte auf, die Eisschicht rollte als fingerdicke Scheibe zum Kamin und fiel dort graziös auf die Seite.

Die Fenster waren eingefroren. Andrej zerrte daran, dass der Tisch auf seinen vier Beinen zu scharren begann und der zweite Stuhl umstürzte. Die Eingangstür öffnete sich; Andrej stöhnte in blinder Panik und sprang auf, stand breitbeinig und halb gebückt auf seinem Tisch und spannte die Arme, um die Fensterstöcke aus der Wand zu reißen. Nichts wie hinaus! Dass er – weil seine einzigen beiden Fenster auf die Gasse hinausführten – lediglich seinen Häschern in die Arme fliehen würde, kam ihm nicht in den Sinn. Die Fenster klemmten immer noch und widersetzten sich allen seinen Kräften.

„AaaaaahgottverfluchteschweineBIESTER!“, kreischte Andrej.

Er merkte, dass jemand hereingekommen war. Aus, dachte er. Aus dem Augenwinkel glaubte er den weißen Schopf von Oberstlandrichter Lobkowicz und die sonnenverfinsternde Gestalt von Reichsbaron Rozmberka zu sehen, ein halbes Dutzend Soldaten hinter ihnen. Seine Hände verloren alle Kraft; plötzlich musste er sich an den Fensterflügeln festhalten, anstatt sie aufzureißen. Er drehte den Kopf und spähte über seine Schulter.

In der immer noch offenen Tür stand eine schmale Gestalt mit einer pelzverbrämten Kapuze über dem Kopf und einem langen, farbenprächtigen Mantel, der auf dem Boden aufstand. Die Gestalt war allein. Sie hob die Hände und nahm die Kapuze ab. Die Gestalt war eine junge Frau mit schmalem, herzförmigem Gesicht, einer geraden Nase, großen Augen und starken, kühn geschwungenen Brauen. Ihr Haar war nach der spanischen Mode streng zurückgekämmt und nach oben gestrichen, wo ein kleiner Hut versuchte, es festzuhalten. Eine Locke hatte sich befreit und fiel ihr dunkelblond in die Stirn. Sie sah zu Andrej nach oben und begann plötzlich zu lächeln.

„Äh …“, sagte Andrej. Er wurde sich bewusst, dass er in geduckter Haltung wie ein Ringer auf seinem Tisch stand und die Griffe an den Fensterflügeln umklammert hielt, dass die Stühle wie gefallene Gegner im Raum lagen und dass das Wasser in den Scherben des Krugs sich mit einer Eisschicht zu überziehen begann. Er ließ die Griffe los und gestikulierte hilflos zum Fenster.

„Klemmt es?“, fragte die unbekannte junge Frau.

Andrejs Hände flatterten zum Fensterkreuz und waren absolut unbrauchbar für die Suche nach einer vernünftigen Antwort. Sie sah zu ihm auf, und ihr Lächeln wurde immer breiter. Andrej wusste nicht, was ihn mehr sprachlos machte: dass es nicht Lobkowicz und Rozmberka waren, dass sich zum ersten Mal überhaupt jemand in sein Haus verirrte oder dass er ausgerechnet zu diesem Anlass wie eine storchenbeinige Vogelscheuche auf dem Tisch stand und sich so eloquent gab wie ein Stück Brot. Er merkte, dass er immer noch in den Knien federte, richtete sich abrupt auf und knallte mit dem Kopf gegen die Decke. Seine Besucherin begann nun zu lachen.

„Wenn Sie das immer tun, um Ihre Besucher zu erheitern, hoffe ich für Ihre Gesundheit, dass Sie nicht oft besucht werden“, sagte sie.

Andrej, der sich den Kopf rieb, angelte mit der anderen Hand nach Halt und erwischte den Fenstergriff. Er drehte sich, und das Fenster ging ohne Schwierigkeiten auf. Nach außen. Im letzten Augenblick hielt sich Andrej an einem Deckenbalken fest. Seine Besucherin schlug die Hände vors Gesicht und lachte, dass ihr die Tränen kamen. Der Instinkt tief in Andrejs Innerem erkannte, dass mit der Rückkehr des Kameraden Vernunft so bald nicht zu rechnen war, und übernahm das Kommando. Andrej kletterte steifbeinig vom Tisch und blieb dann vor ihr stehen. Sie reichte ihm kaum bis zum Brustbein und sah selbst in der ausladenden spanischen Tracht jung und zart aus.

„Ähem“, sagte er.

Sie hörte zu lachen auf. Andrej schluckte. Ihre Mundwinkel tanzten verräterisch, aber sie blieb ernst.

„Wollten Sie zum Fenster hinaus?“, fragte sie.

„Nein, ich … nur ein bisschen frische Luft hereinlassen …“

„Mir scheint, hier drin ist es kälter als draußen.“

„Ah …“

„Es sah wie ein Ringkampf aus. Wollten Sie die Fensterflügel aufziehen? Sie öffnen sich nach draußen, wie die Tür.“

„Gestern noch nicht“, sagte Andrej mit einem letzten Rest von Geistesgegenwart.

Sie lachte erneut. Es war so verblüffend, dieses Geräusch hier in diesem kalten Grab von einem Haus zu hören, dass Andrej blinzelte.

„Lachen Sie doch auch“, sagte sie schließlich. „Ich lache Sie ja nicht aus, sondern wegen Ihnen.“

„Na ja“, sagte Andrej. Das Lächeln wollte ihm nicht gelingen. Er starrte wie ein Tölpel in ihr Gesicht, ihre Augen, starrte ihre Brauen an, die amüsiert über ihre Stirn zuckten und sich an den äußeren Ecken sacht nach oben wanden wie die Flügel einer Möwe.

„Sind Sie Andrej von Langenfels?“

„Ja“, sagte er hastig, nachdem er gemerkt hatte, dass er eine volle Sekunde lang keine Antwort auf ihre Frage gegeben, sondern sie nur mit gefurchter Stirn angegafft hatte. „Ja. Bin ich.“

Sie reichte ihm eine Hand in einem hellen Lederhandschuh, und er ergriff sie und schwang sie wie einen Pumpenschwengel, bis ihm etwas ins Ohr flüsterte, dass man es mit Damen anders machte. Daraufhin beugte er sich nach vorn, um einen Kuss auf den Handrücken zu drücken, und knallte mit der Stirn gegen ihren Scheitel. Sie taumelte, aber noch im Taumeln lachte sie.

„Um Gottes willen!“ Andrej fuhrwerkte im Raum herum, stellte einen Stuhl auf, schob ihn ihr förmlich unter den Hintern, so dass sie darauf niederplumpste, und irrte dann auf der Suche nach dem Wasserkrug umher, bis er in die Scherben trat.

„Ich habe das Gefühl, seit Jahren nicht so gelacht zu haben“, sagte sie außer Atem und rieb sich die Stelle, wo Andrej sie getroffen hatte.

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht … Es tut mir so schrecklich Leid … Ich habe … Ich bin sonst …“ Andrej verstummte und seufzte. Plötzlich gab er sich einen Ruck, fischte den zweiten Stuhl vom Boden auf, schob ihn unter den Tisch, trat einen Schritt zurück und machte eine Verbeugung wie die, die er im Ballsaal gesehen hatte.

„Ich bin Andrej von Langenfels. Wie kann ich Ihnen dienen?“

Sie lächelte ihn weiterhin an, doch dann begann das Lächeln zu verblassen. Bestürzt erkannte Andrej, dass Tränen in ihre Augen stiegen.

„Sie können mir sagen, was aus meiner Mutter geworden ist“, sagte sie und schluckte.

„Wie könnte ich das tun?“, fragte Andrej.

„Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch. Sie sind … Ich muss unbedingt … Nein, ich muss anders anfangen.“

Sie fischte in ihrem Mantel und holte ein kleines Kästchen hervor. Als sie es aufklappte, sah Andrej darin einen Siegelring liegen, der um zwei ihrer Finger passen musste. Das Siegel war eine komplizierte Angelegenheit aus inversen Schnörkeln und Runen. Er sah seine Besucherin ratlos an. Sie klappte das Kästchen zu und steckte es weg.

„Ich bin Jarmila Anděl“, sagte sie. „Mein Urgroßvater war Achylles Anděl aus Opotcno.“

Andrej zuckte mit den Schultern.

„Sie kennen meine Familie nicht. Ist auch kein Wunder …“. Die junge Frau machte ein finsteres Gesicht. „Wir waren die Grundherren über Opotcno und Olessna, aber mein Urgroßvater hat sich so verschuldet, dass er vor fast siebzig Jahren alles für ein paar Kopeken verkaufte. Seitdem sind wir verarmt …“

Andrej bemühte sich vergeblich, ihr zu folgen. Sie schien es ihm anzumerken, denn sie schüttelte sich. Gleichzeitig zog sie den Mantel enger um die Schultern. Sie nestelte umständlich einen Handschuh von den Fingern und fuhr damit über die Tischplatte. „Sagen Sie, diese Geschichte … stimmt sie wirklich?“

„Welche Geschichte?“

„Die Seine Majestät der Kaiser ständig von Ihnen hören will?“

Andrej lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Misstrauen machte seine Stimme rau. „Woher wissen Sie davon?“

„Ich hab es schon wieder falsch angefangen“, erklärte sie mit gesenktem Blick. „Es tut mir Leid – ich bin so aufgeregt und so ungeschickt …“

„Diese Geschichte kennen nicht viele Leute“, sagte Andrej.

„Mehr, als Sie denken. Sie ist sogar bis zu mir gedrungen.“

„Bis nach Olessna?“

„Wir leben nicht mehr in Olessna, seit meine Familie dort alles verloren hat. Ich genieße die Gnade einer entfernten Tante, die Besitz in der Nähe Prags hat.“

„Sie allein? Was ist mit Ihren Eltern?“

„Sehen Sie, ich habe das vollkommen falsch angepackt. Darf ich noch mal anfangen?“

Andrej machte eine hilflose Geste. „Bitte!“

„Aber … Herr Langenfels … entschuldigen Sie, ich will nicht unhöflich sein, und vielleicht bin ich nur verweichlicht, aber … es ist bitterkalt bei Ihnen. Ich erfriere.“

„Warten Sie, ich mache ein Feuer …“ Sie sahen beide zu der Ecke neben dem Kamin, wo zwei, drei dünne Äste lagen. „Äh …“

„Darf ich Sie in mein Haus einladen? Keine Sorge, es ist schicklich. Ich habe Dienerschaft.“

„In das Haus Ihrer … Tante?“

Sie lachte plötzlich. „Nein, das wäre zu weit außerhalb. Meine Großtante hat mir zugestimmt, als ich ihr sagte, ich hätte von Ihnen gehört und wollte versuchen, das Schicksal meiner Mutter zu klären. Sie hat mir eine kleine Apanage gegeben, damit ich für ein paar Wochen ein Haus hier in Prag mieten kann. Es ist auf der Kleinseite, nicht weit vom Hradschin.“

„Das Schicksal Ihrer Mutter?“

Jarmila stand auf und zog den Handschuh wieder an. „Kommen Sie“, sagte sie kurz entschlossen. „Mein Wagen wartet im ersten Burghof. Ich lasse Sie wieder hierher zurückfahren, machen Sie sich keine Sorgen über den Rückweg.“

„Sie haben einen Wagen?“

„Meine Großtante hat ihn mir geliehen.“

„Ich folge Ihnen mit Vergnügen, Gnädigste“, sagte Andrej.

Auf dem Kutschbock saßen zwei vermummte Gestalten und würdigten Andrej keines Blickes. Jarmila kletterte in den Wagen und winkte Andrej, ihr zu folgen.

Im Inneren des Gefährts war es stickig kalt und roch nach altem, muffig gewordenem Leder. Sie zog an einer Schnur, und von draußen ertönte der Befehl des Wagenlenkers an die beiden Pferde. Das Fahrzeug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und holperte über das bucklige Pflaster des ersten Burghofs. Andrej rückte vom Fenster ab.

„Wir können die Vorhänge nicht zuziehen“, sagte Jarmila. „Jedenfalls nicht, wenn wir nur zu zweit hier sind. Es schickt sich nicht.“

„Keine Sorge“, sagte Andrej und kauerte sich in seinen dünnen Mantel. Jarmila saß ihm gegenüber und musterte ihn.

„Ich bedauere, dass ich Sie so aus Ihrem Tag gerissen habe und alles … Ich bin sehr selbstsüchtig.“

„Ein bisschen Pause kann nicht schaden bei all der Arbeit, die ich zu Hause habe“, sagte Andrej.

„Oh, das tut mir so Leid … Es hatte nicht so ausgehen, und daher dachte ich … Sie hätten jederzeit ablehnen können, wissen Sie …“

„Es war ironisch gemeint“, sagte Andrej und lächelte.

Sie blinzelte verwirrt, dann erwiderte sie sein Lächeln. „Oh. Na gut.“

„Wieso haben Sie zwei Lenker auf dem Bock? Fürchten Sie einen Überfall – hier in den Gassen der Stadt?“

„Ich weiß nicht – muss ich einen fürchten?“

„Wenn Sie bestimmte Viertel während der Nachtzeit meiden, dann nicht.“

„Welche Viertel wären das?“

„Alle.“

Sie starrte ihn an. Andrej fühlte sich leicht im Kopf. Er konnte nicht aufhören zu lächeln.

„Das war wieder Ironie“, sagte sie.

„Nein.“

„Sie wollen mir Angst machen. Ich bin erst seit kurzem hier in der Stadt.“

„Angst würde ich Ihnen machen, wenn ich Ihnen sagte, dass man bestimmte Viertel auch bei Tag meiden sollte.“

Ihre Augen waren groß. „Und – muss man das?“

„Natürlich“, sagte er und lachte. Sie lachte ebenfalls, obwohl sich auf ihrer Stirn eine Falte zeigte.

„Alle?“, fragte sie.

„Fast.“

„Wie gut, dass ich Sie bei mir habe.“

„Ich fürchte, ich wäre kein großer Kämpfer.“

„Nein, ich meine zum Abwerfen von Ballast. Wenn ich Sie aus dem Wagen stoße, können wir viel schneller fliehen.“

Andrejs Mund blieb offen. Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Jetzt sind wir quitt.“

„Äh …“

„Mit Ihnen kann man lachen“, sagte sie. „Das ist schön.“

„Wozu ist dann der zweite Mann auf dem Bock?“

„Beachten Sie ihn gar nicht. Meine Großtante hat ihn mir aufgedrängt. Es ist unser Hauskaplan. Er ist sehr griesgrämig und würde bestimmt versuchen, Sie zu einem Leben in Askese und Kasteiung zu überreden.“

Darin bin ich ohnehin Experte, dachte Andrej. In Gegenwart Jarmilas hatte der Gedanke jedoch keinen Stachel. Obwohl der Wagen holperte und es erbärmlich durch die offenen Fenstern zog, fühlte er sich beinahe wohl. Wir haben hier aber keine phantastischen Hoffnungen, oder?, fragte er sich. Andrej lächelte in sich hinein. Nein, antwortete er sich selbst. Sie ist einfach nur ein anderer Mensch, der nicht aus meiner Gegenwart flieht. Halt den Mund und genieße es.

„Wir könnten ihn über Bord werfen, wenn wir verfolgt werden“, sagte Andrej.

„Man würde ihn uns zurückwerfen“, sagte sie.

Sie sahen sich an. Beide platzten heraus.

Der Wagen rollte in der einsetzenden Dämmerung den steilen Weg vom Hradschin hinunter. Die Pferde scheuten und schnaubten vor jeder der steilen Kehren. Aus dem Inneren des Verschlags drang das helle Lachen zweier junger Menschen. Die beiden vermummten Gestalten auf dem Bock bewegten sich nicht. Angesichts der Fröhlichkeit im Wageninneren schienen Düsterkeit und Kälte draußen noch schlimmer zu werden, als gönnten sie den Insassen drinnen nicht, dass das Lachen sie für ein paar kostbare Momente in Licht und Wärme hüllte.

Jarmila Anděl hatte übertrieben, was das Personal anging. Außer dem Wagenlenker, der mit seinem Gefährt verwachsen oder zumindest auf und in ihm zu leben schien, gab es noch eine rundliche, kühle ältere Frau und den Hauskaplan, der ein magerer Vogel war und sich wortlos in die entfernteste Ecke des kleinen Saals setzte, der das Obergeschoss von Jarmilas Haus bildete. Im Gegensatz zu Andrejs Behausung brannte hier ein Feuer im Kamin. Obwohl es noch immer so kalt war, dass man den Mantel ohne weiteres anbehalten konnte, schien es Andrej im Vergleich doch mollig warm. Er sah sich unschlüssig um.

„Ich lasse gewärmten Wein kommen“, sagte Jarmila. „Der wird uns wieder auftauen.“

Andrej nickte. Auf der Herfahrt hatte er sich ihr seltsam nahe gefühlt; jetzt, in ihrem Haus, war er beklommen. Jarmila schien es zu spüren. Sie stand einen Augenblick verloren im Raum, dann nahm sie kurz entschlossen einen der Hocker und schob ihn Andrej hin. Sie bückte sich zu einer zweiten Sitzgelegenheit.

„Schieben wir sie vor das Feuer“, sagte sie.

Als die Wärme der Flammen auf Andrejs Wangen brannte, konzentrierte er sich auf sein Gegenüber. Jarmilas Gesicht glühte im Feuerschein, in ihren Augen tanzte Gold. Sie hatte den Mantel von ihren Schultern gleiten lassen und saß jetzt in ihrem steifen spanischen Oberteil und ihrem ausladenden Rock da wie eine Puppe. Die Eisen- und Fischbeinstäbe ihres Korsetts pressten ihren Oberkörper in eine knabenhafte Form; die Taille wirkte, als könnte Andrej sie mit beiden Händen umfassen. Statt der Halskrause trug sie einen links und rechts hoch ausgestellten Kragen, vom dem Andrej zuerst gedacht hatte, er gehöre zu ihrem Mantel. Wenn sie sich bewegte, knarrte ständig etwas an ihr. Verglichen mit den Lagen Stoff, die sie trug, fühlte Andrej sich beinahe nackt. Sie fing seinen Blick auf und errötete noch mehr. Unwillkürlich zog sie die Beine enger an den Leib und verschränkte die Hände im Schoß.

„Dieses Kleid macht mich hässlich“, flüsterte sie.

„Nichts könnte Sie hässlich machen“, flüsterte er zurück.

Sie lächelte flüchtig und starrte dann ins Feuer. Ihre Blicke trafen sich erst wieder, als der Wein gebracht war und sie sich zutranken. Der Wein war schwer von Gewürz, und die alte Frau schien dem Wasser hier mitten in der Stadt zu misstrauen, denn sie hatte den Wein ohne Verdünnung erwärmt. Hitze stieg in Andrejs Magen auf wie eine Sonne. Er stellte den Becher vorsichtig ab.

„Was wollen Sie mir erzählen?“, fragte er.

Sie zögerte und nestelte an der Verschnürung ihres Oberkleids. „Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben“, sagte sie schließlich zögernd. „Bis dahin lebte ich im Glauben, dass meine Mutter an einer Krankheit starb, als ich noch ein Säugling war. Mein Vater erzählte mir auf dem Totenbett, dass das eine Lüge gewesen war.“ Ohne Vorwarnung stiegen Tränen in ihre Augen. „Verstehen Sie – er hat mich so sehr geliebt, dass er nicht wollte, dass ich meine Tage mit dem Rätseln über ihren Tod zubrachte. Daher log er mich an – aus Liebe.“

Andrej räusperte sich. Sie brauchte kurze Zeit, bis sie sich beruhigt hatte. Aus dem Augenwinkel nahm Andrej wahr, dass der Kaplan den Kopf hob und zu ihnen herüberspähte, sich dann aber wieder in die Bibel vertiefte, die vor ihm lag.

„Sind Sie protestantisch oder katholisch?“, fragte Jarmila.

Andrej zuckte mit den Schultern. „Ich habe an Konfessionsfragen kein Interesse.“

„Sie müssen sich für eine Seite bekennen.“

„Vor Ihnen?“

„Vor Gott.“

„Glauben Sie wirklich, dass Gott sich für Konfessionen interessiert?“

„Meine Familie war immer katholisch“, sagte Jarmila leise. „Aber nach dem, was mein Vater mir erzählte, dachte meine Mutter wie Sie. Wir hatten zwar unser Vermögen verloren, aber in der ganzen Gegend nordöstlich von Prag hatte unser Name noch lange danach einen guten Klang. Meine Mutter nutzte diesen Namen, um sich für die Verständigung zwischen Katholiken und Protestanten einzusetzen. Sie gewann viele Damen von Stand für ihre Pläne und reiste mit ihnen alle bekannten Klöster ab, um mit den Äbten und Prioren zu sprechen und um Unterstützung für die Familien zu bitten, die in Not geraten waren – es waren vor allem die Kinder, die ihr am Herzen lagen, deren Eltern umgekommen oder ermordet worden waren. Mein Vater hat gesagt, dass sie immer erklärte, für Kinder gebe es keine Konfession und kein Ketzertum, sondern nur die Reinheit ihrer Seelen, die Gott so geschaffen hat.“

Andrej spürte, wie eine Saite in ihm anschlug. Er bemühte sich, den Schmerz zu unterdrücken, den ihre Worte in ihm geweckt hatten. Für Kinder gab es nur die Reinheit ihrer Seelen und die Allmacht ihrer Liebe zu den Menschen, zu denen sie gehörten. Diese Macht war für keinen stärker zu spüren als für den, der alle diese Menschen verloren hatte. Er blickte in ihre vor Tränen schwimmenden Augen und ahnte, dass auch seine Augen feucht waren. Was das Schicksal betraf, waren Sie sich ähnlich: wem immer ihrer beider Liebe gegolten hatte, sie waren alle tot.

„Meine Mutter kehrte im Herbst nicht mehr zurück“, sagte Jarmila. „Im Herbst des Jahres, in dem das grässliche Massaker an den Hugenotten in Paris stattfand. Sie war mit einer Gruppe von fast einem Dutzend anderer Frauen unterwegs gewesen. Einige der Frauen hatten Kinder dabei, eigene oder Waisen, die sie angenommen hatten. Mein Vater wartete auf sie bis kurz vor Weihnachten, dann wusste er, dass etwas passiert war. Ich denke, ich war noch zu klein – ich war kaum ein Jahr alt –, doch mein Vater sagte, auch ich hätte gewartet. Als die Wege im Frühjahr wieder passierbar waren, suchte mein Vater nach ihr. Er fand nichts – keine Spuren, keine Gerüchte, gar nichts, weder von ihr noch von den anderen Frauen. Als ich alt genug war, um halbwegs zu verstehen, erklärte mein Vater mir, meine Mutter sei an einer Krankheit gestorben. In Wahrheit ist meine Mutter jedoch verschwunden. Sie ist vor zwanzig Jahren verschwunden, und … und …“ Jarmila krümmte sich zusammen und schluchzte laut. Andrej versuchte um den Schmerz in seiner Kehle herumzureden und brachte kein Wort heraus. Er streckte eine Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren, doch er wagte nicht, sie anzufassen. Plötzlich ergriff sie blind seine Hand mit Fingern, die nass waren von ihren Tränen, umklammerte sie und drückte sie.

Der Kaplan sah auf und starrte zu ihnen herüber. Andrej verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Der Kaplan zeigte keine Regung, doch er kehrte auch nicht mehr zu seiner Lektüre zurück. Durch den ganzen Raum von ihnen getrennt, beobachtete er sie. Er bot kein Wort des Trostes oder wenigstens des Verständnisses an. Andrej spürte, wie tiefe Verachtung für den spröden Mann in ihm aufstieg.

„… seit zwanzig Jahren“, schluchzte Jarmila. „Und jetzt erfahre ich von Ihnen und Ihrer Geschichte … dieser schrecklichen Geschichte, wie Sie Ihre Eltern verloren haben … Und ich habe … und ich dachte … und ich sagte mir …“

„Und jetzt denken Sie, meine Geschichte ist die Lösung für die Ihre – dass es Ihre Mutter und Ihre Begleiterinnen waren, deren Sterben ich gesehen habe und denen auch mein Vater und meine Mutter in den Tod gefolgt sind.“

Sie nickte.

„Wissen Sie“, sagte er, „wissen Sie, dass auch für mich meine Eltern verschwunden sind seit jenem Tag? Ich weiß, dass sie gestorben sind, aber ich habe es nie gesehen. Meine Mutter war ein Schatten unter Schatten, und meinen Vater habe ich zuletzt gesehen, als er in ein baufälliges Klostergebäude trat mit seinem üblichen beschwingten Schritt, als sei die Welt ein Obstbaum und er brauche ihn nur zu schütteln …“

Ihre Hand drückte noch fester zu. Dann zog sie die seine zu sich heran, drückte sie an ihre Wange und umklammerte sie mit beiden Händen. Andrej spürte ihren Atem auf seiner Haut, die Nässe ihrer Wangen, die Tränen, die auf seinen Handrücken liefen. Er schluckte und wusste nicht, was er hätte sagen sollen, ahnte zugleich, dass es ihr ging wie ihm: es gab nichts, das ein Außenstehender zu diesem Schmerz hätte sagen können.

Als er aufsah, stand der Kaplan neben ihnen.

„Es ist spät“, sagte er. „Du musst gehen, mein Sohn.“

Andrej gestikulierte hilflos und wütend zugleich mit der freien Hand. „Ich kann sie doch nicht jetzt allein lassen“, sagte er.

„Es gibt nichts, was du für sie tun kannst, mein Sohn“, sagte der Kaplan.

„Wir könnten gemeinsam versuchen herauszufinden, wo das Kloster liegt, in dem ihre Mutter und meine Eltern umkamen!“, stieß Andrej hervor. „Ich war dort – ich weiß nur nicht, wo ich war.“

„Gute Nacht, mein Sohn“, sagte der Kaplan und starrte ihn an.

Andrej spürte, wie Jarmila ihren Griff löste. Er wandte den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war nass, ihre Schminke zerlaufen und ihre Nase und Wangen rot und geschwollen. Er atmete unwillkürlich ein, als er erkannte, wie schön sie in Wahrheit war, und die Schwingungen von Verlust, Schmerz und Angst, die von ihr ausgingen, trafen ihn über ihre äußere Schönheit hinweg.

„Ich komme zurecht“, sagte sie und ließ seine Hand los. „Der Schmerz ist immer noch …“ Sie schluckte und räusperte sich. „Hochwürden kennt das schon, nicht wahr?“

Der Kaplan neigte stumm den Kopf.

„Sie müssen gehen, Andrej“, sagte sie.

„Ich bringe dich hinaus, mein Sohn“, sagte der Kaplan.

Verwirrt stand Andrej auf und folgte dem mageren Kirchenmann. Als er schon fast durch die Tür war, fielen ihm seine Manieren ein, und er drehte sich um. Jarmila saß auf dem Hocker neben dem Feuer, ein Häuflein Elend in einem prachtvollen Kleid wie ein Panzer, und sah ihm hinterher. Er verbeugte sich. Sie lächelte flüchtig.

„Hier entlang“, sagte der Kaplan.

Der Wagenlenker saß auf dem Bock, als hätte er sich nie davon wegbewegt. Er gab mit keiner Regung zu verstehen, dass er Andrej wiedererkannte oder was er davon hielt, noch einmal eine Fahrt durch Nacht und Kälte zum Hradschin hinauf unternehmen zu müssen.

„Mein Schützling macht sich große Hoffnungen“, sagte der Kaplan, als Andrej sich zu ihm umdrehte, um sich zu verabschieden.

„Vielleicht kann ich ihr helfen. Ihr und mir selbst“, flüsterte Andrej.

„Geh mit Gott, mein Sohn“, sagte der Kaplan. Zu Andrejs Überraschung verschwand er ohne ein weiteres Wort im Inneren des dunklen Hauses.

Andrej kletterte in die Kutsche. Er war so aufgewühlt und durcheinander, dass er die Kälte in ihrem Inneren nicht empfand. Der Wagen schaukelte, als er sich auf die Lederbank plumpsen ließ. Unwillkürlich spannte er die Muskeln an und erwartete den Ruck, mit dem der Lenker losfahren würde, doch sie bewegte sich nicht. Ratlos wartete er ein paar Sekunden ab. Hatte der Mann auf dem Bock vergessen, wohin er ihn bringen musste? Er lehnte sich aus dem offenen Fenster.

„Was ist los?“, fragte er halblaut.

Der dunkle Umriss des Wagenlenkers beugte sich zu ihm herunter und deutete mit einem Daumen. Andrej folgte dem Fingerzeig.

Im Obergeschoss war ein Fenster geöffnet; der rechteckige Umriss flackerte und zitterte rot von seiner einzigen Beleuchtung, dem Feuer im Kamin. Andrej konnte erkennen, dass Jarmila sich aus dem Fenster lehnte. Ihre Blicke trafen sich.

Jarmila legte einen Finger auf die Lippen und winkte mit der anderen Hand.

Andrej öffnete den Verschlag wie im Traum und kletterte heraus.

Er war kaum auf dem Boden der Gasse angekommen, als der Wagen mit Kettengeklirr und Hufgeklapper anfuhr. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ließ der Lenker die Zügel auf die Rücken der Pferde knallen. Andrej starrte ihm nach. Der Wagen schlug die Richtung zum Hradschin ein.

Er sah wieder nach oben. Jarmila blickte reglos zu ihm herab. Er glaubte zu sehen, dass sich eine weitere Locke aus ihrem Schopf gelöst hatte und in der Zugluft tanzte. Er schluckte, doch sein Herz machte einen Sprung und pochte bis in seine Fingerspitzen, als er die Treppe hinauf rannte.

Seit den Tagen seiner Gassenexistenz war Andrej es gewöhnt, für alles zu bezahlen. Er hatte beim Bettlerkönig dafür bezahlen müssen, dass dieser ihn in seine Kolonnen schmuggelte und nicht den Behörden anzeigte; die Bezahlung hatte darin bestanden, dass er alles, was er ergattert hatte, zu hundert Prozent hatte abliefern müssen anstatt die Hälfte behalten zu dürfen, und dass von der Gnade des Bettlerkönigs abhing, was dieser ihm zurückgab, um ihm das Überleben zu ermöglichen. Er hatte bei den anderen Gassenkindern dafür bezahlen müssen, dass sie ihn in ihre Mitte aufnahmen; auch hier hatte die Bezahlung aus einer Art Zehnt des von ihm Erbettelten bestanden, der nicht weniger wucherisch war als der des Bettlerkönigs.

Mit den Jahren hatte sich sowohl die Art der Schuld als auch die der Bezahlung geändert. Der Bettlerkönig gab sich mit der Hälfte aller Einnahmen zufrieden, nachdem Andrej sich als zuverlässiges Mitglied der Bettlergemeinde erwiesen hatte; unter seinen Kameraden ging es jedoch bald um die Hierarchie. Es gab Orte, an denen das Betteln sich lohnte, und andere, an denen man gezwungen war, zusätzlich zu stehlen, um über die Runden zu kommen. Die älteren und stärkeren Jungen besaßen das Platzrecht über erstere, waren aber für Gegenleistungen bereit, einem minderen Mitglied des Rattenpacks den Ort für einen halben Tag zu überlassen. Nachdem sich Andrej zum ersten Mal mit einem der halbwüchsigen Jungen in eine der fast nachtdunklen Brandgassen zwischen den Häusern gezwängt hatte und sich dort in der stinkenden Finsternis auf gänzlich unbekannte und Abscheu verursachende Art hatte berühren lassen; nachdem er den gezischten Anweisungen seines jugendlichen Herrn und Meisters gefolgt war und seinerseits gekniffen und gerieben hatte; nachdem er hart mit dem Gesicht gegen die Wand gedrängt und ihm die Beinlinge bis zu den Knien herabgezogen worden waren; nachdem er etwas Hartes und Heißes zwischen die Beine geschoben bekommen hatte und ihn plötzlich der Schmerz durchzuckt hatte, als das Harte und Heiße versuchte, in ihn einzudringen; nachdem unvermittelt zähe warme Flüssigkeit an ihm heruntergelaufen war und ein schwerer Körper sich stöhnend und keuchend an ihn lehnte – nach all dem und nachdem sein Bezwinger ihn allein gelassen hatte, hatte er sich in Kot und Abfällen auf dem Boden der Brandgasse zusammengerollt und geweint und nicht imstande gefühlt, auch nur eine Minute der so teuer erkauften Zeit zu nutzen. Doch schließlich besiegte der Hunger die Erinnerung an den Ekel, und er trieb sich mit verbissenem Gesicht in dem ihm zugewiesenen Quadranten herum und erzielte die höchste Einnahme seines bisherigen Bettlerlebens.

Danach versuchte er nur noch einmal, die ihm rangmäßig zustehenden Plätze zu verlassen. Auf der Suche nach einem der älteren Jungen gelangte er zu einer anderen Brandgasse und folgte den Geräuschen, die um eine kleine Biegung in dem engen Gassenschlauch drangen. Unter einem Abtritt, aus dessen unterer Öffnung halbtrockene Kotstalaktiten hingen, erweiterte sich die Brandgasse, und er sah den Jungen, den er gesucht hatte. Seine Beinkleider ringelten sich um seine Knöchel, er kniete auf dem schmierigen Boden und hatte den Mund auf den Schoß eines Mannes gepresst. Der Mann hatte die Finger in das Haar des Jungen verkrallt und stöhnte und keuchte genauso, wie Andrej ein paar Monate zuvor in die Ohren gestöhnt und gekeucht worden war. Dem Jungen auf dem Boden liefen die Tränen aus den Augen, während er versuchte, nicht zu ersticken. Keiner der beiden sah ihn, und Andrej schlich wieder zurück. Er hatte den Mann gekannt – es war einer der Ratsherren gewesen, in dessen Zuständigkeit die Bettler lagen.

Noch später gab es weitere Zahlungsverpflichtungen; etwa an die füllige Witwe, die vom Rat Geld dafür bekam, ein paar der verwaisten Kinder und Jugendlichen in der kalten Jahreszeit unter ihrem Dach zu beherbergen. Die Zahlung erfolgte entweder an die Witwe selbst oder an verstohlen in der Dämmerung hereinschleichende Männer und bestand wiederum aus jungen Seelen. Das Schema hatte sich durchgezogen bis zu Giovanni Scoto, der nicht Andrejs Körper, dafür aber seine Unterwerfung gefordert hatte, und Kaiser Rudolf, für dessen Protektorat Andrej mit der einzigen Erinnerung bezahlte, die ihm etwas wert schien.

All das flog in Sekundenschnelle durch seinen Schädel, als er durch den Saal im Obergeschoss von Jarmilas Haus stolperte und sie, die ihm auf halbem Weg entgegenkam, in die Arme schloss. Dann küsste sie ihn so ungestüm, dass ihm der Atem wegblieb und mit ihm alle Gedanken an ekelhafte Verrichtungen, mit den Füßen in der Scheiße einer engen, stinkenden Brandgasse stehend oder im feucht geschwitzten Bett einer schwabbeligen, grunzenden alten Frau, und der Funken stob auf, der der Funken des Lebens im Allgemeinen ist und der sich darin äußert, dass auch der Leib nach Einigkeit strebt, wenn sich zwei Seelen gefunden haben.

Andrej und Jarmila taumelten eng umschlungen in ihre Schlafkammer und fielen in eine weiche, warme Gruft aus Federn und duftendem Leinen.

Das Fieber der Berührung des anderen Körpers, nach dem man sich sehnt, erhöht durch die Tatsache, dass der Körper fast unspürbar ist unter dem Panzer der spanischen Mode … Der Geschmack der Lippen und Zunge des Partners und der Hauch seines Atems, den man mit ihm teilt … Das Gebausche und Geraschel einer Menge von Stoff und Seide, mit der man einen halben Straßenzug Hausmägde hätte einkleiden können … Der Versuch, unter der Deckung von Brokat und steif gefälteltem Leinen und hinter dem Gefängnis von Fischbein- und Eisenstäben eine Rundung zu spüren, den menschlichen Körper, der sich stöhnend darin windet … Zwei Hände, die an Verschnürungen, Knöpfen, Haken und Bändern zerren, unterstützt von zwei weiteren Händen, die gemeinsam die ganze Unternehmung unmöglich machen, die unter der gegenseitigen Berührung erschauern und sich umtanzen wie vier Falter im taumelnden Brautflug … sich ineinander verschränken und lösen und liebkosen und knisternde Funken miteinander zu tauschen scheinen … Gewisperte Worte, die nicht viel mehr sind als Stöhnen auf der einen und halbes Schluchzen auf der anderen Seite, untermalt vom Knarren und Protestieren des Skeletts des Reifrocks …

„Hier, hier … nein, hier ziehen … küss mich, bitte, küss mich … nein, ich zeig’s dir, so musst du ziehen …“

„Jarka, oh, Jarka, du bist so schön, du bist so … Ich dachte … ah, du bist so schön …“

„Küss mich!“

Ein paar Knöpfe geben ploppend nach, eine Naht reißt …

Die enge Verschnürung des Korsetts löste sich plötzlich. Jarmila holte Atem, die dreieckige Öffnung des Oberkleids, die sich vom Kragen bis zur Taille herunterzog, weitete sich. Jarmila riss sich den Kragen von den Schultern; weitere Knöpfe ploppten, eine Handvoll davon prasselte an die gegenüberliegende Wand. Mit fliegenden Fingern schnürte sie an den Bändern des Unterkleids, und Andrej, dessen Hände zitternd an ihrem Oberkörper auf und ab fuhren und in dessen Hirn ein Feuer brannte, das Stein geschmolzen hätte, sah plötzlich weiße Haut, den Beginn der Falte zwischen zwei erbarmungslos zusammengepressten Brüsten. Jarmila zerrte an Oberkleid und Unterkleid, und Andrej erhaschte einen Blick auf rote Pressstriemen in Jarmilas Fleisch, auf zwei Brüste, die förmlich aus dem aufgerissenen Gewand quollen, auf fast wundgescheuerte Brustwarzen. Dann drückte sie seinen Kopf an ihren Busen, und er drückte Küsse auf die geschundene Haut, schmeckte das Salz ihres Schweißes, leckte über einen weichen Bogen und dann über einen harten Knoten, nahm den Knoten zwischen die Zähne und hörte, wie sie den Atem einzog. Seine Hände fuhren in den Ausschnitt, den sie geschaffen hatten, spürten glühende Haut, schlossen sich um die Weichheit ihrer Büste und drückten, fühlten, kneteten, streichelten, entflammten …

Niemand hatte ihm je gezeigt, was zu tun war, um einer Frau Lust zu bereiten. Niemand hatte ihm je gesagt, welche Möglichkeiten es gab, selbst Lust zu empfangen. Es hatte die dicke alte Witwe gegeben, die harte schnelle Stöße bevorzugte und der der Gedanke, dass sich ein halbes Kind voller Abscheu auf ihr abmühte, die eigentliche Lust gewesen war; es hatte viel später die Dirnen gegeben, die aus ganz anderen Gründen harte, schnelle Stöße bevorzugten und deren höchste Zärtlichkeit der klammernde Griff nach unten war, wenn die bezahlte Zeit sich dem Ende zuneigte, der Liebhaber sich aber noch nicht verausgabt hatte. Außer der halben Vergewaltigung in der Brandgasse hatte es nie mehr einen Mann gegeben, auch keinen, der sich seiner in freundlicher Weise angenommen hätte. Andrej war ein Blinder, Tauber und Lahmer, der in eine neue Welt vordrang, von der er nicht einmal eine Beschreibung besaß, und was er tat, flüsterte ihm entweder ein gütiger Gott der Liebe ein oder erriet er aus den Bewegungen Jarmilas. Das Misstrauen, das zu seinem Wesen geworden war, war verstummt: er ließ sich in Jarmila fallen. Die Vorsicht, die ihn in all den Haifischbecken der letzten zwanzig Jahre hatte überleben lassen, war eingeschlafen: er gab sich Jarmila hin. Die Stimme, die nie verstummte und die unablässig geflüstert hatte, seit er ihr am Feuer gegenüber gesessen war, sank zu einem noch leiseren Wispern herab und schien zu sagen: Was soll’s!

Vage spürte er die Schauer, die über seinen Körper liefen, und als sie das Hemd von seinen Schultern gezogen hatte und mit fahrigen Händen über seinen nackten Rücken fuhr, begann er hilflos zu zucken. Ihre Fingernägel zogen sanfte Furchen durch seine Haut. Er stöhnte.

Sie zappelte und wand sich unter ihm. Ihre Bemühungen hatten sie halb aus dem Korsett schlüpfen lassen. Sie quälte sich heraus und schlang die Arme um ihn; er zog ihren nackten Oberkörper an sich und keuchte, als die Berührung von Haut auf Haut tausend Reize in ihm explodieren ließ; ihre Brustwarzen waren zwei harte Punkte, die er in der Sanftheit ihrer Brüste spürte, als sie sich an ihm rieb. Der Reifrock ballte sich um sie herum, eine Festung aus gepresstem Filz und Rosshaar, ein Wallsystem aus starren Reifen. Er versuchte, sie auf Armeslänge von sich zu schieben, weil er sie ansehen wollte, aber sie klammerte sich an ihn. Ihre Hände zogen Funkenspuren über seinen Rücken, fuhren unter die billige Heerpauke, die sich auf seinen Oberschenkeln bauschte, lösten die Bänder von Unter- und Überhose; das lächerliche Kleidungsstück fiel herab.

Andrej hätte lachen und schreien gleichermaßen mögen, während seine Finger hinter ihrem Rücken nicht einmal ansatzweise die Bänder fanden, mit denen er ihren Rock hätte lösen können. Sein Unterleib begann wieder zu zucken, als ihre Hände um sein Gesäß herumstrichen. Die Braguette war zusammen mit der Heerpauke gefallen, das dünne Leinen der Bruche beiseite geschoben von dem Drängen darunter. Er spürte, wie ihre Hände sich um ihn schlossen; seine Gedanken verwirrten sich. Etwas ballte sich in ihm zusammen, zog alles Fühlen an diese eine Stelle, die sich in ihre Hände schmiegte. Es war, als ob Andrejs Wesen plötzlich ein fühlbarer Schauer geworden wäre, der über seine Haut lief und sich in seinem Schoß zentrierte. Sein Herzschlag setzte aus und seine Lunge bekam keinen Atem, er wollte es aufhalten und wollte gleichzeitig nichts so sehr, als dass es passierte, und dann schoss dieser Schauer aus ihm hinaus, pulste und quoll und nahm sein ganzes Wesen mit sich, leerte ihn aus, ergoss sich in ihre Hände, ergoss sich über ihre Haut, ließ seinen Körper sterbend zurück und füllte ihn im nächsten Moment erneut mit Leben, das sich heiß und prickelnd in ihm ausbreitete, mit Trommeln und Blitzen in seine Sinne floss. Er hatte das Gefühl zu explodieren und wie ein Kometenschauer in alle Richtungen zu schießen und wieder in sich zusammenzusinken, als das Pulsen verebbte …

Die hilflose Euphorie verging, als ihm bewusst wurde, was geschehen war. Scham wollte seinen Magen umdrehen. Doch dann begann Jarmila zu lachen und sank gegen ihn, ohne ihn loszulassen, er spürte die Nässe, die ihre Finger mit seiner Haut verband, und erkannte, dass sie nicht aufgehört hatte mit ihren Bewegungen und jeder Strich ihm schmerzvoll und lüstern zugleich in den Leib fuhr, und er wusste, dass es das Lachen reiner Freude war, das er von ihr hörte. Er öffnete den Mund, doch sie presste ihre Lippen auf die seinen und schien ihn mit ihrer Zunge ausfüllen zu wollen.

„Jetzt ich“, keuchte sie. „Ich weiß, wie das geht. Ich will das auch … Ich zeige es dir …“

Er sank neben ihr zusammen und sah ihr zu, wie sie ihren Rock löste, beobachtete sie, wie sie sich auskleidete, weil er zu schwach gewesen wäre, um ihr zu helfen, genoss es, ihr dabei zuzusehen, wie sie daran ging, ihm ihre letzten Geheimnisse zu enthüllen, und hatte das Gefühl, dass auch sie es genoss.

Dass er ebenfalls bis auf seine Beinstrümpfe nackt neben ihr lag, erfüllte ihn nicht mit Scham; dass sie nicht einmal ihre Hände abgewischt hatte, bevor sie sich an ihren Kleidern zu schaffen machte, dass Streifen von Nässe sowohl zwischen ihren Brüsten als auch in seinem Schoß glitzerten und sie nicht im Geringsten daran Anstoß nahm, erweckte erneute Erregung in ihm.

Als sie zu ihm kam, hatte er seine Eltern, seine Jahre unter den Bettlern, hatte er Kaiser Rudolf und die Geschichte, die dieser immer wieder hören wollte, zum ersten Mal vergessen und war glücklich.

Später in der Nacht erwachte er, weil er sie weinen hörte. Im Halbschlaf zog er sie an sich. Sie schien in ihn hineinschlüpfen zu wollen, so sehr presste sie sich an ihn. Bevor er einschlief, hörte er das Flüstern der Stimme wieder, deren Ratschläge ihn so lange hatten überleben lassen, aber er war für dieses Mal zu müde und zu ausgelaugt, um sich von ihr unglücklich machen zu lassen.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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