Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 62
17.
ОглавлениеYolanta setzte sich vor das Feuer. Es war wohl mehr aus Gewohnheit als wegen der Kälte, denn sie streckte ihre Hände und Füße nicht der Wärme entgegen. Sie hätte eine lebensgroße Puppe sein können, die jemand dort platziert hatte. Pater Xavier betrachtete sie ungeniert. Seine Einschätzung war richtig gewesen: mit ein wenig Pflege und gutem Essen war in kürzester Zeit eine Schönheit aus dem hageren Geschöpf geworden.
Pater Xavier hatte einen Krug Wein bereitstellen lassen und zwei Becher, die er bereits eingeschenkt hatte. Er plante nicht, auch nur einen Schluck davon zu nehmen, aber die Menschen tranken leichter, wenn sie dachten, dabei Gesellschaft zu haben. Der Wein für Yolanta war keine freundliche Geste, sondern ein Mittel, ihr Misstrauen zu lähmen; Pater Xavier sah mit einer Mischung aus Ärger und heimlicher Befriedigung, dass sie nicht darauf hereinfiel.
„Wann bekomme ich mein Kind zurück?“, fragte sie.
„Bist du jemandem aufgefallen?“
Yolanta schwieg. Der Dominikaner wartete geduldig.
„Wem hätte ich schon auffallen sollen?“, fragte sie schließlich voller Bitterkeit. „Cyprian Khlesl und seiner Reisegesellschaft? Einem der Aussätzigen, weil ich in seinem alten Heuschober im Dreck lag und mir fast den Tod holte?“
„In Chrast? In Chrudim?“
„Nein. Die Leute dort glauben, sie hätten das Gelände abgeriegelt, aber es gibt so viele Schlupflöcher, dass die Aussätzigen zu Dutzenden aus ihrem Gefängnis entkommen könnten, wenn sie nur wollten. Cyprian und Andrej hatten keinerlei Mühen, ungesehen hinein und wieder heraus zu kommen, ebenso wenig wie ich.“
„Erstaunlich“, sagte Pater Xavier. Yolanta verstand die Anspielung.
„Hoffnung“, sagte sie. „Selbst in meiner Zelle im Kloster hatte ich Hoffnung, und die Mutter Oberin sprach von nichts anderem. Ein Aussätziger hat keine Hoffnung. Worauf auch? Höchstens auf den Tod – und den findet er unter seinesgleichen genauso gut wie anderswo.“
Pater Xavier dachte nach. Es schien sicher, dass Podlaschitz das Kloster war, von dem die bruchstückhafte Überlieferung der Teufelsbibel sprach: das Kloster, in dem ein Mönch eingemauert worden war, um sich vom Satan persönlich sein Vermächtnis diktieren zu lassen. Das Kloster existierte nicht mehr. Hatte ein Fußtritt des Teufels es ausgelöscht? Als die Römer Karthago dem Erdboden gleichgemacht hatten, schütteten sie Salz in den aufgerissenen Erdboden, um ihn für alle Zeiten zu zerstören. Es mochte gut sein, dass Aussatz und Fäulnis des Teufels Äquivalent für das Salz waren. Die Teufelsbibel war dort gewesen, darüber war Pater Xavier sich sicher. Dass sie nicht mehr dort war, stand nun ebenfalls fest. Die Reise war zugleich vergeblich und höchst aufschlussreich gewesen.
„Du hast deine Sache gut gemacht“, hörte er sich sagen und war selbst erstaunt darüber.
„Wann bekomme ich mein Kind?“
„Häufiges Fragen macht die Sache nicht besser.“
Sie warf ihm einen brennenden Blick zu. Anfangs hatten stets Tränen in ihren Augen gestanden. Mittlerweile hatten sie dem nackten Hass Platz gemacht. Sie gab sich keine Mühe, ihn zu verbergen. Für ein paar Momente gestattete Pater Xavier sich einen Traum: er würde Yolanta mit zurück nach Spanien nehmen – seine eigene, junge, schöne Agentin, mit der er Bischöfe, Kardinäle und Minister des Königs aushorchen, sich gefügig machen, sie zurechtformen würde. Doch das Druckmittel, das er gegen Yolanta in der Hand hatte, wurde von Tag zu Tag schwächer, und in Spanien wäre es wirkungslos. Sie würde niemals zustimmen, Prag ohne ihr Kind zu verlassen. Er konnte natürlich irgendein Kind aus dem Waisenhaus holen und es ihr als ihr eigenes unterschieben; er war sicher, dass sie keine Chance hatte, den Unterschied zu bemerken, und selbst wenn, würde die Mutterliebe alles Misstrauen unterdrücken. Doch womit sollte er sie erpressen, für ihn zu arbeiten, wenn sie das Kind erst hatte? Es gab selbstverständlich die Möglichkeit, es ihr in Spanien wieder wegzunehmen. Für eine Weile ließ der Dominikaner seinen Gedanken freien Lauf. Es wäre ohne weiteres möglich – das Kind ein puer oblatus in einem Dominikanerkloster in Kastilien, einzelne Besuchstage als Belohnung für erwiesene Dienste und als große, antreibende Hoffnung die Aussicht, es irgendwann wieder in die Welt zurückzuholen und mit ihm für immer zusammen sein zu können.
Pater Xavier schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war zu kompliziert. Gefallene Mädchen gab es auch in Spanien; er brauchte nicht Yolanta in seine Heimat zu schleppen, um auf diese Weise weiterzuarbeiten. Nein, Yolanta würde hier in Prag mit ihrem Kind wiedervereint werden, so bedauerlich es auch war, ein derart hervorragendes Werkzeug vernichten zu müssen.
„Cyprian Khlesl hat nach seiner Ankunft in Prag als Erstes ein Haus aufgesucht, das zu gleichen Teilen zwei Wiener Kaufleuten gehört: Sebastian Wilfing und Niklas Wiegant“, sagte Pater Xavier. „Niklas Wiegant hat eine Tochter namens Agnes; Khlesl ist es ausschließlich um sie gegangen. Er ist zwar der Abgesandte von Bischof Melchior, aber ich nehme an, dass er hier auch eigene Pläne verfolgt. Agnes ist der Schlüssel, um an ihn heranzukommen.“
„Das ist die einzige Kategorie, in der Sie denken, wenn es um Menschen geht“, sagte Yolanta. „Wie Sie sie benutzen können.“
„Selbstverständlich“, sagte Pater Xavier und lächelte. „Und die Menschen machen es einem so leicht.“
„Ihre Seele ist verdammt, Pater.“
„Dann werden wir uns ja in der Hölle wieder sehen.“
„Sie wollen, dass ich diese Agnes aushorche?“
Pater Xavier neigte den Kopf und lächelte erneut.
„Ich habe schon befürchtet, Sie würden verlangen, dass ich mich Cyprian Khlesl an den Hals werfe.“
„Wenn ich den Eindruck hätte, dass es bei ihm wirken würde, hätte ich das durchaus erwogen. Ich bedauere, dass dein tatsächlicher Auftrag nicht das Vergnügen beinhaltet, sich mit einem kräftigen Mann der Lust hinzugeben.“
„Fahren Sie zur Hölle, Pater.“
Pater Xavier lehnte sich behaglich zurück. „Früher oder später höre ich diesen guten Wunsch immer“, sagte er.
„Dies ist der letzte Sklavendienst, haben Sie mich verstanden?“
„Das hast du nicht in der Hand.“
„Sagen Sie es: dies ist der letzte Sklavendienst!“
„Was hindert mich daran, Ja zu sagen und später mein Versprechen zu brechen?“, fragte Pater Xavier, doch er gestattete seiner Stimme plötzlich eine kleine Schärfe. „Was hindert mich daran, jedes meiner Versprechen zu brechen und der Sünderin den Lohn zukommen zu lassen, der ihr gebührt, nämlich nichts?“
Sie wurde bleich und schluckte. Pater Xavier lächelte sie so freundlich an wie ein Tuchhändler in seinem Kontor, der soeben zu seiner Lieblingskundin gesagt hat: 'Für einen Stoff müssen Sie sich entscheiden, werte Dame – Seide oder Brokat?'
„So verdorben sind nicht mal Sie“, sagte sie rau.
Pater Xavier behielt das Lächeln bei. Nun schimmerten doch Tränen in ihren Augen.
„Bischof Melchior wäre garantiert selbst gekommen, wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, einen noch besseren Mann zu schicken. Dieser Mann ist Cyprian Khlesl. Im Augenblick mag die Spur zu unserem Ziel erkaltet sein, aber wenn einer sie wieder aufnehmen kann, dann er. Andrej von Langenfels hat uns dorthin geführt, wo die Teufelsbibel gewesen ist; Cyprian Khlesl wird uns früher oder später dorthin führen, wo sie jetzt ist. Agnes ist seine schwache Stelle.“
„Ich gehorche“, sagte Yolanta erstickt.
„Ich habe mich ein bisschen umgehört über die Herren Wilfing und Wiegant“, sagte Pater Xavier. „Ihre Geschäfte hier reichen viele Jahre zurück, und sie haben sich stets großzügig gebärdet. Jeder zweite Zöllner oder Torwächter kennt ihre Namen, die Bestechungsgelder sitzen den Herren locker. Besonders Niklas ist in guter Erinnerung; er hat vor zwanzig Jahren ein halbes Vermögen für eine Spende an ein Findelhaus ausgegeben.“
Yolanta blickte auf. Pater Xavier nickte.
„Genau“, sagte er.
„O mein Gott“, flüsterte Yolanta.
„Die Welt ist ein Dorf“, erklärte Pater Xavier. „Für mich hat sich damit eine interessante Frage beantwortet. Wenn er selbst einen Bastard gezeugt hätte, den er nicht verkommen lassen wollte, hätte er sein Geld nämlich besser anlegen können als bei den Karmelitinnen. Wenn eine seiner Mägde ein Kind in die Welt gesetzt hat, dem er unter die Arme greifen wollte, hätte er dafür gesorgt, dass es gar nicht erst dorthin kommt. So gut kenne ich ihn.“
Er sah auf und wurde sich bewusst, dass Yolanta ihn anstarrte, als wolle sie ihn im nächsten Moment umbringen.
„Wenzel geht es gut“, sagte er beiläufig. „Dass das Karmelitinnen-Findelhaus die Vorstufe zur Hölle ist, weißt du so gut wie ich. Aber ich habe für deinen Sohn gesorgt.“
Sie erstickte fast, als sie „Danke“ sagte. Pater Xavier verzichtete auf eine seiner sanften, zynischen Bemerkungen.
„Guter, gutmütiger Niklas Wiegant“, sagte er. „Dort heraus hast du dein Kind geholt. Sie hätten es dir gratis mitgegeben, da bin ich sicher. Warum hast du so viel Geld gezahlt?“
„Ich könnte es für Sie herausfinden“, sagte Yolanta langsam. „Ich gehe zum Kloster der Karmelitinnen und horche die Oberin aus. Und dann könnte ich bei der Gelegenheit …“ Sie verstummte.
Pater Xavier legte die Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie über dieses Dach hinweg. „Eine Gelegenheit wie die anderen beiden Male?“
„Sie wissen es?“ Ihre Reaktion dauerte eine geraume Weile.
„Ich habe dort gewisse Anweisungen hinterlassen“, erklärte der Dominikaner.
„Ich habe die Oberin auf Knien angefleht!“, zischte Yolanta.
„So hat man es mir berichtet.“
„Warum haben Sie mich deswegen nicht zur Rede gestellt?“
„Weswegen? Für einen vergeblichen Versuch, mich zu betrügen? Versuche sind erlaubt.“
Nichts demoralisiert mehr als misslungene Versuche, dachte Pater Xavier. Strikte Verbote führen dazu, dass man darüber nachdenkt, wie man sie außer Kraft setzen kann. Lass einen Menschen aber genügend oft scheitern, und er ergibt sich irgendwann.
„Ich habe einen erneuten vergeblichen Versuch unternommen, bevor ich hierher kam“, sagte sie verächtlich. „Nur für den Fall, dass man es Ihnen noch nicht berichtet hat.“
„Man wird, keine Sorge.“ Pater Xaviers Lächeln war väterlich. Im Stillen dachte er: manche Menschen allerdings brauchen erstaunlich lange, bis sie sich ergeben. Er fühlte Hochachtung für die junge Frau.
„Woher kennen Sie Niklas Wiegant?“
„Alte Zeiten.“
„Ich frage nicht, ob Sie damals sein Freund waren. Ich bin sicher, Freundschaft ist Ihnen ebenso fremd wie Liebe.“
Pater Xavier zuckte mit den Schultern. Es war ihm gelungen, das Unbehagen, das ihn stets überkam, wenn sie aus dem Hinterhalt mit derartigen Bemerkungen über ihn herfiel, fast bis zur Nichtexistenz zu verdrängen.
„Wenn Sie ihn so gut kennen, warum besuchen Sie ihn dann nicht selbst?“
„Warum sollte ich das tun, wenn ich dich habe?“
„Wann bekomme ich mein Kind zurück?“
„Bald“, sagte Pater Xavier. „Habe ich dir erzählt, was die Oberin in einer ihrer letzten Botschaften berichtet hat?“ Er war einem spontanen Einfall gefolgt und überlegte nun, was er ihr sagen sollte. Das Kind war tot und verfaulte unter dem Kalk, und Nachrichten von der Oberin der Karmelitinnen kamen nur dann, wenn Yolanta versuchte, zu ihm vorzudringen. Pater Xavier hatte vorausgeahnt, dass sie das tun würde. Die Oberin war einfach auf seine Seite zu bringen gewesen; er hatte ihr mitgeteilt, dass das gestorbene Kind in Wahrheit der Bastard eines hohen Ratsherrn war und Yolanta versuchen würde, es aus dem Findelhaus zu holen und ihn damit zu erpressen. Die Geldspende, die während dieses Gesprächs zur Übergabe kam, stammte laut Pater Xavier von jenem um seinen Ruf besorgten, gut katholischen Ratsherrn. Konsequenterweise hatte man Yolanta vom ersten Besuch an, als sie ihren Namen genannt hatte, noch nicht einmal in den Außenbereich des Klosters gelassen. Das Geld ermöglichte für eine Weile bessere Verhältnisse für die noch lebenden Kinder; wen kümmerte da das Schicksal eines toten Kindes und seiner draußen im Schneematsch knieenden, weinenden Mutter, dieser Sünderin vor dem Herrn? Es war schön zu wissen, auf wen man sich verlassen konnte. „Wenzel … äh … hat eine der Schwestern besonders ins Herz geschlossen. Er hält sie wohl für seine Mutter.“
„O Gott, o Pater, wann darf ich endlich bei ihm sein?“
„Bald“, sagte Pater Xavier und lächelte. „Bald.“