Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 54
9.
ОглавлениеAbt Martin stand in den Schatten außerhalb der Zelle und betrachtete die Truhe. Die Ketten glänzten matt im Licht der Tranfunzeln. Er konnte sie hören, gesichert in ihren mehrfachen Sarkophagen aus kleiner werdenden Truhen, deren jede mit Weihwasser besprenkelt und mit Rosenkranz und Kruzifix behängt war, konnte sie hören in ihrem Leichentuch aus Sackleinen tief im Zentrum ihres Verlieses: die Teufelsbibel. Sie vibrierte. Sie brummte. Sie pochte. Er nahm an, dass er die Geräusche mehr in seinem Herzen als in seinen Ohren vernahm, aber es gab keinen Zweifel daran, dass sie da waren. Die Teufelsbibel lebte. Sie rief nicht. Sie lockte nicht. Sie drohte nicht. Sie war nur da. Sie wartete. Sie wusste, dass irgendwann jemand kommen und die Truhe öffnen und ihr die Macht verleihen würde, derentwegen sie geschaffen worden war, und bis dahin konnte sie warten. Abt Martin spürte die leidenschaftslose Geduld des Buches in seinem Kerker und fror.
„Ehrwürdiger Vater?“
Abt Martin drehte sich langsam um. Pavel war ein magerer, kapuzenverhüllter Umriss, der sich neben ihm aus dem Dunkel geschält hatte. Die beiden Männer standen nebeneinander und starrten in die Zelle hinein. In den vergangenen Jahren hatten sie oft so gestanden und die Truhe angestarrt.
„Die Zeit des Friedens geht zu Ende“, sagte Martin.
„Es hat nie eine Zeit des Friedens gegeben“, sagte Pavel.
„Nicht in der Welt. Hier drinnen schon.“
„Den Frieden der Angst. Den Frieden des Wartens darauf, dass etwas passiert.“
„Es war dennoch ein Frieden.“
„Er hat aufgehört an jenem Tag vor zwanzig Jahren.“
Martin nickte. „Ich weiß. Jeder Tag seither war ein geschenkter Tag.“
„Für mich“, sagte Pavel, „war jeder Tag seither ein heiliger Tag. Dasselbe gilt für Buh, auch wenn er es nicht so ausdrücken könnte.“
„Sein Sprachproblem hat sich nie gebessert, stimmt’s?“
„Gnnnn!“, zitierte Pavel und lächelte. Abt Martin spürte, wie das Lächeln auch auf seinem Gesicht Gestalt annahm. Niemand außer Pavel hätte Buh verspotten dürfen; niemand außer Pavel hätte es getan; und Pavels Spott war so voller Zuneigung und Wärme für den großen, ungeschlachten Mann, dessen er sich seit seiner Novizenzeit angenommen hatte, und so frei von aller Schärfe und Zynismus, dass es einem die Kehle eng machen konnte. Hier hatten zwei Seelen zusammengefunden.
Pavel wandte sich von der Truhe ab und trat einen Schritt zurück. Martin folgte ihm in den finsteren Schacht hinein. Wie jedes Mal, wenn er sich aus dem unmittelbaren Bannkreis des Buches begab, fühlte er Erleichterung und den Wunsch, nie wieder hierher zurückzukehren. In der Regel verblasste der Wunsch, sobald er wieder an die Oberfläche kam, und wurde abgelöst von dem Bedürfnis, sofort wieder hinunterzusteigen und nachzusehen, ob sie wirklich noch sicher war. Er hatte sich seit langem darauf beschränkt, dem Bedürfnis nur einmal in der Woche nachzugeben. Die anderen Tage waren seine persönliche Buße. Es gab Mönche, die sich jede Nacht in ihrer Zelle geißelten, bis das Blut kam. Abt Martin versagte sich sechs Nächte von sieben, zum Verlies der Teufelsbibel zu schleichen und sich zu vergewissern, dass die Ketten noch hielten. Er beneidete die Flagellanten um die vergleichsweise geringe Pein, die sie erdulden mussten. Dumpf ahnte er, dass er eines Tages vor der Truhe stehen, die Ketten aufschließen, die einzelnen Sarkophage öffnen und das Buch aus seiner Umhüllung befreien würde, nur um sicherzugehen, dass … und sie damit befreien und das Übel über die Welt bringen würde. Es war eine Ahnung, die ihn in den Stunden zwischen Mitternacht und Dämmerung auf dem Boden seiner Zelle knien und mit verkrampften Händen und geschlossenen Augen wie ein Kind beten ließ: Herr, hilf mir in meiner Not.
„Wie sieht es draußen aus?“, fragte Pavel.
„Schatten, die zwischen Mauern taumeln und warten, dass der Tod sie holt“, sagte Martin. „Wer hätte gedacht, dass wir einmal von Seuche und Verderbnis belagert würden?“
„Barmherzigkeit?“, fragte Pavel.
„Es wird immer schwerer, die Brüder dazu zu bewegen, Trost und Wärme zu spenden. Ich will sie nicht dazu zwingen. Sie haben alle zu große Angst, sich mit der Seuche anzustecken.“
„Wir haben keine Angst. Wir würden …“, begann Pavel.
Abt Martin blieb auf der unregelmäßigen Steintreppe stehen, die hinauf an die Oberfläche führte. Weit oben schimmerte ein Lichtpunkt – die Klappe in der ansonsten verschlossenen Tür, durch die Pavel und seine sechs Mitbrüder nach draußen kommunizieren konnten. Er legte dem mageren kleinen Mönch eine Hand auf die Schulter.
„Ich weiß“, sagte er sanft. „Aber es ist nicht die Aufgabe der Kustoden.“
„Unsere Aufgabe ist der Schutz der Klostergemeinschaft und der Welt. Wir fürchten uns nicht, ehrwürdiger Vater. Könnte man sich nicht vorstellen, dass dieser Dienst auch beinhaltet, den Brüdern oben und den Menschen draußen zu helfen?“ Auch Pavel verstand sich auf die Kunst, mit ungesagten Sätzen zu sprechen. In diesem Fall verschwieg er, dass er eigentlich sagen wollte: … dir zu helfen, ehrwürdiger Vater.
Abt Martin wusste genau, dass der junge Mönch ihn verehrte und sich hätte kreuzigen lassen, wenn er nur das Gefühl gehabt hätte, Abt Martin damit unter die Arme greifen zu können. Pavels Verehrung erfüllte ihn mit Wärme und Entsetzen gleichermaßen; er hatte nicht den Eindruck, dass er, ein Mann der Fehler, Schwächen und Ängste, es verdiente, von jemandem verehrt zu werden, und schon gar nicht von einem aufrechten, loyalen Glaubensbruder wie Pavel. Er räusperte sich.
„Du kennst die Aufgabe, Bruder Pavel“, sagte er.
Pavel nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.
Sie stiegen weiter nach oben.
„Es wird jemand kommen“, sagte Abt Martin.
„Zu uns?“
„Zu ihr.“ Martin deutete in die Finsternis, aus der sie empor kletterten.
„Woher weißt du das?“
„Ich spüre es. Ich höre es. Ich stehe vor ihrem Versteck und fühle, wie sie wartet. Es ist, als ob sie zu mir spräche, auf eine Weise, die die Ohren nicht erreicht, aber die man trotzdem vernimmt. Sie wartet. Wer wartet, zu dem wird irgendwann jemand kommen.“
Er hörte, wie Pavel vorsichtig einatmete.
„Ehrwürdiger Vater …“, begann er.
„Es wird jemand kommen“, wiederholte der Abt. „Die Zeit des Friedens ist vorüber. Ich weiß es. Sie weiß es.“
„Ehrwürdiger Vater …“
„Spürst du es nicht, Pavel? Du bist Tag und Nacht in ihrer Nähe. Spricht sie nicht zu dir?“
„Ich muss umkehren, ehrwürdiger Vater.“
Martin blickte auf und erkannte, dass sie oben an der Tür angekommen waren. Mechanisch griff er nach dem Schlüsselbund. Pavels Gesicht sah im einfallenden Licht jung, hager und bleich aus. Die Kapuze beschattete seine Augen, doch Martin wusste, dass der junge Kustode ihn musterte. Er versuchte vergeblich zu lächeln.
„Wir müssen darauf vorbereitet sein“, sagte er und legte Pavel erneut die Hand auf die Schulter. Pavel griff nach ihr, drückte sie fest und küsste sie dann.
„Gott der Herr segne und behüte uns“, sagte er.
„Ja“, sagte Martin. „Amen.“
Er sah Pavel zu, wie dieser die Treppe hinunterstieg, bis die Dunkelheit ihn samt seiner schwarzen Kutte verschlang. Dann schloss er die Tür auf, trat ins Freie und verschloss sie wieder sorgfältig. Als er sich abwandte, begann der Wurm bereits an seinem Herzen zu nagen: Hatte er sich wirklich vergewissert, dass die Ketten um die Truhe fest saßen?