Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 55

10.

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„Was hat er gesagt?“

Der Heilige Vater war nicht ganz bei der Sache. Die breitschultrige Gestalt Ippolito Aldobrandinis – Papst Clemens VIII. – saß zwar reglos in seinem Sessel, seinen Bittstellern zugewandt, aber der Kopf mit seinem wallenden weißen Großvaterbart neigte sich ständig zur Seite, und seine eindrucksvoll geschwungenen Brauen hoben und senkten sich beständig, während er gleichzeitig dem Flüstern der Priester lauschte, die links und rechts neben seinem Stuhl standen. Flüstern … Papst Clemens, nach seinen hinfälligen und vergreisten Vorgängern endlich wieder ein Mann, welcher dem Äußeren nach zu schließen voller Kraft und Leben steckte, war so taub wie eine Nuss, und was er an leisen Tönen hätte hören können, verschlang das Geraschel der vittae, der beiden losen Bänder an der Tiara, die nach hinten herunterhängen hätten sollen, ihm aber ständig über die Ohren fielen.

Pater Hernando war der Nächste in der Reihe derer, die zur Privataudienz des Heiligen Vaters zugelassen waren, und obwohl das bedeutete, dass er mindestens zwanzig Schritte entfernt war, verstand er jedes Wort, das Papst Clemens an den Mann richtete, der vor ihm kniete. Was das betraf, verstand er auch jedes Wort, das der Kniende vorzubringen hatte; nicht, weil dieser selbst so laut gesprochen hätte, sondern weil der eine Priester an des Papstes Seite es mit donnerndem Flüstern in eine für den Heiligen Vater vernehmbare Lautstärke übersetzte.

„Raben?“, erwiderte der Papst mit seinem eigenen dröhnenden Flüstern.

„Knaben, Heiliger Vater. Es geht um die Knaben.“ Der zweite Priester deutete etwas an, was ihm selbst bis zum Brustbein gereicht hätte. „Junge männliche Kinder, Heiliger Vater.“

Papst Clemens neigte sich zu dem Priester an seiner anderen Seite. „Ein guter Hinweis“, flüsterte er in voller Lautstärke. Die Augen des Priesters, in dessen Ohr er flüsterte, zuckten schmerzvoll. „Wir hätten beinahe vergessen, danach zu fragen. Wie viele hast du selektiert, mein Guter?“

„Knapp zwei Dutzend, Heiliger Vater.“

„Zwei Dutzend.“ Papst Clemens nickte.

Der Mann auf dem Boden sagte etwas. Pater Hernando konnte von hinten erkennen, dass seine Ohren glühten.

„Hä?“

„Er sagt, es sind drei, Heiliger Vater. Nur drei, aber trotzdem …“

Papst Clemens lächelte auf den Mann vor seinem Thron nieder. „Du hast Uns drei von den göttlichen Geschöpfen mitgebracht, mein Sohn? Der Segen des Herrn sei mit dir.“

„Nicht ganz, Heiliger Vater“, sagte der zweite Priester mit betont gleichmütiger Miene. „Er hat keine Knaben mitgebracht. Es geht vielmehr darum, dass der Priester des Dorfes, dessen Ältester dieser gute Christ hier ist, sich an den Knaben …“

„Exakt“, sagte der Papst. „Es wäre wirklich ein christlicher Einfall, wenn jede gute Gemeinde ihre viel versprechenden Knaben hierher nach Rom senden würde.“ Er lehnte sich zu dem anderen Priester hinüber. „Notiere diesen Einfall, mein Guter. Wir werden ein Dekret herausgeben.“

„Sehr wohl, Heiliger Vater.“

Papst Clemens fasste den Bittsteller vor sich ins Auge. Er lächelte erneut. „Drei ist eine gute Zahl, mein Sohn. Vier wären natürlich besser, gar nicht zu sprechen von zwei Dutzend.“

„Heiliger Vater“, sagte der Priester, der als Übersetzer diente, „darf ich Euer Augenmerk nochmals darauf lenken, dass dieser Mann hier eine Klage gegen den Priester seines Dorfes vorbringt und ihm ein geradezu monströses Vergehen vorwirft, nämlich sich über Jahre hinweg an drei Knaben vergangen …“

„Gott liebt Musik“, sagte der Heilige Vater. Er lächelte den Mann vor sich unverwandt an. „Gott liebt die hellen Töne. Er kann sie so viel besser hören als die tiefen.“

Gott, dachte Pater Hernando. Kein anderer als er. Er hört uns zu und freut sich an den hellen Tönen. Ganz gewiss. Sein Herz sank mit jedem Satz, den er von vorn vernahm.

„Musik!“, sagte der Papst. „Aber hast du dich einmal in den Kirchen hier in Rom umgesehen, mein Sohn? Hast du dem Jubel gelauscht? Ordensschwestern, wohin man schaut! Kaum eine hehre männliche Seele, die das Kyrie singt, und wenn, dann hört man nur brumm-brumm-brummelbrumm – als ob Gott das vernehmen könnte!“ Papst Clemens schüttelte den Kopf, dass die vittae flatterten. „Ein Bär im Wald singt schönere Töne.“ Er wandte sich an den Priester zu seiner Linken. „Zwei Dutzend, hast du gesagt, mein Guter?“

„Nicht exakt, Heiliger Vater.“

„Exakt, wie? Gott der Herr schaut wohlgefällig auf Uns herab.“

„Was nun das Anliegen dieses Mannes betrifft …“, sagte der zweite Priester. „Er hat sich schon an den Bischof seiner Diözese gewandt, aber keine Hilfe erhalten. Er ist hierher gereist im festen Vertrauen auf das Verständnis und die Hilfe des Heiligen Stuhls.“

„Exakt“, sagte Papst Clemens. „Nur Knaben haben jene Stimmen, die Gott als Gesang hören will. Knaben …“ Er lächelte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Aber aus Knaben werden Männer, nicht wahr? Aus Glockentönen wird Bärengebrumm … doch Wir wissen, wie Wir das verhindern können, mein Sohn, und Wir danken dir im Namen der drei Geschöpfe, die du zu Uns senden willst, dass du ihnen das Schicksal ersparst, das sie sonst zu tragen hätten.“ Der Papst lächelte gütig. Er legte Daumen und die beiden ersten Finger der rechten Hand zusammen, als würde er zwischen ihren Fingerspitzen ein delikates Werkzeug halten, und machte zwei kleine, ruckartige Bewegungen, als würde er im Kreis um etwas herum schneiden. „So ein kleiner Eingriff nur, und Gottes Gnade und der Dienst am Gotteslob für das ganze Leben!“

Pater Hernandos Hoden, die sich angesichts der Handbewegung des Papstes in die Bauchhöhle zurückgezogen hatten, schienen dort vorerst bleiben zu wollen. Seine Bauchmuskeln verkrampften sich schmerzhaft. Er hatte Mühe, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Er hörte das unwillkürliche Winseln, das dem Mann auf den Knien vor dem Papstthron entwich.

„Warten die drei Geschöpfe draußen, mein Sohn? Führ sie herein. Ich bin sicher …“ – ein freundlicher Blick traf Pater Hernando –, „… dass jeder gerne wartet, wenn es darum geht, die künftigen Verkünder des Gotteslobs zu begrüßen.“

„Heiliger Vater!“, sagte der Priester, der übersetzte, und man konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, dass er flüsterte. „Heiliger Vater, dieser Mann bittet um Rat und Hilfe, weil drei Knaben in seinem Dorf den Priester beschuldigen, ihnen seit Jahren Gewalt anzutun!“

Papst Clemens blickte auf. Kühn geschwungene Augenbrauen rutschten bis zum Ansatz der Tiara. Seine Blicke zuckten von dem Bittsteller zum Priester und zurück.

„Wenn das so ist …“, begann er. Seine Miene hellte sich auf. „Umso besser, mein Sohn, wenn du die drei Geschöpfe zu Uns sendest. Unsere Chirurgen werden sich ihrer annehmen, und dann gibt es nichts mehr, was sie daran erinnert, dass sie einen Mann Gottes – unbeabsichtigt, da bin ich mir sicher, Knaben sind die reinsten Gotteskinder! – verführt haben. Alles, was es noch geben wird, ist Musik und die Glockentöne des wunderbarsten Gesangs. Gehe hin in Frieden, mein Sohn. Gott sei mit dir.“

Der Bittsteller wankte an Pater Hernando vorbei, ein grauhaariger, gebeugter Mann mit unrasierten Wangen, von dem der Straßengeruch einer langen Reise ausging und der noch Stiefel und Mantel trug. Hernando sah die Tränen in den Augen des Mannes glitzern; er stolperte nach draußen, ohne einen anderen Menschen anzublicken. Pater Hernando schluckte. Als er aufsah, traf sein Blick auf das erwartungsvoll-freundliche Gesicht des Papstes und die gleichmütigen Mienen der Priester links und rechts von ihm. Er war an der Reihe.

Er hatte sich genau zurechtgelegt, was er sagen würde. Er hatte in seiner Zelle geprobt, flüsternd und gestikulierend, jedes Wort auf die Goldwaage legend. Er war davon ausgegangen, dass ihm nur wenig Zeit zur Verfügung stand und dass er zu Ende erzählen musste, was er dem Papst mitteilen wollte, bevor seine Berater unterbrechen oder den Heiligen Vater ablenken konnten. Er hatte Papst Clemens, als er noch Ippolito Kardinal Aldobrandini gewesen war, bei der einen oder anderen Gelegenheit beobachtet und aus seiner Schweigsamkeit, seinen ruhigen Gesten und seinen langen, unverwandten Blicken geschlossen, einen vernünftigen, gelassenen Mann vor sich zu haben. Er hatte nicht gewusst, dass die Schweigsamkeit daher kam, dass Kardinal Aldobrandini keine Ahnung hatte, was das Gesprächsthema war, die Gelassenheit daher stammte, dass er es nicht einmal gehört hätte, wenn die anderen um ihn herum auf seinen Namen Spottlieder gegrölt hätten; und dass die ruhigen, langen Blicke lediglich bedeuteten, dass Seine Eminenz sich fragte, ob der andere Kardinal, den er gerade anschaute, zu ihm sprach oder nur mit der Zunge einen Fleischfetzen aus den Zähnen herauszupulen versuchte. Entschuldigen Sie, Eminenz, haben Sie gerade was gesagt? Nein, Eminenz, ich kaue nur.

Die Bibel, Heiliger Vater, hatte er sagen wollen, ist das Buch, auf dem der Bestand unseres Glaubens ruht. Darf ich den Heiligen Vater auf ein Buch aufmerksam machen, das der Untergang unseres Glaubens sein wird?

O ja, das hätte Papst Clemens wachgerüttelt – wenigstens in der Theorie. Die Praxis, wie sie sich nun innerhalb weniger Sekundenbruchteile als zweites Gesicht vor Pater Hernandos innerem Auge abspielte, sah dagegen anders aus.

Äh?

Ein Buch, Heiliger Vater…

Ah ja … du hast von der Neuausgabe des Index Librorum Prohibitorum erfahren, mein Sohn. Wir freuen Uns, dass ein aufrechter Bruder des heiligen Dominikus Uns bei der Arbeit der Neuauflage unterstützen will …

Nein, Heiliger Vater, ich meine ein ganz bestimmtes Buch …

Genau, mein Sohn, der Index der verbotenen Bücher. Es kann nie zu viele davon geben, nicht wahr?

Das meine ich, Heiliger Vater … und daher möchte ich …

Exakt. Unser Privatsekretär wird dir einen Platz im Archiv zuweisen, mein Sohn. Wir sehen, dass du es kaum erwarten kannst, in die Katakomben hinunterzusteigen. Der Herr sei mit dir.

Pater Hernando zitterte. Seit er seinen Entschluss gefasst hatte, war es ihm nie so klar gewesen, dass er ganz allein war. Von seinem früheren Leben, von seinen früheren Gefährten hatte er sich durch die Todsünden losgesagt, die er begangen hatte, und vor seinen neuen Gefährten und deren Plänen graute es ihm, seit ihm aufgegangen war, wozu sie ihn missbraucht hatten. Er hatte sie auf Pater Xavier gebracht. Es war seine Schuld. Er hatte ihnen das Werkzeug verschafft, mit dem sie das Buch des Teufels der Vergessenheit entreißen und es über die Menschheit bringen konnten. Mea culpa, mea maxima culpa. Es gab niemanden, der ihm ein Ego te absolvo ins Ohr flüstern konnte, weil es niemanden gab, der ihm vergeben würde.

Das freundliche Lächeln des Papstes hatte sich noch nicht einmal in eine erstaunte Miene gewandelt. Pater Hernando stand stocksteif auf seinem Platz, anstatt vorzutreten. Dann fuhr der Dominikaner herum, senkte den Kopf und eilte an der langen Reihe der Bittsteller, die hinter ihm standen, vorbei nach draußen.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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