Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 49
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ОглавлениеDas Haus in Prag war kaum anders als das in Wien: zwei Obergeschosse auf einem doppelt hohen Erdgeschoss, ruhend auf den Lager-, Keller- und Verkaufsräumen, gekrönt von einem Dachspeicher; dazwischen: dunkle, kleine Räume, die sich um ein breites, repräsentatives Treppenhaus anordneten und die weniger gemütlich als vielmehr voll gestopft waren mit wertvollen Tischen, Schränken, Kaminverzierungen und unablässig tickenden, tanzenden, sich drehenden, schwingenden, pendelnden, gurgelnden, summenden Uhren, die sich mit den Singvögeln in den Käfigen verbissene Wettbewerbe in der Disziplin lieferten, den Hausbewohnern den letzten Nerv zu rauben. Wo die Schatten in den Räumen am dunkelsten waren, brannten Kerzen und rußten die Wände ein. Es gab sogar mehr Freiheit für Agnes hier als zu Hause: in der Kärntner Straße hatte sie in einem Raum zusammen mit ihrer Magd und zwei jungen Küchendirnen geschlafen und hatte das Zimmer außerdem mit der verwitweten Schwester ihres Vaters geteilt, sobald diese auf Besuch war.
Hier, im Haus beim Goldenen Brunnen, nur einen Steinwurf weit weg von der mächtigen Baustelle des Jesuitenklosters und in einem der ältesten Teile der ganzen Stadt, verfügte Agnes über einen Raum im obersten Geschoss nur für sich und ihre Magd. Der Rest des Gesindes lebte im Dachgeschoss oder im Keller, und das Bett, das in Agnes’ Stube stand, war so breit, dass man sich bei einiger Mühe vorstellen konnte, ganz allein darin zu liegen – und wenn man die Angewohnheit der Magd ignorierte, sich in der Nacht herumzudrehen und Agnes dicht an sich heranzuziehen, weil sie im Schlaf vergessen hatte, dass ihr Schützling kein kleines Kind mehr war, das Geborgenheit suchte.
Und dennoch war das ganze Haus für sie ein Gefängnis. Wenn sie zum Fenster hinausstarrte und den Brunnen betrachtete, über dem man einen schmiedeeisernen Käfig errichtet hatte, war ihr zumute, als wäre die Gitterkonstruktion in Wahrheit über ihrem Leben errichtet worden.
Agnes sah blicklos in die Düsternis. Der späte Februar war keine lichte Zeit, schon gar nicht in Prag. Sie lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge der ältlichen Frau neben sich und auf das ununterscheidbare Stimmengewirr, das aus der großen Stube im ersten Geschoss zu ihr nach oben driftete. Sie war einmal mehr aus diesem großen Raum geflohen, in dem sich zu den zwei Hauptmahlzeiten des Tages alle Komödianten der Tragödie trafen, die hier aufgeführt wurde; Titel: Agnes’ Wiegants Weg In Die Dunkelheit. Ein Trauerspiel In Drei Akten.
Die Dunkelheit war ihre Zukunft, der Weg dorthin führte über die Hochzeit mit Sebastian Wilfing, und sie war auf diesem Weg schon ein gehöriges Stück vorangekommen. Genau genommen befand sie sich am Ende des zweiten Akts. Der Verrat des Geliebten hatte schon stattgefunden, die Entführung der Heldin ebenfalls … Was blieb, war der Pomp der Hochzeitsfeierlichkeiten, die nach Ostern stattfinden würden, und als Anticlimax das langsame Verlöschen der Heldin in der verhassten Ehe mit einem ungeliebten Gatten, während ihre Gedanken um den Mann kreisten, den sie geliebt und der sie ihrem Untergang ausgeliefert hatte.
Die Mahlzeiten waren kaum erträglich für sie. Sie saß schweigend inmitten des Geplappers von Menschen, die wussten, dass einer unter ihnen Finsternis in seiner Seele spürte, und die sich dennoch nach Kräften bemühen, so zu tun, als würden sie es gar nicht bemerken. Was war heute das Thema gewesen? Der Frühling wollte dieses Jahr gar nicht kommen … In Wien würde man schon die ersten Schneeglöckchen sehen … Es lag an der Kessellage hier in Prag, da konnte die Kälte nicht abziehen … Der Vorteil war, dass man wenigstens noch nicht im Matsch in den Gassen versank; es ging die Sage, dass in Wien jedes Frühjahr ganze Ochsenkarren samt Zugtieren, Ladung und Lenker im Morast versanken und nie wieder gefunden wurden … Und wenn dann der erste warme Windhauch kam, zitterten die weißen Blüten, und man wusste, dass der Lenz endlich da war … Ja, und gleich danach ersaufen deine Schneeglöckchen im Matsch, zusammen mit den Ochsenkarren … AAAAHahaha … hahahahAAAA … äh? ... was ist los, Agnes, iss doch wenigstens was, mein Kind.
In Agnes’ Herz würde der Frühling niemals ankommen. In ihm war Winter, seit sie Hals über Kopf Wien verlassen und hierher nach Prag gekommen waren, und eine eisige Kälte, wenn sie zurückdachte, wie Cyprian sie verraten und sein Versprechen gebrochen hatte. Virginia? Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Und – am bittersten von allen: Wir müssen uns nicht verstecken oder weglaufen. Nein, wir gehen ihnen entgegen. Statt ihrem Vater und den anderen entgegenzugehen, hatte Cyprian die Beine in die Hand genommen. Nicht, dass sie ihm unterstellt hätte, es aus Feigheit getan zu haben. Nein, es war seine Sturheit gewesen, seine gnadenlose Halsstarrigkeit, wenn er ein Verhalten für sich als richtig und ehrenhaft einschätzte; er würde dann nicht mehr anders handeln, und wenn alle Heiligen selbst auferstünden, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Alles, was er getan hatte, war, sie zu beschwichtigen, sie zu beruhigen, ihr Rauch in die Augen zu blasen mit seinen Beteuerungen, dass er seine Meinung geändert habe und mit ihr fliehen wolle. In Wahrheit hatte immer noch gegolten, was er zuvor gesagt hatte: dass er es für falsch hielt, gemeinsam zu fliehen anstatt mit dem Segen ihrer Familie zu gehen. Und wenn Herr Khlesl etwas für falsch hielt, dann hatte es falsch zu sein, und zwar für die ganze Welt! Natürlich hatte er sie nicht aus Boshaftigkeit angelogen, sondern um sie zu schonen, um die Erkenntnis abzupuffern, dass ihre Liebe sinnlos war. Sie hasste ihn dafür umso mehr. Wie hatte er sich so in der Gewalt haben können, zu seinen falschen Schwüren auch noch zu lächeln, obwohl er wusste, dass die Konsequenz daraus das Todesurteil ihrer Liebe war! Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass Cyprian sie liebte; das machte es nur umso schlimmer. Er hatte nicht nur ihr, sondern auch sich selbst den Dolch ins Herz gestoßen. Sie hasste ihn jetzt, sie hasste ihn, und gleichzeitig war jeder Tag, an dem er nicht in ihrer Nähe war, ein dunkler Tag aus Asche und sinnlos vertickenden Stunden.
Sie dachte an das Ritual, das sich all den Mahlzeiten anschloss, bei denen sie kaum etwas zu sich nahm (also den meisten): Jemand legte ihr etwas vor. In der Regel war es ihr Verlobter. Sein rundes, blondbärtiges Gesicht war besorgt. „Iss doch was, Agnes“, sagte er fast jedes Mal. „Du bist schon ganz dünn.“
„Kein Hunger“, sagte sie.
„Du musst mehr essen, sonst holst du dir in der Saukälte hier noch den Tod. Ich mach mir doch bloß Sorgen um dich, Liebes.“
Liebes!
Seit ihrer Ankunft hier war Sebastian von ausgesuchter Höflichkeit und Zuvorkommenheit gewesen. Er hatte es geduldet, dass sie sich tagelang in ihrem Zimmer aufgehalten hatte; er hatte es hingenommen, dass sie sich danach geweigert hatte, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen; er hatte es ertragen, dass sie einige Male einen Teller, auf dem er ihr vorgelegt hatte, einfach wortlos umgedreht und den Inhalt auf den Boden geschüttet hatte. Wenn Theresia Wiegant ihre Tochter mit beißenden Worten zurechtwies, dass man meinte, die Temperatur fiele noch ein paar weitere Grade, hatte er Agnes in Schutz genommen; wenn Niklas Wiegant ihr versucht hatte zuzureden, hatte er gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Er war ein Mann mit einem Bauch, der für sein Alter zu groß war, O-Beinen, runden Schultern und einem klotzigen Kopf, dem man ansah, dass er halbwegs gut aussehend hätte sein können, wenn nicht so viel Speck an ihm gehangen wäre; nur wenn er lächelte, kam etwas von dem Charme durch, den seine Züge früher gehabt hatten.
Mit der Zeit hatte Agnes festgestellt, dass ihre Wut gegen Cyprian größer war als die gegen Sebastian, und das hatte sie noch mehr entsetzt als alles andere. Sie ertappte sich zusehends dabei, dass es ihr ein schlechtes Gewissen bereitete, ihn zu schneiden. Er war ihr noch kein einziges Mal zu nahe getreten, hatte noch nicht einmal so viel getan wie die Hand auf ihre Stuhllehne zu legen. Wenn man in ganz Prag nach einem Mann suchte, der sich seiner Verlobten gegenüber absolut untadelig, ritterlich und liebenswert verhielt, dann hätte man zuerst in das Haus der Familie Wilfing gehen und nach dem jungen Herrn fragen müssen.
Als das Stimmengewirr unten abrupt abbrach, meinte Agnes die Stille klingen zu hören. Dann hörte sie, wie ein Stuhl umfiel – der Laut flatterte durch das Treppenhaus. Sie fuhr zusammen.
„Nein!“, hörte sie die Stimme von Sebastian Wilfing senior, zuverlässig in höchste Tonlagen steuernd. Sie schnitt durch zwei Deckenkonstruktionen aus Brettern, Stroh und Parkett, als wäre es nichts. „Das ist unsere Sache als Hausherren …“ Seine Stimme brach und schnappte über.
Die Hausherren waren Sebastian senior und Agnes’ Vater gemeinsam. Sie hatten nebeneinander liegende Häuser auf dem dreieckigen Platz gekauft, in dessen Mitte der Goldene Brunnen lag, hatten sie umbauen lassen und in eine Art Festung von Geschäftssinn und Partnerschaft verwandelt, in der beide Familien samt Gesinde und Kontoristen Platz gefunden hätten, selbst wenn im Hause Wiegant außer Agnes noch andere Kinder gewesen wären und wenn Sebastian Wilfing nicht seine jüngeren Sprösslinge in der Obhut eines Bruders in Wien gelassen hätte. Seit ihrer gemeinsamen Ankunft hier in Prag hatte sich allerdings eine Konstellation ergeben, in der Sebastian junior wie der Hausherr auftrat, Sebastian senior und Niklas Wiegant ihm die Zügel ließen, Theresia Wiegant mit einem Gesicht, mit dem man Eier hätte abschrecken können, dabei zusah und Agnes der Sand im Getriebe dieses künstlich aufrecht erhaltenen Ablaufs war. Agnes hörte die Schritte der beiden älteren Männer im Treppenhaus. Sie erstarrte, als sie dachte, sie kämen nach oben, doch dann wurde ihr klar, dass Niklas und Sebastian nach unten eilten.
Das Geschehen unterschied sich so massiv von der Komödie der letzten Wochen, dass Agnes plötzlich Neugier empfand. Sie schlüpfte aus dem Bett, huschte über den kalten Bretterboden und spähte zum Fenster hinaus. Mit etwas Mühe konnte sie den Gassenabschnitt direkt vor ihrem Eingang einsehen. Sie erkannte die langen Schatten, die drei Gestalten warfen und die von diesen und dem beleuchteten Eingang wegstrebten. Zwei der Schatten gehörten zum Gesinde, der dritte stand mitten vor dem Eingang und schien von den anderen beiden aufgehalten worden zu sein. Das dicke Glas verzerrte und beschlug sich von Agnes’ Atem. Sie wischte mit dem Handballen darüber.
Die dritte Gestalt stand reglos in der Gasse, eine breite Kappe mit drei Hörnern bedeckte den Kopf, ein langer Magistratsmantel mit einem mächtigen Pelzkragen versteckte das Gesicht. Überrascht wurde ihr klar, dass die Kopfbedeckung ein Birett war und zu einem Priester gehörte.
Als sie beobachtete, wie ihr Vater und Sebastian Wilfing senior die Gasse betraten und dicht vor dem Priester stehen blieben, öffnete sie vorsichtig den Riegel und zog das Fenster ein Stück auf. Die Kälte strömte herein und machte ihr bewusst, dass sie nur ihr Hemd trug.
„Du kannst hier nicht herein“, hörte sie ihren Vater sagen und erinnerte sich plötzlich an den Dominikanerpater, der vor ungefähr einem ganzen Leben in ihrem Haus in Wien aufgetaucht war und den Vater herzlich begrüßt hatte. Sie merkte, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen war. Es machte sie so ärgerlich, dass sie die Fäuste ballte und wieder ans Fenster trat. Die Versuchung, den nächstbesten schweren Gegenstand zu nehmen und ihn aus zehn Klaftern Höhe auf das Birett fallen zu lassen, war fast unwiderstehlich. Sie dachte an den fühllosen Blick, mit dem der Dominikaner sie in der Stube ihres Vaters in Wien betrachtet hatte, und erschauerte vor Wut und Furcht gleichermaßen.
Der Priester murmelte etwas.
„Nein“, sagte Niklas Wiegant. „Der Respekt vor deinem Gewand geht nicht so weit.“
„Wie hast du uns überhaupt hier gefunden?“, quiekte Sebastian Wilfing, räusperte sich und brummte: „… gefunden?“
„Das spielt keine Rolle, Sebastian. Er darf nicht eintreten. Nicht mehr. Zu viel ist geschehen seit seinem letzten Besuch.“
Agnes verfolgte den Wortwechsel überrascht. Sie hätte nie erwartet, dass ihr Vater gegen seinen alten Gefährten aus spanischen Zeiten Stellung beziehen würde, und doch hörte sie ihm soeben dabei zu. Und Sebastian Wilfing leistete ihm sogar Beistand. Ein Gefühl, das sie selbst nicht hätte beschreiben können, regte sich in ihrem Leib. Agnes war sich bis auf die letzten Monate der Liebe ihres Vaters stets sicher gewesen, und nun schien es plötzlich, als könne sie dies wieder sein: der Dominikaner war gekommen und hatte aus Agnes’ Existenz einen Trümmerhaufen gemacht, und Agnes’ Vater hielt seinem alten Freund dies nun vor und verweigerte ihm den Zutritt zu ihrem Haus. Ihr Herz schlug heftig. Sie bemerkte nicht, dass die Stimme in ihr, die in der letzten Zeit stets mechanisch Einspruch erhoben hatte, wenn sie an Niklas Wiegant als ihren Vater dachte, diesmal schwieg.
Der Priester machte einen Schritt vorwärts, als wolle er einfach zwischen den beiden Männern hindurchgehen. Niklas Wiegant und Sebastian Wilfing nahmen sich an den Händen und versperrten ihm den Weg. Agnes hielt den Atem an. Die beiden Alten machten den Eindruck, als würden sie sich eher totschlagen lassen, als dem dunklen Priester auch nur eine Elle weiteren Raum zu geben.
Sie sah das Birett langsam nicken. Am liebsten hätte sie die Faust aus dem Fenster gereckt und geschrieen: „Zieh ab, du Teufel!“ Sie besaß genug Geistesgegenwart, sich stattdessen am Fenstergriff festzuhalten, als wolle sie ihn herausreißen.
Der dunkle Mann wandte sich ab, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Seine schwarze Kleidung verschmolz mit seinem Schatten und dieser mit der Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises des Hauseingangs. Dann drehte er sich um und sah über die Schulter nach oben – als ob er gespürt hätte, dass Agnes dort oben stand. Sie wollte zurückweichen, doch dann traf sein Blick sie, und sie blieb stehen. Es gab keine Beine mehr, die sie hätten tragen können; es gab keinen Körper mehr, der so etwas wie Beine aufgewiesen hätte. Alles, was es gab, war ihre Seele, und dass sie nicht im selben Augenblick verging, lag an den Augen des dunklen Priesters, die sie bannten. Alles, was sie sah, war sein Blick. Alles, was sie hörte, war der Schlag ihres Herzens, der hallte, als poche es in einer weiten, menschenleeren Kathedrale. Hinterher fragte sie sich, ob der Mann unten in der Gasse sie überhaupt hatte sehen können, doch im Moment des Geschehens gab es keinerlei Zweifel, dass er sie erkannte. Sie erkannte ihn ja ebenso.
Der dunkle Priester war Cyprian Khlesl.
Das Haus war erst zur Ruhe gekommen, als man draußen die Nachtwache schon ihre Runden ziehen hörte: Alles ist gut! Tatsächlich war nichts gut. Agnes lag auf ihrer Seite des Bettes, versuchte flach zu atmen und nicht von ihrem eigenen Pulsschlag erstickt zu werden. Es hatte Geschrei gegeben. Zum ersten Mal war Agnes bewusst geworden, dass die Stimme Sebastian Wilfing juniors in der Aufregung ebenso quiekte wie die seines Vaters. Sie hatte jedes Wort verstehen können; von der eher rätselhaften Tirade darüber, dass auf niemanden Verlass sei und jeder Richter in Wien sein Fähnlein in den gerade am stärksten wehenden Wind hänge statt in den steten Lufthauch der Gerechtigkeit, bis zu der erstaunlich vielfältigen Eruption von Schimpfwörtern, mit denen der junge Herr Khlesl bedacht wurde und der dem Nimbus des jungen Herrn Wilfing als beispielhafter Lieblingsschwiegersohn eine größere Delle verpasst hätte, hätte ihn jemand anderer gehört als die Menschen, die ihn ohnehin kannten. Als sich die Lage endlich beruhigte, hatte das Haus förmlich nachvibriert in dem Hass, der in der Stube im ersten Stock freigelassen worden war.
Die Magd schniefte und schmatzte im Schlaf. Agnes horchte auf das Knacken, mit dem sich Balken entspannten, als die unsichere Wärme im Inneren des Hauses von der Februarkälte besiegt wurde, auf das Ticken der Holzkäfer im Gebälk und auf die Geräusche, die von den Bewohnern des Hauses kamen und darauf hingedeutet hätten, dass noch jemand wach war. Was Letzteres betraf, so hätten sie und die Magd ganz allein in dem mächtigen Bau sein können.
Agnes fühlte ihren Herzschlag in der Kehle, als sie sich langsam aufrichtete. Es war ihr nie aufgefallen, wie sehr das Bett sich bewegte, wenn man darin nicht still lag. Der Atem der Magd geriet ins Stocken. Agnes wagte nicht einmal mehr zu schlucken. Die Magd begann zu schnarchen. Agnes schwang die Beine aus dem Bett und tastete nach ihren Schuhen. Erst als das kalte Leder ihre Füße umfing und ihre Haut in der Kälte zu kribbeln begann, wagte sie wieder zu atmen. Ihr Herz pochte in ihren Ohren.
Sie stand auf – der Holzboden knarrte. Sie verfluchte ihn und hätte gleichzeitig weinen mögen vor Anspannung. Der Weg zur Tür dauerte eine Ewigkeit und war verseucht mit unebenen Dielen, über die man stolperte, schwingenden Brettern, die quietschten, und Hohlstellen unter der Vertäfelung, auf denen sogar eine Katzenpfote einen hallenden Tritt verursacht hätte. Als sie an der Tür war, fühlte Agnes die Kälte im Raum nicht mehr; ihre Wangen waren erhitzt. Sie zog die Tür zollweise auf und schloss bei jedem kleinen Knarr- und Quietschlaut die Augen vor Entsetzen. Sie war selbst am meisten erstaunt, als sie endlich im Treppenhaus stand und niemand wach geworden war.
Am oberen Ende des Treppenabsatzes blakte ein blaues Flämmchen in einer Tranlaterne und würde vielleicht noch eine weitere Viertelstunde brennen; kurz vor seinem Ende würde ein halbwacher Dienstbote heranschlurfen und sich die Finger verbrennen beim Nachfüllen des Trans. Die Herren Wiegant und Wilfing ließen sich die Minderung des Risikos, sich bei einem nächtlichen Ausflug auf den Abtritt im geräumigen Treppenhaus den Hals zu brechen, etwas kosten. Am Treppenabsatz des ersten Stockwerks brannte eine weitere Laterne, eine dritte würde im Erdgeschoss zu finden sein. Agnes tastete sich auf Samtpfoten die Stufen hinunter.
Die Eingangstür war zweiflüglig und hätte einem Türkenangriff geraume Zeit standgehalten. Unter den vielen Eisennägeln war das Holz kaum zu sehen; der Riegel war eine Angelegenheit aus Eisenbändern, Haken und Metallstangen, der das Jahresauskommen eines Schmieds samt Frau, Kindern und schmarotzendem Schwager gesichert haben musste. Agnes umklammerte ihn. Dann zögerte sie. Auf einmal war ihr klar, dass etwas enden würde, wenn sie dort hinaus ging, etwas, dessen Ende begonnen hatte, als sie sich auf dem Kärntnertor von Cyprian getrennt hatte. Die Monate seither waren nur eine Verzögerung gewesen. Zugleich würde etwas anderes anfangen. Ihre Hand erlahmte, als der Verräter, der in uns allen sitzt und auf den rechten Zeitpunkt wartet, um sich zu melden, hervorkam und sie fragte, ob der Komfort eines großen Hauses, eines reichen Ehemannes, einer gesicherten Zukunft etwas war, das man unbedingt aufs Spiel setzen musste. Und wofür? Außerdem war es kalt, man war mangelhaft bekleidet und würde sich den Tod holen, ganz zu schweigen von der Nachtwache, die mit Sicherheit in dem Moment vorbeikam, an dem man im Hemd auf die Gasse huschte, und erklär diesen Skandal mal der Familie, die du bis jetzt mit Melancholie, Wortkargheit, Trotzanfällen und beständig finsterer Miene für dich eingenommen hast.
Agnes hing am Riegel, plötzlich überzeugt, dass es egal war, was sie tun würde, weil alles in die Katastrophe führte, und dass der einzig richtige Schritt der gewesen wäre, im Bett zu bleiben und sich die ganze Nacht vorzusagen: ich-kenne-keinen-Cyprian-Khlesl-ich-kenne-keinen-Cyprian-Khlesl … Dann legte sich eine Hand auf ihre Faust, und wenn sie mehr Kraft gehabt hätte, hätte sie wie am Spieß geschrieen vor Schreck.
„Der vermaledeite Riegel hat einen Federmechanismus“, sagte eine Stimme hinter ihr. „Wenn du ihn nicht arretierst, sperrst du dich aus.“
Agnes drehte sich um auf Beinen aus Werg. Im Licht der Tranlampe ein paar Schritt entfernt schwamm das Gesicht ihrer Magd, in der Düsternis magisch verjüngt zu der Person, die Agnes dem Kind zum ersten Mal vorgestellt worden war, nachdem die Vorgängerin das Missfallen Theresia Wiegants erregt hatte. Fünfzehn Jahre waren eine lange Zeit … Das Gesicht lächelte traurig und bekam ein paar Falten und war wieder das Antlitz der ältlichen Frau, die allnächtlich neben Agnes im Bett schnarchte und bei der man sich darauf verlassen konnte, dass sie einen im letzten Moment an der Tür abfing und einen Mantel aufdrängte, weil es draußen angeblich zu kalt war und weil alle Kindermägde, die das Leben ihres Schützlings vierundzwanzig Stunden am Tag teilen, einen siebten Sinn haben, der ihnen sagt, wann ihr Lebensinhalt eine Tür öffnet, um draußen eine Dummheit zu begehen.
„Ich habe dir einen Mantel mitgebracht“, sagte die Magd und hängte ihn der widerstandslosen Agnes um die Schultern.
„Es ist Cyprian“, sagte Agnes. „Er ist wieder da.“
„Ich weiß, Kindchen. Seit gestern. Er hat sich nach dir erkundigt, aber ich durfte es dir nicht verraten. Er ist jetzt ein Hochwürden.“
Agnes fühlte die Tränen, die jeder Herzschlag ihr in die Augen treiben wollte. Sie hatte gedacht, ihn verloren zu haben. Nun wusste sie, dass sie ihn verloren hatte. „Hochwürden …“, flüsterte sie.
„Ich würde dir raten, geh nicht hinaus“, sagte die Magd. „Aber ich weiß, dass du trotzdem gehen wirst, also mache ich mir erst gar nicht die Mühe. Ich an deiner Stelle würde nicht gehen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich dein Leben gelebt habe und nicht mein eigenes. Ich liebe dich, Kindchen, das weißt du. Wenn du hinausgehst, wirst du wahrscheinlich unglücklich werden. Wenn du hier bleibst, wirst du auf jeden Fall unglücklich.“ Zu Agnes grenzenloser Überraschung wurde das Lächeln der Frau breiter. „Was immer er jetzt ist und was immer du bist: vielleicht habt ihr nur eine einzige Stunde miteinander. Manchmal kann man sich an einer einzigen Stunde ein Leben lang festhalten. Tu, was Gott der Herr dir zu tun eingegeben hat.“
Die Magd griff an Agnes vorbei und zog den Riegel zurück. Er glitt geräuschlos aus dem Bügel. Die Tür öffnete sich einen Spalt und hauchte Eiseskälte herein. Agnes begann zu zittern.
„Ich warte hier auf dich und lasse dich wieder rein“, sagte die Magd.
Dann war Agnes draußen, die Tür schloss sich leise, die Dunkelheit war fast absolut und die Kälte mörderisch, was von der Umgebung zu sehen war, verschwamm hinter den Tränen in ihren Augen.
Aus dem schwarzen Abgrund einer Tordurchfahrt gegenüber löste sich ein Schatten und glitt auf sie zu, und wenn der Schatten in diesem Augenblick von ihr verlangt hätte, mit ihm gemeinsam zu sterben, hätte sie es getan.
Im Inneren des großzügigen Wagens war es nicht weniger kalt als draußen; der Luftzug fehlte, dafür schien sich eine Tasche ganz besonderer Kälte hier gehalten zu haben. Agnes schlotterte, kaum dass sie sich hingesetzt hatte. Das Leder der Sitze war wie ein Eisblock. Cyprian, eine massige Gestalt aus Finsternis, setzte sich ihr gegenüber, starrte sie wortlos an, zerrte sich den Mantel von den Schultern und hüllte sie darin ein, bevor sie protestieren konnte. Sie hätte ihm sagen können, dass auch ein dritter Mantel nutzlos gewesen wäre, weil die Kälte aus ihrem Inneren kam. Cyprians Kleidung roch nach ihm; der Duft stieß einen Eiszapfen in ihr erstarrtes Herz.
„Agnes“, sagte Cyprian. Seine Stimme brach kaum merklich. Es war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Etwas drehte ihr das Herz in der Brust herum und zerquetschte es, und der Schmerz war so schlimm, dass ihr die Tränen kamen.
„Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“, schluchzte sie.
„Ich wollte dich nicht allein lassen.“
„Du hattest mir versprochen …“
„Ich weiß. Mein Versprechen gilt immer noch.“
Sie hörte seine Worte kaum. Ihr Schluchzen kam so stoßweise, dass es ihr selbst in den Ohren klang.
„Wo bist du gewesen?“ Sie merkte, dass etwas in ihrer Kehle hochstieg und sich Bahn brach, bevor sie es aufhalten konnte. „Wo bist du GEWESEN?“, schrie sie.
Sie fühlte seine ruhige Musterung. In ihrem Hirn tobte ein Unwetter, das Wellen auftürmte. Die Wellen überschwemmten sie und ließen sie untergehen.
„Ich habe auf dich GEWARTET!“, schrie sie. „Gewartet! Mit einem Herz voller Hoffnung und dem Mund voller Lügen, wann immer mir jemand von meiner Familie oder vom Gesinde über den Weg lief. Den ganzen Tag habe ich darauf gewartet, dass du dein Versprechen wahr machst und mich holen kommst – ich habe selbst dann noch gewartet, als meine Eltern mich mit Gewalt aus Wien verschleppten. Ich habe nie gedacht, dass du mich im Stich lassen würdest! Ich habe noch gewartet, als wir schon fast hier in Prag angekommen waren!“
„Hast du aufgehört zu warten?“, fragte er.
Sie blinzelte verwirrt. Sie konnte ihm keine Antwort darauf geben. „Wo warst du?“, fragte sie ruhiger.
Er musterte sie weiterhin auf seine aufreizend ruhige Art. Sie sah seinen Atem, der in der Kälte sofort zu Dampf wurde. Auf dem Boden des Wagenkastens stand eine kleine Laterne, die Klappen halb geschlossen; von außen würde kaum Lichtschein zu sehen sein. In der Trübnis blitzten zwei matte Spitzlichter in seinen Augen. Auf seltsame Weise hatte sie den Eindruck, dass es plötzlich doch nicht mehr so kalt war. Sie zog seinen Mantel fester um die Schultern.
„Ich war im Gefängnis“, sagte er schließlich.
Sie stellte fest, dass sie nicht überrascht war. „Sebastian“, sagte sie. Sie erinnerte sich, dass Sebastian Wilfing an jenem Tag, an dem sie vergebens auf Cyprian gewartet und die Abreisevorbereitungen der beiden Familien Wiegant und Wilfing ungläubig ignoriert hatte, in ihr Haus gekommen, einem bepackten Dienstboten ausgewichen und gegen einen Balken gerannt war. Er hatte sich den geschwollenen Kieferknochen gerieben und gleichzeitig gelacht und gestöhnt, mit aufmerksamen Seitenblicken in ihre Richtung. In Agnes' Erinnerung schwamm ein Eindruck hoch, der damals in all dem beginnenden Entsetzen, das ihr Innerstes ausfüllte, fast untergegangen war. Sebastians Missgeschick hatte reichlich hölzern gewirkt. Sie hatte gedacht, er habe die Burleske aufgeführt, um sie zu erheitern. Danach hatte sie sein geschwollenes, geschundenes Gesicht gesehen und gedacht, dass es eine reichlich selbstzerstörerische Burleske war; und wieder danach hatte sie überhaupt nichts mehr gedacht, weil Cyprian immer noch nicht gekommen war und sie im Reisewagen saß und die Räder eilig über Pflaster und festgetretenen Dreck ratterten.
„Ich hatte mich darauf verlassen, dass Onkel Melchior mich rausholen würde, aber Onkel Melchior war bis nach Weihnachten in Rom. Er wollte Papst Innozenz unterstützen. Weißt du, dass Papst Innozenz tot ist?“
Sie nickte.
„Der dritte Papst innerhalb von nicht einmal zwei Jahren. Onkel Melchior ist überzeugt, dass das Ende der Welt nahe ist.“
„Meine Welt ist untergegangen, als du nicht kamst“, sagte sie. Diesmal war ihre Stimme ohne Vorwurf. Er erwiderte nichts.
Sie fühlte ein Verlangen, ihn zu berühren und an sich zu drücken, das ebenso stark war wie die plötzliche Wut, die sie überfallen hatte. Die Wut war spurlos verpufft und hatte dieses Verlangen nach seiner Berührung zurückgelassen, das schmerzte, weil es sich nicht erfüllte. Er bewegte sich keinen Zoll, und auch sie saß wie erstarrt. Sie hatte das Bild vor Augen, wie er unten vor dem Eingang gestanden hatte, ein Priester der Dunkelheit. Hochwürden …
„Was ist passiert?“, flüsterte sie.
„Onkel Melchior hat mich aus dem Kerker geholt, kaum dass er erfahren hatte, was geschehen war. Mein Bruder hat ganz am Anfang einen Versuch unternommen und dann aufgegeben. Die Wachen brachten mich hinaus, und da stand er, Melchior Khlesl, magerer und blasser denn je. Er sagte: 'Schön, wieder zurück zu sein.' Ich sagte: 'Ich bin deiner Ansicht.' Dann brachte er mich in seinen Palast, und ich nahm das erste Bad seit drei Monaten. Während einer seiner Diener mich rasierte, erzählte er mir, was in Rom geschehen war.“
„Was interessiert mich Rom?“, fragte sie. „Was ist mit dir geschehen?“ Sie machte eine schwache Handbewegung zu seiner Kleidung hin. Die Wärme, die im Inneren ihrer Höhle aus zwei Mänteln aufgekommen war, verflüchtigte sich wieder. Ihre Füße waren Eisklumpen.
„Onkel Melchior stellte eine Bedingung.“ Er zupfte an seinem Gewand herum.
„O mein Gott … Cyprian …“
Cyprian nickte. Dann lächelte er plötzlich breit. Er nahm das Birett, das er neben sich gelegt hatte, und reichte es ihr. Aus der Nähe erkannte sie, dass es nur die hohe Krone eines ganz normalen Huts war, an den erforderlichen Stellen eingedrückt und ohne Krempe. Cyprian lehnte sich zurück. Sie sah, dass seine Kleidung nicht die eines Priesters war, lediglich schwarz und schmucklos; was unter dem Mantel wie ein Priesterrock ausgesehen hatte, war lediglich ein dünnes Cape, und statt der Kesselpauke trug er eng anliegende, knielange Hosen. Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam: „Du hast gelogen.“
„Nein“, sagte er. „Ich habe nur nicht widersprochen, als dein Vater und der alte Wilfing glaubten, ich hätte den Eid abgelegt.“
Agnes legte das falsche Birett neben sich. Wenn man wusste, was es war, schien es unglaublich, dass man darauf hereingefallen war. Sie erinnerte sich an die Gefühle, die sie durchzuckt hatten, als ihre Magd „Hochwürden…“ gesagt hatte. „Du hast es sie glauben lassen.“
„Onkel Melchiors Einfluss reicht nicht bis nach Prag. Wenn deine Familie und die Wilfings glauben, ich sei Priester und nur dem Kirchenrecht unterworfen, dann fangen sie nicht an, die alten Anschuldigungen hervorzukramen. Und ich habe nicht mal eine Sünde begangen. Alles, was ich getan habe, war, einen alten Hut ein bisschen einzudellen und die Dunkelheit auszunutzen.“
„Du hast es mich glauben lassen“, sagte Agnes.
„Ich bin kein Priester“, sagte er. „Und ich will immer noch mein Versprechen einlösen.“
Sie sah auf. In den letzten Sekunden hatte sie ihm nicht in die Augen blicken können. Sie hatte befürchtet, er sähe darin die Fassungslosigkeit angesichts seiner Tat. Er hatte sich für schlau gehalten, und wahrscheinlich war er es auch. Was er nicht bedacht hatte, war der Dolchstoß, den sein Anblick ihr versetzt hatte.
„Welche Bedingung hat der Bischof dir gestellt?“, fragte sie tonlos.
„Weißt du noch, was ich zu dir gesagt habe – letzten Herbst auf dem Kärntnertor?“
„Jedes Wort.“
„Sag es.“
„Ein neues Leben. Eine jungfräuliche Welt. Ein neuer Anfang. Du und ich.“
„Ich habe auch gesagt, dass ich lieber mit dir zusammen in der Hölle wäre als allein im Paradies.“
„Ich war in der Hölle in den letzten drei Monaten“, flüsterte sie. „Allein.“
Seine Antwort dauerte lange. Sie wusste, dass sie sich nicht so verhielt, wie er es erwartet hatte, aber sie konnte nicht anders. Sie wollte in seinen Armen liegen und ihn gleichzeitig ohrfeigen; sie wollte ihn gleichzeitig küssen und ihm Beschimpfungen ins Gesicht schreien. Das Priestergewand hatte sich als keines entpuppt, und doch war seine Macht immer noch vorhanden – oder es war die Macht von etwas anderen, die Macht von drei Monaten in der Hölle – in seinem Fall das Malefizspitzbubenhaus, in ihrem Fall das Heim ihrer Familie in Prag –, von einem gebrochenen Versprechen, von sauer gewordenen Hoffnungen und einem verhungerten Traum, die zwischen ihnen stand und verhinderte, dass sie sich auch nur an den Fingerspitzen berührten.
„Ich bin hier“, sagte er. „Du warst nicht allein. Ich war in Gedanken stets bei dir.“
„Ich habe nichts davon gemerkt.“
Sie spürte, wie er sie zu ermessen versuchte. „Bin ich vergeblich gekommen?“, fragte er zuletzt.
Alles in ihr krampfte sich zusammen, dabei hatte sie die Frage kommen sehen. Ein Teil von ihr sah ihr dabei zu, wie sie die schwachen Grundfeste einriss, die ihre Liebe bisher gebaut hatte und die ihr ganzes Leben hätten tragen sollen, und schrie sich selbst an: Hör auf, hör auf, hör auf damit, dich und ihn zu zerstören! Doch der größere Teil, der, der von einem unentwirrbaren Gemisch aus Angst, Verlust und Enttäuschung angetrieben wurde, kickte und krallte und fetzte an jedem Mäuerchen, jeder Säule und jeder Tragkonstruktion ihres gemeinsamen Seelenhauses.
„Du bist nicht meinetwegen gekommen. Welche Bedingung hat Bischof Khlesl dir gestellt?“
„Ich bin deinetwegen nach Prag gekommen. Wärst du am anderen Ende der Welt, wäre ich dorthin gereist.“
„Hätte dir dein Onkel dann auch geholfen … mit seinem Wagen und allem?“
Cyprian antwortete nicht. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Der Mantel rutschte herab. Cyprian fasste herüber und zog ihn wieder hoch. Dann legte er einen Finger an ihre Wange. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Hand zu packen, ihn zu sich heranzuziehen und endlich, endlich in seine Arme zu fallen. Aber sie bewegte sich nicht. Cyprian zögerte, dann lehnte er sich wieder zurück. Sein Gesicht war weiterhin im Schatten, und selbst wenn sie es hätte sehen können, ahnte sie, dass er sich nicht anmerken hätte lassen, wie sehr sie ihn verletzte. Sie spürte es dennoch. Sie spürte die letzten Säulen und Grundmauern wanken.
„Wozu hat er dich verpflichtet?“
„Ich habe mich wieder in seinen Dienst gestellt.“
„Und die Aufgabe, die du für ihn erledigen sollst, hat dich zufällig nach Prag geführt. Was für ein Glück für mich.“
„Agnes“, sagte er ruhig. „Ich bin hier. Spielt sonst noch etwas eine Rolle?“
„Ist dein Lenker vertrauenswürdig?“
Sie sah ihn überrascht stutzen. „Ja“, sagte er.
„Gut.“ Etwas in ihr kreischte: Tu es nicht, tu es nicht so, gib ihm eine Chance! Sie ignorierte das Kreischen. „Gib ihm den Befehl, sofort loszufahren. Jetzt. Wir verlassen den Wagen erst wieder, wenn wir ein Schiff besteigen, das in die Neue Welt fährt. Jetzt sofort. Sag es ihm.“
Er rührte sich nicht. Agnes schnaubte.
„Ich habe nichts anderes erwartet“, sagte sie, während neue Tränen sie würgten.
„Ich halte mein Versprechen“, sagte er langsam. „Ich halte es nicht aus einer Verpflichtung heraus, sondern weil ich es will. Ich halte es, weil du der Mensch bist, mit dem ich mein Leben teilen will. Ich halte es, weil ich dich liebe. Aber ich muss zuerst etwas anderes erledigen.“
„Weil du auch das versprochen hast!“, stieß sie hervor.
Er nickte.
„Du bist ein Füllhorn voller Versprechen“, zischte sie. „Immer kommt noch mal ein neues oben drauf. Wann wird das, das du mir gegeben hast, unter all den anderen vergraben sein?“
„Es tut mir Leid, dass ich dich so sehr verletzt habe“, sagte er.
„Wir sind nur Spielbälle“, sagte sie. „Spielbälle in den Spielen schwarz gekleideter Männer mit Kutten oder Biretten. Ich, weil mein Vater zugelassen hat, dass es so gekommen ist, du, weil du dich selbst ergeben hast.“
Cyprian versuchte etwas zu sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
„Wo ist der Unterschied?“, fragte sie. „Was unterscheidet Bischof Melchior Khlesl von diesem Dominikanerpater? Sie ziehen an Fäden, und wir tanzen. Weißt du, was ich glaubte, als ich dich zuerst vor unserem Haus stehen sah und mein Vater und Sebastian Wilfing ließen dich nicht ein? Ich dachte, du seiest dieser Pater, diese kalte, seelenlose Schlange! So ähnlich bist du denen schon geworden, die dich lenken!“
Sie brach in Tränen aus. Der Mantel rutschte erneut von ihren Schultern. Sie spürte die Kälte nicht. Alles, was sie spürte, war der Schmerz, ihr eigener und der, den sie ihm zugefügt hatte. In ihrem Inneren hörte sie die Stimme weiterhin kreischen, die rief: Jetzt hast du endgültig die einzige Liebe zerstört, die dir je etwas bedeutet hat!