Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 51

6.

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Es war schwer genug, wenn die geografische Lage des nächsten Ziels als 'irgendwo östlich von Prag' beschrieben wurde.

Nordöstlich, südöstlich oder einfach nur östlich?

Keine Ahnung.

Wie weit entfernt von Prag?

Mindestens zwei Tagesreisen.

Es können aber auch mehr sein?

Keine Ahnung.

Indien liegt auch östlich von Prag, mindestens zwei Tagesreisen davon entfernt.

Haha, Cyprian. Ich habe glatt vergessen, wie man lacht.

Ich auch, Onkel.

Die Lage wurde nicht leichter, wenn man zudem gezwungen war, sich so vorsichtig und heimlich wie möglich näher zu erkundigen, sobald man in Prag angekommen war. Und vollends kompliziert war die Situation, wenn man den ganzen Tag nur daran dachte, dass man irgendeinen Fehler gemacht hatte und dass die Frau, die man liebte und derentwegen man sich auf das Ganze eingelassen hatte, plötzlich mit Wut, Schmerz und Hass auf diese Liebe reagierte.

Onkel Melchior war nicht untätig gewesen in jenen Wochen in Rom, in denen Giovanni Facchinetti die ersten Schritte in seinem neuen Amt unternommen hatte und während derer der Bischof sein enger Vertrauter gewesen war. Doch alles, was seine Recherchen ergeben hatten, waren vage Hinweise gewesen – halb verwischte Spuren, die zu alten Benediktinischen Klöstern führten, zu vormaligen kirchlichen Zentren, über die die Zerstörungswut der Hussitenkriege gekommen war. Die deutlichste Spur wies nach Brevnov bei Prag, doch Brevnov war zu unbedeutend und durchsichtig, als dass es das Versteck der Teufelsbibel hätte sein können. Brevnov war nur ein kleines Kloster, eine späte Gründung, deren Wurzeln viel weiter östlich lagen, an einem Ort, der bei jedem, den man fragte, Schulterzucken hervorrief. Podlaschitz …

Cyprian saß im Wagen, auf dem das Wappen des Bischofs von Wiener Neustadt prangte, schaukelte in einen düsteren Februartag hinein und starrte blicklos auf das sanft gewellte Land, grauscheckig unter dem Reif, der Schnee durchsetzt mit dem Flickwerk aus Wäldern und Dörfern, schmutzigbraun und trist, eine Reise in die Trübnis.

Drei Tage … er wusste, dass seine Reisegeschwindigkeit am untersten Ende der Möglichkeiten lag, und wer sich darüber Gedanken machen wollte, konnte entweder zum Schluss kommen, dass Cyprian den Wagenlenker auf seinem Bock neben der Februarkälte nicht auch noch schneidendem Fahrtwind aussetzen wollte und ihn deshalb in seiner langsamen Fahrt gewähren ließ – oder dass etwas hinter ihm in Prag lag, das ihn mit einer unüberhörbaren Stimme zurückhielt.

Drei Tage … rechnete man die zwei Tage hinzu, die er vor der Abreise gebraucht hatte, um herauszufinden, dass sein Ziel in der Nähe der Stadt Chrudim liegen musste, waren es fünf, in denen sein Körper die richtigen Bewegungen gemacht und sein Mund die richtigen Fragen gestellt hatte, während sein Geist sich anderweitig beschäftigte; nämlich mit Agnes Wiegant und der Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, im Gefängnis zu bleiben und wenigstens an der Hoffnung festhalten zu können.

Der Wagen hielt mit einem sanften Ruck an. Cyprian lehnte sich nach draußen.

„Sichte Fahrzeug voraus“, meldete der Lenker. „Scheint ’ne Panne zu haben, Baas.“

„Was hat er?“

„Sitzt fest. Beschädigt. Kaputt.“, übersetzte der Lenker. „In ’ner Flaute gelandet sein heißt’s auf See, Baas.“

Onkel Melchior hatte Cyprian Anweisungen gegeben, wo in Prag er sich sein Personal aussuchen sollte. Letztlich hatte Cyprian nur jemanden gebraucht, der sich in der Gegend auskannte, Cyprians Sprache beherrschte und den Wagenlenker ersetzen konnte, der Cyprian nach Prag gebracht hatte. Er hatte seinen Mann unter den Moldaufischern gefunden, ein Kerl wie ein verwitterter alter Wurzelstock mit nur einem Bein, der seinen eigenen Angaben nach zur See gefahren war und sein anderes Bein dort gelassen hatte, woraufhin er in seine Heimat zurückgekehrt und dem Element Wasser, diesmal in Form der Flüsse Moldau, Beraun und Elbe, auf denen er Waren transportierte, einen Unterarm geopfert hatte. Die fehlenden Gliedmaßen hatte er durch Holzstümpfe ersetzt und zumindest in Cyprians Gegenwart noch keine Sekunde lang erkennen lassen, dass er sich in irgendeiner Weise behindert fühlte. Benachteiligt fühlte sich eher Cyprian, der nur die Hälfte der Ausdrücke verstand, die der alte Seebär gewohnheitsmäßig benutzte. Der Anrede „Baas“ hatte er sich schon längst ergeben; er mutmaßte, es bedeutete soviel wie Meister und hätte sich auch nicht gewundert, wenn es „Vollidiot“ geheißen hätte. Letzteres war die Anrede, die Cyprian im Zwiegespräch mit sich selbst verwendete.

„Soll’n wir ihn bergen, Baas?“, fragte der Lenker. Er wartete einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Abschleppen, mein’ ich.“

Cyprian kletterte aus dem Wagen und kniff die Augen zusammen. Die Straße verlief fast gerade und hob und senkte sich mit dem Landschaftsprofil. Hinter dem Abbruch der letzten Bodenwelle ragten die kahlen Äste eine Baumreihe hervor. Cyprian wusste mittlerweile, dass diese einen Flusslauf oder wenigstens einen Bach andeuteten und dass ihnen demnächst entweder die wacklige Überfahrt über unzulänglich begradigte Holzstämme oder die Suche nach einem Fährmann bevorstand, der keine wirkliche Lust hatte, sich wegen eines vereinzelten Reisewagens mit eiskaltem Flusswasser nass zu machen. Bislang hatten sie drei Erfahrungen mit Fährleuten gemacht. Beim ersten hatten sie höflich vor seiner Hütte gewartet, bis das Ächzen und Stöhnen und rhythmische Stoßen verklungen war und der Mann nach draußen stolperte, sich im Gehen die Hosen zubindend; mit dem zweiten hatten sie erbittert um den Preis gefeilscht, bis Cyprians Wagenlenker ihm die Unterarmprothese über den Schädel gezogen hatte; der dritte war so betrunken gewesen, dass Cyprian sich auf die Seemannskenntnisse seines Lenkers verlassen und gehofft hatte, sie würden sich auch auf den Betrieb eines an Seilen hängenden Bretts in einem halb zugefrorenen Fluss anwenden lassen. Vor dem unscharfen Hintergrund der Äste konnte Cyprian einen kleinen Wagen ausmachen, der quer über die Straße stand.

„Das sieht aus wie eine Blockade von Wegelagerern“, sagte Cyprian.

„Was, mit so ’nem kleinen Schlickrutscher? Nä, Baas, keine Sorge. Den stoßen wir in’ Schiet mit unserm Kahn, wenn wir’s drauf anlegen, ohne dass uns auch nur ’n Steert wackelt.“

„Schön“, sagte Cyprian. „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber ich entnehme, dass ich beruhigt sein darf.“

„Außerdem hab ich den Wagen schon gesehen. Der hat uns heute Morgen bei der Kreuzung hinter Tschaslau überholt.“

„Hab ich nicht bemerkt.“

„Macht nix, Baas.“

„Vor oder nach der Kreuzung?“

Der Wagenlenker starrte verständnislos von seiner Sitzposition herab.

„Hat er uns vor oder nach der Kreuzung überholt?“

„In Lee, Baas.“ Pause. „Nachher, mein’ ich.“

Cyprian nickte. „Dann schauen wir mal, was es mit den Leuten auf sich hat. Leinen los!“

Der Wagenlenker strahlte überrascht. „Ahoi, Baas!“

Die Leute entpuppten sich als junges Paar, das, wären sie nicht allein mit ihrem Wagenlenker unterwegs gewesen, Cyprian als frisch vermählt und auf der Reise zu einem neuen Wohnort eingeschätzt hätte. Sie gingen vorsichtig und mit der Zärtlichkeit von Menschen miteinander um, die sich erst noch genauer kennen lernen müssen, aber das Gefühl haben, dass der jeweils andere ein Seelenverwandter war. Die junge Frau wirkte zurückhaltender als der junge Mann, als habe sie einen Rest Misstrauen zurückbehalten; er hingegen, das war für einen scharfen Beobachter deutlich zu sehen, war ihr bereits völlig verfallen. Cyprian hätte in sich hineingegrinst, hätten sie ihm nicht deutlich vor Augen geführt, was er mit Agnes nicht hatte und wahrscheinlich niemals haben würde. Sie war mittelgroß und zierlich, so weit man das in der Rüstung sagen konnte, aus der die spanische Mode bestand; sie wirkte wie ein Mädchen, aber Cyprian konnte in ihren Augen lesen, dass sie wenn schon nicht die erforderlichen Jahre, so doch den nötigen Widerstand in ihrem Leben erfahren hatte, um die Bezeichnung Frau zu verdienen. Der junge Mann mochte in Cyprians Alter sein, ein dünner Kerl, dessen Bewegungen graziös, aber an der Schwelle zum Komischen waren – wenn er noch ein paar Pfund verlor, würde er wie ein Storch wirken. Sein Gesicht war hübsch und kam Cyprian nach längerem Betrachten bekannt vor. Diese Ahnung verwirrte ihn; er war noch nie in Prag gewesen, der junge Mann hatte von Wien zwar gehört, hatte die Stadt jedoch noch nie besucht. Was immer es war, das Cyprian wiederzuerkennen glaubte, es war nicht unangenehm.

Die beiden Wagenlenker verstanden sich auf Anhieb, zwei Fachmänner, die unter dem schräg stehenden Wagen lagen und darüber diskutierten, ob die gebrochene Achse repariert werden konnte oder besser ausgetauscht werden sollte.

„Wie auch immer, Baas“, sagte Cyprians Lenker, nachdem er ihn beiseite genommen hatte. „Die Schaluppe hier ist erst mal aufgelaufen, und das gründlich.“ Er senkte seine Stimme. „Ich glaube, jemand hat ihnen gewünscht, dass das passiert.“

„Wie darf ich das verstehen?“

Der Lenker vollführte mit der Handkante eine sägende Bewegung über seine Holzprothese. Cyprian zog die Augenbrauen hoch.

„Ich kann’s nicht mit Sicherheit sagen, Baas. Aber ’n Teil der Bruchkante sieht zu sauber aus. Die Leute können von Glück sagen, dass wir hier vorbeigesegelt sind. Wer weiß, welche Freibeuter sie sonst kapern.“

„Sabotage, um sie auf der Straße festzuhalten und dann auszurauben?“

Der Lenker zuckte mit den Schultern. „Was glauben Sie, warum ich jede Nacht, in der wir in irgend ’ner Stadt vor Anker lagen, in unserem Kahn geschlafen habe?“

„Der Wagenlenker?“

„Ich kann nich’ für jeden die Hand ins Feuer legen, Baas.“

Cyprian überlegte einen Moment, dann wandte er sich dem jungen Paar zu.

„Unsere beiden Lenker sind sich einig, dass Ihr Wagen so schnell nicht wieder fährt.“ Etwas in ihm sagte, dass er seine Mission so schnell wie möglich erfüllen und sich nicht mit zusätzlichen Reisegefährten belasten sollte; er brachte die Stimme zum Verstummen. „Ich kann Sie mitnehmen bis zur nächsten Stadt. Dort können Sie dann veranlassen, dass Ihr Wagen geholt und repariert wird.“

„Das können wir nicht annehmen“, sagte der junge Mann.

Cyprian blickte sich um. Es mochte allenfalls um die zweite Stunde nach dem Mittag sein, und schon schien es, als sei die Dämmerung nicht mehr fern. Weiter vorn tanzte eine träge Schleppe aus Schneekristallen über die Straße und fiel wieder in sich zusammen. Momente später traf die kleine Bö, die den Schnee aufgewirbelt hatte, auf sie und hüllte sie in einen feinen Schauer.

„Was gefällt Ihnen so an der Alternative?“, fragte Cyprian und lächelte schwach.

Der junge Mann seufzte. „Sie sind sehr freundlich.“

„Ich bin Cyprian Khlesl.“ Als der junge Mann einen Seitenblick auf das Wappen an Cyprians Wagen warf, fügte er hinzu: „Den hat mein Onkel mir geliehen. Mein Onkel ist der Bischof von Wiener Neustadt.“

„Dieser Wagen ist auch nur geliehen“, sagte der junge Mann. „Das ist ja das Schlimme an diesem Schaden. Darf ich vorstellen? Jarmila Anděl. Ich bin Andrej von Langenfels.“

„Ich dachte, Sie seien …“, sagte Cyprian und biss sich auf die Zunge.

„Ja?“ Plötzlich wurde der junge Mann rot. „O nein, nein! Ich bin nur …wie sagt man … der Lehrer der junge Dame?“

„Natürlich“, sagte Cyprian. „Entschuldigen Sie.“ Bei sich dachte er: Ihr armen Narren, man sieht es euch doch an den Nasenspitzen an. Habt ihr euch ein paar Tage Zeit gestohlen, oder seid ihr auf der Flucht? Eine hässliche Stimme in seinem Inneren setzte hinzu: nach Virginia? „Wo wollten Sie hin?“

„Nicht eine Last für Sie sein wollen“, radebrechte die junge Frau.

„Keine Sorge. Dieses … äh … Grudimm liegt auf meiner Strecke, das ist die nächste größere Stadt. Dort finden Sie garantiert Unterkunft und einen Wagner. Oder hatten Sie ein anderes Ziel?“

„Chrudim“, sagte sie und lächelte schüchtern.

„Grudimm“, sagte Cyprian und zuckte mit den Schultern. Sie lachte.

„Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie uns nach Chrudim mitnehmen wollen“, erklärte der junge Mann.

„Also schön. Frau Anděl … Herr von Langenfels … genießen Sie die Gastfreundschaft von Bischof Melchior Khlesl.“

„Andrej“, sagte Andrej. Er streckte die Hand aus.

Cyprian ergriff sie. „Ich bin Cyprian. Und jetzt lassen Sie uns Männer Ihre Pferde abschirren und den Wagen beiseite schieben, damit wir weiterfahren können.“

Als sie fertig waren, ließ Cyprian seinen neuen Bekannten vor sich einsteigen. Er warf seinem Wagenlenker, der bereits auf dem Bock saß und beiseite gerutscht war, um seinem Zunftgenossen Platz zu machen, einen Blick zu. Der alte Seebär gab ihn ruhig zurück. Dann griff er mit seiner gesunden Hand wie zufällig neben sich und lockerte etwas, das unauffällig in einer engen Lederschlinge steckte und wie ein lang gezogener Holzkeil aussah, wenn man nicht genauer hinblickte und den lederumwickelten Griff und das eiserne Band sah. Das Band saß da, wo das Holzteil mit dem Schädel eines Menschen in Kontakt kam, wenn man ihm das Ding überzog. Cyprian nickte seinem Wagenlenker zu, dann stieg er ein.

Chrudim lag auf einem Buckel, der sich unvermittelt aus der Landschaft schob, und krönte diesen mit zwei ungleichen Zwillingskirchtürmen und einer Stadtmauer mit vierschrötigen Wachtürmen, über denen sich ein massiger Torbau erhob und nach Westen schaute. Kurz zuvor hatte sich ein Streifen Himmel geöffnet und die Abendsonne auf die Westfassaden der Gebäude schimmern lassen: grauer und brauner Stein, plötzlich golden gefärbt vor dem dunklen Westhimmel. Jetzt war die Wolkendecke wieder geschlossen und ließ die Häuser und Wehranlagen aussehen, als habe sie jemand aus dem Acker gebrochen und im schmutzigen Schnee vergessen. Der Wagen hielt erneut an.

„Sichte Wachgänger voraus, Baas!“, rief Cyprians Wagenlenker. „Ich meine …“

„Ich kann’s mir denken“, brummte Cyprian. Er wechselte einen Blick mit Andrej und schwang sich aus dem Wagen. Als Andrej ihm folgte, trat er ein Stück beiseite. Auf der Straße, noch weit vor den ersten Pfahlbürgerhütten außerhalb der Stadtmauern Chrudims, hatten sich vier Männern postiert. Die Männer trugen Spieße und Armbrüste und hatten einen entasteten Baum über die Straße gelegt.

„Was soll das bedeuten?“, fragte Cyprian.

Andrej zuckte mit den Schultern. Er sah besorgt aus.

„Muss ich noch irgendetwas über Sie beide wissen, damit ich mich nicht verplappere?“, fragte Cyprian. Er begegnete dem überraschten Blick Andrejs, ohne eine Miene zu verziehen. Andrej schüttelte den Kopf.

„Folgen wir der Strömung“, sagte Cyprian zu seinem Wagenlenker.

„Hä?“

„Weiterfahren.“

„Ach so. Alles klar, Baas.“

Beim Posten war die Weiterfahrt endgültig zu Ende. Cyprian, der zusammen mit Andrej neben dem Wagen hergegangen war, hatte gehofft, der Anblick des Wappens und das selbstbewusste Weiterfahren würden die Soldaten dazu bewegen, das Hindernis beiseite zu räumen. Näher gekommen, sah er, dass ihre Haltung weniger wütend als vielmehr ängstlich wirkte. Ein paar Griffe an Spießen wurden gewechselt, Armbrüste hoben sich kaum merklich und zielten zwar immer noch auf den Boden, aber auf den Boden zwischen Cyprians und Andrejs Beinen.

Andrej versuchte unaufgefordert sein Glück und erhielt auf seine Frage eine einsilbige Antwort. „Alle sollen aussteigen“, übersetzte er. Er wirkte so nervös, dass Verdacht zu schöpfen selbst dem dümmsten Wachposten leicht gefallen wäre. Cyprian verfluchte ihn im Stillen.

„Sie stehen unter dem Schutz des Bischofs von Wiener Neustadt“, sagte er aus dem Mundwinkel. „Beruhigen Sie sich.“

„Glauben Sie, die hier wissen, wo Wiener Neustadt liegt?“

Andrej half seiner Gefährtin heraus. Die Wagenlenker kletterten zögernd von ihrem Bock, der alte Seebär dabei demonstrativ seine Prothesen zeigend. Die Wachtposten sahen sich gegenseitig an, als alle in einer Reihe aufgestellt waren. Cyprian erkannte, dass sie noch nervöser waren als Andrej. Sein Herz, das seit dem Anblick des Postens schneller geschlagen hatte, pochte nun schmerzhaft. Dann trat einer der Männer vor – und etwas wie Eiswasser rann Cyprians Rücken hinab, als er sich einen Tuchfetzen vor Mund und Nase schob. Man konnte sehen, wo der Atem des Wachtpostens das Tuch bewegte. Seine Augen waren starr vor Angst.

„Verdammt“, sagte Cyprian heiser.

„O mein Gott, die haben hier die …“, begann Andrej.

„Haben sie nicht“, sagte Cyprian. „Seien Sie still.“

Der Wachtposten näherte sich ihnen so vorsichtig, wie man an eine Schlange herantritt. Er musterte sie mit weit aufgerissenen Augen, einen nach dem anderen, und trat dabei so nahe an sie heran, dass Cyprian seinen Angstschweiß riechen konnte. Sein Blick heftete sich auf die Holzprothesen von Cyprians Wagenlenker. Er zog einen Dolch heraus und richtete ihn auf den alten Mann. Die Dolchspitze zitterte.

Cyprian hörte ein Wimmern. Es kam von Jarmila. Er sah, wie Andrej nach ihrer Hand griff und sie festhielt. Einer der anderen Wachposten reagierte, indem er seine Armbrust auf Andrej richtete. Aus dem Augenwinkel erkannte Cyprian, dass Andrej verzerrt lächelte und dem Wachposten zunickte. Dieser ließ die Waffe langsam wieder sinken.

Die Dolchspitze näherte sich der Stelle am verstümmelten Arm des Alten, an der sein ausgefranster Ärmel den Beginn der Holzprothese bedeckte. Sie schob den Ärmel langsam hinauf. Das Tuch vor dem Mund des Wachpostens bewegte sich heftig; Cyprian konnte seinen Atem pfeifen hören. Der alte Mann fasste ruhig mit der gesunden Hand hinüber und krempelte den Ärmel zurück. Über seinen Oberarm zog sich ein Geflecht aus Lederbändern, das die Prothese festhielt. Die Dolchspitze zitterte heftig. Der alte Mann löste die Prothese mit ein paar Handgriffen und zeigte den Armstumpf. Die Dolchspitze schwebte bebend über den zusammengenähten Hautlappen und den roten Abdrücken, wo sich die Manschette der Prothese in das Fleisch gedrückt hatte, dann zuckte sie zurück. Die Blicke des Wachpostens fielen auf die Beinprothese. Der alte Mann verdrehte die Augen. Der Wachposten blickte Hilfe suchend zu seinen Kameraden hinüber.

„Fragen Sie ihn, wo sie ihn haben“, sagte Cyprian zu Andrej.

„Wo sie ihn … haben? Wen …?“

„Den Aussatz“, murmelte Cyprian.

„Sie meinen … o mein Gott…“

„Fragen Sie schon.“ Der alte Wagenlenker machte Anstalten, sich ächzend hinzusetzen. „Bevor wir hier noch alle auseinander genommen werden.“

Andrej räusperte sich und rollte etwas in der Sprache, die Cyprian seit seiner Ankunft hier ein Buch mit sieben Siegeln war. Der Scharführer der Wache antwortete nach einigem Zögern.

„Südosten“, sagte Andrej mit schwacher Stimme.

„Fragen Sie ihn, ob er weiß, wo diese Straße herkommt.“

Der Scharführer musterte Cyprian. Selbst über die zwanzig Schritte Entfernung konnte Cyprian erkennen, wie sich in seinem Gesicht der Wunsch widerspiegelte, alles richtig zu machen, und die Angst, bei einem Fehler seine ganze Heimatstadt auf dem Gewissen zu haben.

„Westen.“

„Fragen Sie ihn, ob er den Eindruck hat, dass wir von Westen gekommen sind.“

„Aber wir sind von Westen gekommen.“

„Fragen Sie ihn.“

Ein längerer Disput entspann sich. Offenbar hatte Andrej verstanden, worauf Cyprian hinauswollte. Der Wachposten mit dem Tuch vorm Gesicht nutzte die Gelegenheit und trat ein paar Schritte zurück; der alte Seebär begann damit, seelenruhig seine Prothese wieder anzuschnallen. Der Scharführer biss die Zähne zusammen und ermaß Cyprian erneut. Cyprian schenkte ihm ein Grinsen. „Das ist das Wappen des Bischofs von Wiener Neustadt“, sagte er und deutete auf seinen Wagen. „Wir sind heute Morgen in Tschaslau aufgebrochen. Wir kommen geradewegs aus Westen. Was immer im Südosten eurer Stadt vorgeht, wir sind nicht dort gewesen. Von uns geht keine Gefahr aus.“

„Irgendwie“, sagte Andrej, „fühle ich plötzlich gar kein so großes Bedürfnis mehr, nach Chrudim zu kommen.“

„Wenn sie den Aussatz schon in der Stadt hätten, würden sie keine solchen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ich bin überzeugt, die Stadt ist sicher.“

„Ich habe Angst um Jarka“, sagte Andrej schlicht.

„Kann ich verstehen“, sagte Cyprian. Die beiden Männer sahen sich an. Andrej senkte den Blick.

Der Scharführer schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. Zwei seiner Männer wuchteten den Baumstamm so weit beiseite, dass der Wagen passieren konnte. Cyprian nickte ihm zu. Der Scharführer nickte zurück, das Gesicht noch immer von Zweifeln verzerrt. Cyprian beneidete ihn nicht; gute Wächter zweifeln immer, und der Scharführer war ein sehr guter Wächter.

Jarmila war bleich, als sie im Wageninneren Platz nahm. Sie flüsterte Andrej etwas zu. Andrej seufzte. Jarmila schüttelte den Kopf und redete auf ihn ein. Cyprian beobachtete sie, bis Andrej sich zurücklehnte und ein unglückliches Gesicht machte. Der Wagen fuhr mit dem üblichen leichten Ruck an.

„Was wollen Sie eigentlich in Chrudim?“, fragte Cyprian.

Die beiden wechselten einen Blick. „Jarka sucht nach Spuren ihrer Mutter“, sagte Andrej schließlich. Cyprian hatte den Eindruck, dass das nur die Hälfte der Wahrheit war. „Sie ist verschollen, als Jarka ein Kleinkind war – niemand weiß genau, wo.“

„Und Sie wollten ihr ausreden, die Reise fortzusetzen, aber wie die Frauen so sind, hat sie darauf bestanden, weiterzumachen.“

Andrej starrte ihn an.

„Na ja“, sagte Cyprian. „Irgendwo müssen Sie ja übernachten, wenn Sie nicht in Ihrem defekten Wagen bleiben wollen.“ Er lehnte sich aus dem Fenster und musterte die Wachen, die am Straßenrand standen und dabei zusahen, wie der Lenker vorsichtig den Baumstamm umkurvte, als manövriere er ein zerbrechliches Schiff um eine Klippe herum, und vermutlich fühlte er sich auch so.

„Andrej – könnten Sie den Wachführer fragen, welche Orte im Südosten von der Lepra betroffen sind?“

Der Scharführer gab brummig Auskunft.

„Es ist nur ein kleines Gebiet, und sie haben es weiträumig abgeriegelt“, sagte Andrej. „Er sagt, wir haben nichts zu befürchten.“

„Na schön“, sagte Cyprian.

Der Scharführer folgte ihnen mit den Blicken. Cyprian gab den Blick zurück. Es lag ihm nichts daran, den Scharführer zu reizen; der Mann tat nur seine Pflicht, und er hätte sie schlechter tun können. Cyprian setzte ein Lächeln auf und winkte ihm mit einer Bewegung zu, die ein halber Salut war. Der Scharführer sagte einen Satz, der sich anhörte wie eine längere Beschimpfung.

„Was meint er?“

„Er hat uns die Namen der betroffenen Orte genannt“, sagte Andrej.

„Und wie lauten sie?“

„Chrast, Rositz, Horka, Chacholitz, Skala und Podlaschitz.“

Die Teufelsbibel-Trilogie

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