Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 46

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Prag im Januar war ein Muster aus Schwarz und Grau, eine Ansammlung von Schatten in den Schatten, ein Wald aus senkrecht in den eisigen Winterhimmel emporsteigenden Rauchsäulen, ein Sumpf aus Rauch und Gestank, wenn der Ostwind die Emissionen aus den Schornsteinen in die Gassen drückte. Pater Xavier fror. Er war die Kälte in Kastilien gewöhnt, doch dort war sie trocken und still gewesen; die Kälte in Prag war windig, trotz der eisigen Temperaturen feucht und ständig drückend. In Kastilien hatte der Schnee die ockerfarbene Landschaft überstäubt; wenn die Sonne schien, hatte das Ocker golden gewirkt und der Himmel darüber tiefer als das tiefste Meer. Hier hing der Himmel die meiste Zeit zum Greifen nah über den Turmspitzen. Was vom Bewuchs der Hügel rund um die Stadt unter den Schneemassen zu sehen war, war grau oder hatte die unbeschreibliche Farbe von Starre und Tod. Kastilien im Winter war die Zeit der Meditation, der Ruhe und der klaren Luft; Prag im Winter lag in einer Art Totenstarre, und Pater Xavier musste gegen den Eindruck ankämpfen, dass die Stadt daraus nie mehr aufwachen würde.

Zwischen November des letzen Jahres und Heilig Drei König war er ohne jegliche Nachricht seiner Auftraggeber geblieben. Die letzte Botschaft hatte nur aus drei Wörtern bestanden: Subsisto in votum. Verharre im Gebet. Pater Xavier wusste, was damit gemeint war: sein Auftrag ruhte. Etwas musste geschehen sein, was den glatten Ablauf der Ereignisse durcheinander gebracht oder gestoppt hatte.

Nach und nach erreichten die offiziellen Nachrichten Prag. Es gab einen neuen Papst, er nannte sich Innozenz IX. Es war Kardinal Facchinetti, ganz wie es geplant gewesen war; und doch musste etwas schief gegangen sein.

In den Wochen der Stille hatte Pater Xavier versucht, sich an das Gesicht des Kardinals zu erinnern, das er das eine Mal bei dem Treffen in der Hütte am Ufer des Tejo gesehen hatte. Eine verzerrte Grimasse stand ihm vor Augen; das Erstarren des Mannes, als sein, Pater Xaviers, Blick auf ihn gefallen war. Niemand musste Pater Xavier sagen, dass die unerwartete Wendung etwas mit Papst Innozenz zu tun hatte.

Waren sich die Verschwörer um Kardinal Cervantes de Gaete weniger einig, als es den Anschein gehabt hatte? Hatte den neuen Papst die Angst gepackt – oder die Gier? Pater Xavier machte sich seine eigenen Gedanken um das kurze Pontifikat von Gregor XIV., ohne dass diese seiner Miene jemals anzumerken gewesen wären. Als zu Beginn des neuen Kirchenjahres, am ersten Adventssonntag, noch immer keine neuen Nachrichten vorlagen, begann er sich Gedanken darüber zu machen, wie lange das Pontifikat Innozenz’ IX. wohl dauern würde.

Natürlich hatte er in dieser Zeit, als die Wälder um Prag sich in lohendes Gold verwandelten, dann ihr Festkleid verloren und in Gräue und Schimmelfarbe zerfielen und sich zuletzt in das schmutzfarbene Leichentuch des Schnees hüllten, nicht ausschließlich im Gebet verharrt. Er war nicht mehr im Hradschin gewesen; aber es gab viele Möglichkeiten, das Kommen und Gehen einer bestimmten Person dort zu überwachen, ohne selbst vor Ort sein zu müssen. Pater Xavier hätte jederzeit ohne Nachdenken in die Rolle des jungen Mannes schlüpfen können, der Kaiser Rudolf nach der Begegnung mit einem bestimmten Gespenst auf der Treppe des Dienstbotentraktes beruhigt hatte; so gut kannte er ihn mittlerweile.

Andrej von Langenfels lebte vollkommen allein in einem der Häuschen in der Goldmachergasse und schien, seit er dort eingezogen war, in die Starre verfallen zu sein, die Pater Xaviers letzte Anweisung für ihn selbst insistiert hatte. Er verließ seinen Unterschlupf nur, wenn der Kaiser ihn holen ließ oder wenn er in ein Bordell ging.

Es gab die Geschichte der Tanzveranstaltung, die Kaiser Rudolf zu Ehren des Bildnisses veranstaltet hatte, das ihn als Vertumnus zeigte, als eine abscheulich obszöne Fratze, zusammengesetzt aus Gemüse und Feldfrüchten, an dem Rudolfs bizarre Seele Gefallen gefunden hatte. Rudolf hatte seinen fabulator principatus dazu befohlen, doch während aller Tänze hatte der junge Mann abseits gestanden. Kaiser Rudolf schien ihn vergessen zu haben, und niemand sonst machte sich die Mühe, ihn einer der anwesenden Hofdamen vorzustellen, was dazu gehörte, selbst wenn man sich bereits kannte. Hatte Andrej versucht, einer der Frauen zuzulächeln, hatte diese sich umgedreht und war in die entfernte Ecke des Saals geschritten. Es hatte sich die seltsame Situation ergeben, dass auf der einen Seite des Saals genügend Frauen herumstanden, die auf einen Tanzpartner warteten, während auf der anderen Flanke ganz allein Andrej von Langenfels stand, aus mangelndem Mut oder aus Resignation klug genug, keine der Schönheiten aufzufordern. Am Ende wollte ihn jemand in einem der angrenzenden Räume gesehen haben, wie er mit einer ältlichen Dienstmagd zu den dumpf herüberklingenden Melodien tanzte, die Dienstmagd verlegen kichernd und rot im Gesicht und sichtlich nur deshalb nicht auf der Flucht, weil sie Andrej fälschlicherweise für jemanden hielt, dem sich zu widersetzen nachteilige Konsequenzen gehabt hätte.

Und es gab die Geschichte, dass Andrej von Langenfels nicht nur einmal bei seinen Besuchen im Bordell das Mädchen seiner Wahl nicht gevögelt, sondern sich mit ihr unterhalten, sie mit einem verzweifelten Redefluss zugedeckt hatte, den sie mit demselben gelangweilten Gesichtsausdruck über sich ergehen ließ, den sie zweifellos gezeigt hätte, wenn er versucht hätte, sich auf ihr liegend den Dämon Einsamkeit aus dem Leib zu rammeln – anstatt ihn mit Reden zu bannen.

Alle weiteren Geschichten fielen in dasselbe Muster. Pater Xavier hatte die Schilderungen in seinem unbestechlichen Gedächtnis aneinander gereiht und zu einem Bild geformt. Als die neue Nachricht eintraf, war Andrej von Langenfels bereits Wachs in den Händen Pater Xaviers, ohne dass die beiden sich einmal begegnet wären oder dass Andrej auch nur um die Existenz des Dominikaners gewusst hätte. Pater Xavier hatte ihn in der Hand; er hatte nur noch nicht zugedrückt und mit dem Verformen begonnen.

Pater Xavier sah zu, wie das Kügelchen, zu dem er die Botschaft gedreht hatte, verbrannte. Dann verließ er seine Zelle.

Die Gassen Prags lagen in der Stille eines zwielichtigen Januarnachmittags. Die Glocken aller Kirchen schwiegen. Pater Xavier wusste, dass es mit diesem Schweigen spätestens morgen vorbei sein würde; er war zu sehr Realist, um nicht zu wissen, dass er nicht der Einzige in der Stadt war, dem Brieftauben geheime Neuigkeiten hinterbrachten, wenngleich er davon ausging, dass er sie vermutlich einen Tag früher bekam als alle anderen. Er stapfte durch den Schneematsch, der sich nach der Mittagsstunde überall dort bildete, wo die Sonne genug Zeit hatte, auf den Gassenboden zu gelangen. Das Schlurfen seiner Sandalen klang zwischen den Hauswänden. Morgen würde sich dort das Echo der stundenlang läutenden Glocken brechen, deren Klang der Himmelfahrt der Seele von Giovanni Antonio Kardinal Facchinetti, Papst Innozenz IX., hinterherläutete.

Die Botschaft, von der nur noch ein schwarzer Punkt im Unschlitt seiner Kerze zeugte, war kurz gewesen: Das Hämmerchen hat gesprochen: Erwache. Das Hämmerchen war das Instrument, mit dem nach alter Überlieferung der Kammerherr des Papstes dem Verstorbenen an die Stirn klopfte und dreimal fragte: „Schläfst du?“, um dann zu verkünden, dass der Pontifex wahrhaftig tot sei. Demnächst würde das neue Konklave einberufen werden. Er wusste nicht, welche Strategie Kardinal de Gaete und sein Kreis aus Verschwörern nun verfolgte, aber er ahnte, dass es ein schwieriges Konklave würde und nicht in wenigen Tagen beendet wäre. Nun, umso besser. Pater Xavier wusste genau, was er zu tun hatte, aber je mehr Zeit ihm zur Verfügung stand, desto besser. Sobald der neue Papst gewählt war, würde er eine weitere Botschaft erhalten, die ihn nach den Fortschritten seiner Arbeit befragte, und er wollte sie beantworten können. Er betrachtete seine rechte Hand, während er durch die Gassen ging, und ballte sie, als habe er schon mit dem Verformen des Wachses darin begonnen.

Das Kloster der heiligen Agnes lag im Nordosten der Altstadt, am Ende des fast rechtwinkligen Bogens, den die Moldau beschrieb, um dem Höhenzug auszuweichen, auf dem auch der Hradschin stand. Jenseits der Klostermauern war nur noch ein schmaler Uferstreifen, auf dem in den drei anderen Jahreszeiten Boote und Flöße lagen. Das Kloster war ein weitläufiger Bezirk im Gassengeflecht zwischen Sankt Kastulus und Sankt Simon-und-Juda, und es war zum größten Teil eine Ruine. Wie überall in Böhmen hatten auch hier die Hussitenkriege ihre Spuren hinterlassen und schienen zu zeigen, was aus dem gesamten Reich werden würde, wenn man das Ketzertum nicht bekämpfte. Am Ende der Auseinandersetzungen war das Kloster verlassen gewesen; vor vierzig Jahren hatten Dominikaner begonnen, es in Besitz zu nehmen, als sie ihr ursprüngliches Kloster bei der Karlsbrücke zu Gunsten der Jesuiten hatten aufgeben müssen.

Dies war der eine Grund gewesen, warum Pater Xavier das Agneskloster gewählt hatte: weil es von Brüdern seines eigenen Ordens geführt wurde. Der andere Grund war, dass mit den Dominikanern Zug um Zug auch die Klarissen zurückgekommen waren, die das Kloster in Gemeinschaft mit den benachbarten Minoriten ursprünglich errichtet hatten. Ihre Gruppe war klein und beschränkte sich auf den Dienst an der Gesellschaft, den sie am dringendsten notwendig empfanden: die Sorge um gefallene Frauen. Die Klarissen lebten im Südtrakt des Klosters, der früher den Minoriten gehört hatte. Es hieß, die Sterblichkeitsziffer unter den Schützlingen der Klosterschwestern war nur unwesentlich höher als die bei einem Türkenfeldzug.

Die Mutter Oberin war ein kleiner Vogel von einer Frau; weniger ein Sperling als ein Falke, dachte Pater Xavier. In ihr hatte er eine Grausamkeit kennen gelernt, die ihm bislang unbekannt gewesen war: die Grausamkeit der Barmherzigen. Die Mutter Oberin wusste, dass sie nur einem ganz geringen Prozentsatz der Mädchen, die sie zu sich nahm, helfen konnte; den anderen sah sie zu, wie sie an Krankheiten verendeten, aus Kummer eingingen, an Verletzungen krepierten, die ihnen ein brutaler Freier in irgendeiner Gasse zugefügt hatte, wie sie innerlich verbluteten, die rostigen Eisenhaken, mit denen die Engelmacherinnen bei ihnen zugange gewesen waren, noch im Schoß.

„Danke für Ihre Nachricht, Schwester Oberin“, sagte Pater Xavier und lächelte.

„Die arme Seele hat es verdient“, sagte die Oberin. „Sie werden nicht enttäuscht sein.“

Bei seinen ersten Vorsprachen hatte er von der Oberin nur eine schemenhafte Gestalt gesehen, verborgen hinter dem kleinen Gitterfenster in der Zelle, durch das sie miteinander kommuniziert hatten. Schließlich hatte er sie überzeugen können, ihn wenigstens in die Außenbezirke des Klosterbereichs einzulassen und mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.

„Sie erfüllt die Anforderungen?“

„Jung und hübsch“, sagte die Oberin und verzog das Gesicht. „Wenn ich nicht um Ihre vollkommen aufrechte Gesinnung und Frömmigkeit wüsste, Pater Xavier, würde ich diese Forderung als abstoßend empfinden.“

„Das Mädchen wird vor den gekrönten Häuptern der Christenheit singen“, erklärte Pater Xavier. „Sie und ich wissen, dass die eigentliche Schönheit von innen kommt – aber Sie wissen doch genauso gut wie ich, wie man draußen in der sündigen Welt denkt.“

Die Oberin, die als Kind in ein Kloster der Klarissen unweit von Prag gegeben worden war und von der Welt nur das gesehen hatte, was man sah, wenn man sich im Kreuzgang auf den Rücken legte und in den blauen Himmel hinaufstarrte, nickte und seufzte. „Und Sie werden das Ihre tun, dass sie wohlbehalten hierher zurückkehrt?“

„All unsere Wege sind in Gottes Hand“, sagte Pater Xavier und vermochte zu klingen wie jemand, auf dessen Rat Gott hören würde.

„Amen, Pater Xavier.“

„Amen, Schwester Oberin.“

Die Oberin führte Pater Xavier durch den Kreuzgang, dessen Westflanke eingesunken und der daher unbrauchbar war, durch die ehemalige Klosterkirche der Minoriten, über deren blanken Dachsparren der Januarhimmel hing, und über einen ungepflegten Hof, in dem Gras und Unkraut hoch und gelb geworden waren und jetzt frostigweiß unter ihren Schritten splitterten und klirrten.

„Ich hätte immer gedacht, dass es nicht so einfach ist, jemanden zur Sängerin auszubilden.“

„Ich bin sicher, das junge Mädchen wird alle Erwartungen erfüllen.“

„Aber Sie haben sie doch noch nie gesehen, Pater!“

„Wir müssen mit dem Material arbeiten, das Gott uns gibt, nicht wahr, Schwester Oberin? Wenn wir es nicht tun, werden am Ende diese grässlichen gequälten Geschöpfe, die man zum Gaudium der Herrschenden auftreten lässt, in unseren Kirchen das Gotteslob singen.“

Die Mutter Oberin erbleichte beim Gedanken an die Kastraten und beschleunigte ihren Schritt.

„Ich möchte sie sehen, bevor sie mich sieht“, sagte Pater Xavier. „Ich möchte nicht unnütze Hoffnung in dem armen Geschöpf wecken.“

Der ruinierte Gebäudetrakt im Südteil des Klosters, der sich an der äußeren Klostermauer entlang zog, war mit einem lecken Dach versehen worden; die schlimmsten Beschädigungen hatte man repariert. Die Verbesserungen sahen aus, als hätte jemand einem Leichnam Farbe ins Gesicht gemalt, um so zu tun, als stecke noch Leben in dem Kadaver. Pater Xavier folgte der Oberin in den Flügel, in dem früher weltliche Besucher des Klosters untergebracht gewesen sein mussten. Direkt nach dem klaffenden Loch, das einmal ein Portal mit vermutlich wertvollen Türflügeln gewesen war, erstreckte sich eine Reihe von niedrigen Türen, die in Mönchszellen führten und sich in der Dunkelheit verloren, die sich rund um eine einzelne Unschlittkerze zusammenballte. Wenn es überhaupt möglich war, war es hier noch feuchter und kälter als draußen. Die Minoriten hatten seinerzeit dafür gesorgt, dass ihre Besucher das Armutsgelübde des Franz von Assisi empfanden; nun, leer stehend und mit all den Schäden, war der Anblick nur noch trostlos und gemein.

Die Oberin stieg vorsichtig über den aufgebrochenen Steinboden und nahm die Kerze aus der Halterung. Sie winkte Pater Xavier, stehen zu bleiben, und machte sich an einer der Türen zu schaffen. Sie war nicht verschlossen.

„Bleiben Sie hier in den Schatten“, sagte die Oberin. Dann steckte sie den Kopf in die geöffnete Tür und sagte freundlich: „Yolanta, mein Kind, komm heraus.“

Nach ein paar Augenblicken schlich eine zerfledderte Gestalt in den Gang und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Flamme. Sie war in zerrissene Decken gehüllt; ihr Haar war zerzaust und strähnig. Die Oberin nahm sie an der Schulter und drehte sie sanft herum; die Kerzenflamme beschien ein Gesicht, über das sich Schmutzstreifen zogen.

„Wer ist da?“, sagte die Gestalt. Sie warf den Kopf herum und blies die Kerzenflamme aus, bevor die Oberin reagieren konnte. Pater Xavier sah ihr Abbild in Fehlfarben vor seinen Augen tanzen. Er hörte, wie sie in ihre Zelle zurückschlüpfte. „Wollen Sie mich vorführen, Mutter Oberin? Was soll das?“

„Ich will dir nur helfen, mein Kind …“

Pater Xavier lächelte. Was er von dem Gesicht der jungen Frau unter dem Schmutz gesehen hatte, war, wenn man sich ein bisschen rundere Wangen und ein etwas weniger verhärmtes Aussehen vorstellte, makellos gewesen, ein Diamant, den man lediglich polieren musste, damit er wieder funkelte. Der Name passte zu ihr – altgriechisch: zart und schön. Jemand hatte entweder keine Ahnung gehabt, als er den Namen für dieses Kind ausgesucht hatte, oder jede Menge Hoffnung. Was das Aussehen anging, hatte sich die Hoffnung erfüllt, was das Leben betraf, in das das junge Mädchen entlassen worden war … Nun, das Zusammentreffen beider Umstände war genau, was Pater Xavier gesucht hatte. „Perfekt“, flüsterte er.

Die Mutter Oberin tastete sich zu Pater Xavier nach vorn. Er fasste sie zuvorkommend am Arm und führte sie nach draußen ans Licht. Sie hielt die ausgeblasene Kerze in der Hand und war sprachlos vor Verlegenheit.

„Das war … Sie dürfen nicht glauben … Wir haben sie nur überrascht …“

„Was hält sie hier? Warum öffnet sie nicht einfach die Tür und geht?“

Die Mutter Oberin seufzte. „Weil sie hofft“, sagte sie. „Nur die Mädchen, die noch hoffen, haben eine Chance auf Rettung.“

„Und worauf hofft sie?“

„Darauf, dass sie ihr Kind zu sich nehmen kann, wenn sie sich von ihrem Makel befreit hat.“

„Sie hat ein Kind?“

„Es braucht wenig, um eine gefallene Frau zu werden, Pater Xavier. In dieser Stadt trennt nur eine Haaresbreite die Sünde von der Sicherheit.“

„Wo ist das Kind jetzt?“

„In einem Findelhaus. Ich kann Ihnen die Adresse geben.“

„Perfekt“, sagte Pater Xavier.

Die Adresse, die die Mutter Oberin ihm genannt hatte, fand sich auf der Kleinseite, eine dunkle Burg von Haus direkt an der westlichen Stadtmauer, das von Karmelitinnen geleitet wurde. Pater Xavier fand hier eine ähnliche Grausamkeit wie in Sankt Agnes, nur dass die Härte an diesem Ort durch keinerlei Hoffnung gemildert wurde. Die Kinder, die überlebten, würden hinausgehen, um ein Leben zu führen, das zuallererst zu weiteren Kindern führte, die wiederum hier einpassierten, und wenn es einem der ehemaligen Insassen gelang, von diesem Teufelskreis abzuspringen, dann würden es die Karmelitinnen niemals erfahren. Die Mutter Oberin in Sankt Agnes hatte, wenn auch keinen Dank, so doch wenigstens die Genugtuung zu wissen, dass sie zuweilen eines ihrer Schäflein retten konnte; die Karmelitinnen hatten nicht einmal das. Ihre Priorin hatte die Hautfarbe einer Todkranken und den müden Gesichtsausdruck von jemand, der schon lange aufgegeben hat, nach dem vermeintlichen Edelstein in der Asche seines Lebens zu suchen. Sie nahm Pater Xavier in einen Verschlag mit, der sich als ihre Zelle und gleichzeitig als Schreibstube des Findelhauses herausstellte.

„Wir haben hier ein Kind von einer Mutter namens Yolanta Melnika, wobei der Name nichts bedeutet außer vielleicht, dass die Mutter in der Nähe eine Mühle lebte oder ein Müllersknecht sie geschwängert hat oder es das Erste war, was ihr einfiel, als sie danach gefragt wurde.“

„Wann wurde das Kind hierher gebracht?“

„Vor nicht ganz drei Monaten – ein Herbstbalg.“

„Wie lautet sein Name?“

„Zwölfter November.“ Die Priorin zuckte mit den Achseln. „Wenn an diesem Tag zwei eingeliefert worden wären, hätte es noch eine Nummer. Wer kümmert sich um die Namen? Selbst wenn die Mütter sich die Mühe machten, diesen Geschöpfen einen Namen zu geben, würden wir ihn nicht erfahren. Es sind nicht die Mütter, die zu uns kommen und uns diese schreienden Bündel auf die Schwelle legen, sondern die Büttel, die die Mütter verhaftet haben.“

„Wie alt war es damals?“

Die Priorin spähte in ihre Liste. „Drei, vier Wochen, so genau kann man das nie sagen. Diese Oktoberkinder sind wie Herbstkätzchen – stets viel zu klein und zu dünn. Die meisten von ihnen sehen nicht einmal mehr das Weihnachtsfest.“

„Das ist das Kind, das ich suche. Hat es das Weihnachtsfest gesehen?“

Die Priorin fuhr mit dem Finger die Zeile entlang, quer über die ganze Seite des mit Stricken gebundenen Folianten.

„Nein“, sagte sie knapp. „Es hat nicht einmal die heilige Barbara gesehen. Es ist zwei Wochen nach Einlieferung gestorben.“

Pater Xavier schwieg einen Moment. „Wo ist es begraben?“

Die Priorin deutete stumm in eine Richtung. Pater Xavier wusste, dass dort die Stadtmauer lag. Jenseits der Stadtmauer war ein stets offenes Massengrab, das von Knechten des Stadthenkers bewacht wurde. Jedweden Leichnam, den man ihnen brachte, warfen die Knechte in die Senke und bedeckten ihn mit Erde und Kalk. Sie waren Fährmänner der Unterwelt ganz besonderer Art, denen man keinen Obolus zu entrichten brauchte, weil diejenigen, die ihre Toten zu ihnen brachten, in der Regel nichts besaßen. Pater Xavier dachte an einen formlosen, kleinen Sack, der den Knechten keinerlei körperliche Mühe bereitet haben würde.

„Das Kind war ein Junge“, sagte Pater Xavier.

Die Priorin konsultierte ihre Liste. „Stimmt“, sagte sie.

„Es hieß Wenzel.“

Die Priorin zuckte mit den Schultern. „Sehr unpassend“, sagte sie.

„Die Mutter besaß Hoffnung“, sagte Pater Xavier.

Die Priorin hob erneut die Schultern. „Sehr unpassend“, sagte sie zum zweiten Mal.

Als Pater Xavier wieder in Sankt Agnes war und der jungen Frau, die er ausgewählt hatte, in ihrer Zelle gegenübersaß, war es dunkel geworden.

„Yolanta Melnika“, sagte er. Er bemühte sich nicht erst, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. „Ich bin Pater Xavier.“

„Ein Hund Gottes“, sagte Yolanta.

Pater Xavier neigte den Kopf. „Am Ende des Tages sind wir alle irgendjemandes Hund“, sagte er. „Ich mache ein Geschäft mit dir. Mein Anteil daran: ich hole dich hier heraus.“

„Und was ist mein Anteil?“

„Nichts, was du nicht schon kennst. Du wirst dich als Gegenleistung besteigen lassen und dabei so tun, als würde es dir den höchsten Genuss bereiten. Was von dir verlangt wird, das wirst du tun – so oft, so lange und auf welche Art auch immer es verlangt wird.“ Er hatte auf dem Rückweg vom Findelhaus her überlegt, wie er seine Worte wählen sollte. Er hatte keinen Grund gesehen, sein Angebot in schöne Phrasen zu kleiden. Wenn das Mädchen dort vor ihm auf das Geschäft einging, wurde sie zu seinem Werkzeug, und es war wichtig, dass es keinerlei Missverständnisse gab zwischen einem Werkzeug und dem, der es benutzte. Vielleicht machte die Kälte und Nässe seine Stimme schroffer, als sie es in der Regel war. Er kümmerte sich nicht darum. Er wusste, dass er sie bereits am Haken hatte.

„Warum gehen Sie nicht einfach ins nächste Hurenhaus, Pater? Da treffen Sie jede Menge von Ihresgleichen.“

Pater Xavier verzog keine Miene. Er gab ihren Blick zurück, bis sie den Kontakt unterbrach und einmal hart schluckte. Sie schwieg. Pater Xavier wartete das Schweigen ab. Fast fühlte er sich befriedigt, als sie schließlich doch weitersprach und dabei das Thema wechselte. Er hatte sie nicht unterschätzt. Was er brauchte, war nicht nur ein verzweifelter, sondern auch ein kluger Mensch – eine dumme Göre hätte irgendwann vergessen, worum es ging und dass sie nicht mehr war als eine Puppe, an deren Fäden er, Pater Xavier, nach Belieben ziehen würde. Er hatte bereits gewusst, dass Yolanta verzweifelt war; mit jeder verstreichenden Minute in ihrem stockenden Gespräch wurde ihm bewusst, dass sie auch so klug war, wie er gehofft hatte. Die Mutter Oberin hätte ihr nicht Überlebensaussichten attestiert, wenn sie dumm gewesen wäre.

„Woher wissen Sie meinen vollen Namen? Ich habe ihn nicht einmal der Mutter Oberin gesagt.“

Pater Xavier lächelte.

„Waren Sie bei den Karmelitinnen?“ Zum ersten Mal klang ihre Stimme nicht barsch, sondern dünn und ängstlich.

„Sie kennen ihn dort unter dem Namen Zwölfter November.“

„Ich habe den Bütteln doch seinen Namen …“ Sie brach ab. Pater Xavier hörte, wie sie ein Schluchzen unterdrückte.

„Er war der Einzige, der an diesem Tag zu ihnen gebracht wurde – sonst hätte er eine zusätzliche Nummer bekommen“, sagte Pater Xavier.

Sie begann zu weinen. Pater Xavier bot ihr keinen Trost an. Auf einem der baufälligen Hocker sitzend, stützte er die Hände auf die Knie und betrachtete den schluchzenden Schatten vor sich. Er glaubte zu sehen, wie sie um ihre Fassung kämpfte und wie sie den Kampf mehrfach verlor, ehe sie sich aufrichtete und mit den Händen durch das Gesicht fuhr.

„Geht es dem Kleinen gut?“, fragte sie zuletzt, die Stimme dünner denn je.

„Er ist krank“, sagte Pater Xavier.

„O mein Gott … o heiliger Wenzel, hilf deinem Patensohn … er ist doch nur ein Kind, das nichts getan hat.“

„Es wird Zeit, dass jemand ihn dort herausholt.“

„Kann ich ihn sehen? Kann ich ihn zu mir nehmen? O Pater, bitte, kann ich ihn sehen?“

„Wir müssen noch weiter über unser Geschäft sprechen.“

„Pater, bitte … mein Kind … er ist mein Kind … Bitte, kann ich ihn sehen?“

Pater Xavier schwieg und wartete. Es war beinahe zu schnell gegangen. Ihm fiel wieder ein, wie gering der Preis war, den die Menschen für ihre Seele verlangten, wenn man sie nur an der richtigen Stelle erwischte. Sie weinte erneut. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie glaubte, damit sein Herz zu rühren, und fühlte sich versucht ihr mitzuteilen, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen sei. Doch er hielt sich zurück. Er war zu oft in derartigen Situationen gewesen, um nicht zu wissen, dass jedes Wort, das man sagte, die eigene Position geschwächt hätte. Wer auf das Leid eines anderen antwortete, und sei es nur mit Grobheit, verriet, dass er es erkannte. Pater Xavier hatte nicht vor, sich diese Blöße zu geben.

„Was wollen Sie von mir, Pater?“

Pater Xavier lächelte erneut. „Du wirst alles rechtzeitig erfahren.“

„Wie viele Kerle sind es?“

„Mach dir keine Sorgen. Ich denke, du hast schon größere Sünden begangen.“

„Die Schwestern dort … kümmern sie sich gut um ihn? Er war so klein … Ich dachte, ich sterbe bei der Geburt, und ich war fast sicher, dass er sterben würde … Doch er hielt sich am Leben fest. Pater, ich liebe ihn so sehr. Ich hatte ihn nur so kurze Zeit, und ich liebe ihn so sehr.“

Pater Xavier gab keine Antwort. Er hatte keine Ahnung, wie gut sie in diesem schlechten Licht sah, aber sicherheitshalber hatte er sein leichtes Lächeln aufgesetzt. Es war das Lächeln, das man manchmal an Heiligenstatuen sehen konnte und das verblasste, wenn man der Figur in die steinernen Augen blickte. Dann überraschte sie ihn.

„Ich rede da von etwas, von dem Sie nichts verstehen, nicht wahr, Pater? Liebe?“

Pater Xavier war froh über die Dunkelheit und darüber, dass sein Gesprächsbeitrag bislang im Wesentlichen aus Pausen bestanden hatte. Es bestand die Hoffnung, dass ihr nicht auffiel, dass sein Schweigen im Augenblick von völliger Sprachlosigkeit herrührte.

„Was passiert, wenn Sie mich nicht mehr brauchen?“

„Wenn deine Schuldigkeit getan ist, entlasse ich dich.“

„Wann darf ich mein Kind sehen?“

„Wenn deine Schuldigkeit getan ist.“

„Sie haben gesagt, Wenzel ist krank. Wenn es zu lange dauert …“

„Wie lange es dauert, hast du in der Hand.“

„Hören Sie, Pater“, sagte sie. „Ich kann lesen, schreiben und rechnen. Ich kann ein bisschen Latein verstehen und ein paar griechische Buchstaben erkennen. Ich kann kochen, nähen, ich spiele die Harfe und kann singen. Ich weiß, dass Sie mich für eine Dirne halten, die einfältig genug war, sich von einem Freier ein Kind machen zu lassen, aber Sie sind im Irrtum.“

Tatsächlich, dachte Pater Xavier. Ich habe mich tatsächlich geirrt. Einen Moment schwankte er, ob er nicht besser aufstehen und wortlos gehen sollte, doch etwas in ihm jubilierte beinahe. Er hatte sich ein kluges, aber willenloses Werkzeug gewünscht, um ihm bei seinen Plänen zu helfen, und stattdessen präsentierte das Geschick ihm einen intelligenten Menschen, der fast genauso schnell zu denken vermochte wie er selbst und dem nach wenigen Minuten das gelungen war, was anderen, besser gestellten Menschen in Jahren nicht gelungen war: ihn, Pater Xavier, für Augenblicke sprachlos zu machen.

„Kläre mich auf“, sagte er. Nur wer ihn sehr gut gekannt hätte, hätte eine kleine Heiserkeit in seiner Stimme vernommen.

„Ich bin Yolanta Melnika aus Strahov. Mein Urgroßvater war einer der Müller für das Kloster Strahov, mein Großvater war der Herr über alle Mühlen, die insgesamt für das Kloster mahlten, mein Vater ist Kaufmann, der mit Getreide und Mühlenkonzessionen handelt. Meine ganze Familie ist katholisch. Der Vater meines Kindes ist es nicht. Wir liebten uns. Als wir erfuhren, dass weder seine noch meine Eltern jemals einer Heirat zustimmen würden, wollten wir sie vor vollendete Konsequenzen stellen. Wir schliefen so oft miteinander, bis ich schwanger wurde.“ Sie machte eine Pause; Pater Xavier hatte das Gefühl, sie wartete ab, ob er sich dazu äußerte, dass sie planmäßig und mit voller Absicht Unzucht getrieben hatte, und fragte sich, ob er sie nicht doch überschätzt hatte. Dann wurde ihm klar, dass sie geschwiegen hatte, weil sie ihre Stimme sonst nicht unter Kontrolle gebracht hätte.

„Als ich es meinen Eltern eröffnete, warfen sie mich aus dem Haus. Ich habe zwei ältere Schwestern und drei Brüder – Sie können den Wert ermessen, den ich ohnehin für meine Familie hatte. Eine Weile habe ich in der Gasse, in der meine Eltern leben, im Rinnstein geschlafen, weil ich dachte, sie würden barmherzig sein und mich aufnehmen. Als der Herbst kam und ich nächtelang durchnässt an der Hauswand kauerte, ohne dass man mir öffnete, klopfte ich schließlich an die Tür und bat um Verzeihung und um Gnade für das Leben in meinem Schoß.“

Pater Xavier wartete die nächste Pause ab. In der Zelle war es mittlerweile vollkommen dunkel geworden. Die Kerze, die draußen im Gang brannte, zeichnete einen schmalen Lichtsaum rund um die undichte Tür.

„Mein Vater ließ Büttel kommen, die mich von seiner Schwelle vertrieben. Ich wandte mich in meiner Verzweiflung an die Eltern meines Geliebten und erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass mein Vater ihn angezeigt hatte, mich geschändet zu haben, und dass man …“

Sie kämpfte gegen das Weinen und verlor erneut. Pater Xavier verstand kaum, was sie hervorstieß, doch er wusste, was sie zu sagen versuchte. Er kannte die Strafe für Notzüchter: Ertränken. In Prag hatte das Ertränken eine gewisse Tradition, angefangen bei Bischof Johannes Nepomuk. Er ahnte, was gefolgt war, als Yolanta versucht hatte, bei den Eltern ihres Freundes Hilfe zu bekommen: sie war ebenso verjagt worden wie von der eigenen Schwelle, entweder weil man in ihr den Grund für den Tod des eigenen Sohnes sah oder weil man fürchtete, sich weitere Schwierigkeiten einzuhandeln. Was danach folgte, war einfach – Armut, Hunger, unlizenziertes Betteln, Mundraub … Er war sicher, dass sie sich nicht prostituiert hatte. Es gab nicht viele Männer, die sich für eine Schwangere interessierten, weil einem diese an allen Ecken begegneten, in der Regel im eigenen Schlafzimmer und ebenfalls in den Frauenhäusern, wo eine große Anzahl der Dirnen ständig schwanger war. Aber auch falls es ihr leicht gefallen wäre, sich zu verkaufen – er ahnte, dass sie es nicht einmal um den Preis ihres eigenen Lebens getan hätte. Den einzigen Preis, für den sie es zu tun bereit war, hatte Pater Xavier gefunden – vor der Stadtmauer auf der Kleinseite, unter drei Monaten Winter, Erde, Kalk und weiteren kleinen Leichen verscharrt.

„Der kleine Wenzel ist alles, was mir von meiner Liebe geblieben ist“, flüsterte Yolanta. „Ich nehme Ihr Geschäft an, Pater, aber nicht aus Demut vor Ihrer Kutte oder aus Angst vor Ihren toten schwarzen Augen – ich nehme es an, weil es die einzige Möglichkeit ist, mein Kind wieder zu sehen und es aus diesem grässlichen Haus zu retten.“

„Gut“, sagte Pater Xavier ausdruckslos.

„Schwören Sie, dass ich mein Kind wieder sehen werde.“

Pater Xavier wusste, dass er nachgeben musste. „Ich schwöre“, sagte er.

„Schwören Sie, dass Sie für ihn sorgen werden, solange er dort ist, und dass es ihm gut geht.“

„Es wird ihm an nichts mangeln.“

„In Ihre Hände, Pater, befehle ich meine Seele.“

Pater Xavier stand auf.

„Folge mir“, sagte er.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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