Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 61

16.

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Pavel streifte die graue Kukulle ab und faltete sie ordentlich zusammen; dann half er Buh, der sich wie immer darin verheddert hatte. Er atmete die kühle, dumpfe Luft des Klosterinneren ein – ein tiefer Atemzug wie der eines Mannes, der die letzten Stunden fast gar nicht geatmet hat. In Pavels – und Buhs – Fall traf dies genau zu.

Sie waren im Morgengrauen in die Stadt hinausgegangen, die grauen Kukullen über den schwarzen Kutten. Mit ihnen hatten sie auf den ersten Blick ausgesehen wie normale Mönche, wie zwei Klosterbrüder, die durch die Gassen streiften, um festzustellen, ob sie helfen konnten. Einen zweiten Blick verschwendete in diesen Zeiten niemand; auf den zweiten Blick hätte man eventuell feststellen können, dass der Mensch, dem man soeben begegnet war, die Krankheit hatte, und das hätte zum einen die bange Frage wachgerufen, ob man sich durch diese flüchtige Begegnung angesteckt hatte, zum anderen die Gewissheit erbracht, dass keiner gefeit war. So lange man nur Gesunde durch die Stadt huschen sah und es schaffte, um die Karren der Abdecker einen großen Bogen zu machen, so lange in der eigenen unmittelbaren Familie noch niemand gestorben war und man alle aushäusigen Kontakte abgebrochen hatte, um nicht mit dem Leid in den anderen Häusern konfrontiert zu werden – so lange konnte man sich der Illusion hingeben, dass man vielleicht verschont bleiben würde. Freilich wurden die Menschen, die diese Haltung einnahmen, täglich weniger.

„Sch… sch… sch…“, stammelte Buh und ließ es zu, dass Pavel sich auf Zehenspitzen stellte und ihm die Tonsur glatt strich.

„Ja“, sagte Pavel. „Schlimme Zeiten.“

Abt Martin hatte sich Pavels Bitten lange verweigert, aber Pavel hatte nicht locker gelassen. Seit kurzem verließen einmal pro Woche jeweils zwei Kustoden, mit grauen Kukullen notdürftig getarnt, für ein paar Stunden das Kloster, wanderten durch die Stadt und kehrten dann zurück. Es waren immer zwei. Sie passten aufeinander auf, so wie sie auf das teuflische Buch aufpassten, das in ihre Obhut gegeben worden war. Pavel war überzeugt, dass er mit dieser Maßnahme verhindern konnte, dass jemals wieder so etwas passierte wie vor zwanzig Jahren; es reichte, wenn der brüllende, Axt schwingende Mönch alle paar Wochen durch seine Träume rannte, wenn die panischen Frauen und die schreienden Kinder durch seinen Geist flüchteten, während er sich stöhnend auf seiner Pritsche wälzte; wenn der Leib der Frau mit dem zerschmetterten Schädel in einem letzten Aufbäumen das Kind in die Welt stieß …

Dieses Mal waren sie den langen Abhang hinuntergegangen, auf dem die Stadt Braunau sich – vom Kloster ausgehend – hinunter in die Flussebene zog, waren durch das kaum bewachte Niedertor hinaus- und den jenseitigen steilen Hügel wieder hinaufgestiegen bis zur Kirche der Heiligen Jungfrau Maria auf dem Friedhof. Buh hatte die Stirn gerunzelt, aber nichts gesagt. Wenn Pavel es für angemessen hielt, eine Kirche aufzusuchen, die in den letzten Jahren von den Protestanten für ihre Messen eingenommen worden war, dann würde es schon seine Richtigkeit haben.

Pavel machte sich über die verfeindeten Konfessionen keine großen Gedanken. Die Aufgabe, die er und die sechs anderen Kustoden zu erfüllen hatten, war unabhängig von jeder Auslegung des Glaubens, und wenn sie darin versagten, würde die Zugehörigkeit zum katholischen oder lutherischen Glauben nur insoweit eine Rolle spielen, als dass der Teufel den einen wie den anderen mit Vergnügen erschlug. Von der Friedhofskirche hatte man einen hervorragenden Blick auf die gesamte Stadt. Sie hatten über zwei Stunden dort oben gestanden und Braunau beim Sterben zugesehen.

Buh hatte beim Herumwandern um die hölzerne Kirche eine Reihe von Votivtafeln gefunden. Mit der Faszination, die die für ihn unlesbaren Buchstaben stets ausübten, war er davor stehen geblieben und hatte sie angestarrt, bis Pavel gekommen und ihm den Text leise vorgelesen hatte. Von der Überschwemmung von 1570 war zu lesen gewesen, von den beiden Hungersnöten im gleichen Jahr und ein Jahr später, von den Pestanfällen 1582 und 1586 mit insgesamt über eintausend Toten ... Eine Tafel hatte mit einem Aufschrei geendet: Der ewig gütige Gott wolle seinen Zorn von uns wenden und uns von der gleichen Heimsuchung und noch größere Strafe gnädiglich behütten. Ob Protestanten oder Katholiken – in der Todesangst riefen alle den gleichen Gott an, und ihr Flehen unterschied sich nicht voneinander. Auf den Votivtafeln der katholischen Pfarrkirche war keine Rede mehr davon, dass Gott zornig darüber war, dass so viele Bewohner der Stadt der lutherischen Ketzerei erlegen waren und er deshalb biblische Plagen über Braunau schickte; ebenso wenig wie hier bei der Kirche der Heiligen Jungfrau zu lesen war, dass selbstverständlich die Katholiken mit ihrem Festhalten an den verderbten papistischen Praktiken daran schuld waren.

Genützt hatten weder der rechte noch der falsche Glaube, weder Votivtafeln noch das Flehen um Gnade darauf. Braunau, die reiche Tuchmacherstadt, das Juwel Nordböhmens, die selbstbewusste, fast selbständige Gemeinde reicher Bürger, von den Äbten den Königen und Fürsten und von den Bürgern den Äbten abgetrotzt, zerschmettert von mehreren Fluten, zerfressen von der Pest … Braunau war am Ende. Pavel wusste, dass Abt Martin sich insgeheim selbst die Schuld daran gab, und es schmerzte ihn. Die Schuld, unter der der Abt sich beugte, hatte ihn beinahe gelähmt, hatte ihn sich zurückziehen und die Dinge einfach laufen lassen – hatte ihm einen so katastrophalen Ruf in der Stadt eingebracht, dass Pavel sich manchmal wünschte, die Pest möge sie alle von der Erdoberfläche tilgen, damit die falsche Schmach vergessen und der Name des Abtes nicht durch alle Zeiten hindurch beschmutzt wären.

Schließlich waren sie heimgekehrt. Keiner hatte sie angesprochen, hatte sie weder verflucht noch um Beistand gebeten. Die Bewohner der sterbenden Stadt waren jenseits selbst dieser Regungen.

Als Pavel von Buh abließ und sich umdrehte, stand einer der Mönche des Klosters in der Eingangshalle. Pavel lächelte, obwohl es sinnlos war; jeder, der mit ihm oder den anderen Kustoden zu tun hatte, machte ein steinernes Gesicht und sandte den Wunsch, sich am liebsten am anderen Ende des Klostergeländes aufzuhalten, wie einen Geruch aus. Gegen dieses Stigma half nicht einmal das Lächeln, das das einzige Geschenk Gottes an seine Kreatur namens Pavel darstellte und das fast jeden Menschen dazu zwang, zurückzulächeln.

„Der ehrwürdige Vater Abt will dich sprechen.“

Pavel nickte und wandte sich zu der Treppe, die hinab in die Eingeweide des Klosters führte.

„Jetzt“, sagte der Mönch.

„Ich muss meinen Brüdern Bescheid sagen“, erklärte Pavel, sein Lächeln unbeirrt festhaltend. „Die Kustoden müssen immer wissen, wo sich alle Mitglieder …“

„JETZT“, sagte der Mönch. Seine Abneigung machte seine Stimme rau.

Pavel wechselte einen Blick mit Buh.

„Allein“, sagte der Mönch.

Pavels Augen verengten sich. „Gib den Brüdern Bescheid“, sagte er zu Buh.

„G… g… g… guuut“, sagte Buh.

Pavel nickte. Er wandte sich dem Mönch wieder zu, den Abt Martin gesandt hatte. Sein Lächeln zeigte sich erneut, doch es fiel ihm schwer, es aufrecht zu erhalten. „Nach dir, Bruder“, sagte er.

Der Sendbote des Abtes drehte sich um und schritt davon, ohne Pavel noch eines zweiten Blickes zu würdigen. Pavels Lächeln verlosch. Er folgte dem Bruder, und mit jedem Schritt begann sein Herz schmerzhafter zu schlagen.

Der Abt sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Der Mönch, der Pavel hergebracht hatte, verbeugte sich und schritt hinaus. Abt Martin standen der Kapitelsaal, ein komfortables Sprechzimmer für weltliche Gäste im äußeren Klostertrakt und ein kleineres Sprechzimmer für die Mitglieder der Gemeinschaft beim Aufgang zum Refektorium zur Verfügung. Dennoch hatte er Pavel zu seiner eigenen, engen Zelle bringen lassen. Der Abt stand am Fenster, als brauche er das Tageslicht, um sich zu vergewissern, dass es noch so etwas wie Realität gab. Er schwieg, bis sie allein waren. Der Mönch hatte beim Hinausgehen die Tür geschlossen. Das Schweigen war eines von der Sorte, die einem laut in den Ohren gellen. Außer ihm hörte Pavel nur seinen eigenen Herzschlag. Er sah dem Abt dabei zu, wie dieser mehrfach dazu ansetzte, etwas zu sagen, und wieder verstummte. Der junge Kustode fühlte die Erschütterung seines Klosteroberen, als wäre es seine eigene.

„Der Friede des Herrn sei mit dir, ehrwürdiger Vater“, flüsterte Pavel schließlich, und es war weniger ein Gruß als vielmehr ein Herzenswunsch.

„Kannst du dich noch an Bruder Tomás erinnern?“, stieß der Abt hervor.

Sie standen durch die ganze Länge der Zelle voneinander getrennt. Abt Martin wirkte wie eine graue, gebeugte Statue im Lichtkegel des Zellenfensters; Pavel ein Schatten in der Düsternis neben der Tür, der sagte: „Wie könnte ich ihn vergessen haben, ehrwürdiger Vater?“

„Ich habe mich an Gott, an ihm und an dem Kind versündigt“, sagte Abt Martin. Es klang fast wie ein Schluchzen. „Ich habe das Richtige getan, und doch war es eine Sünde.“

„Du hast das Richtige getan, ehrwürdiger Vater, das ist es, was zählt.“

„Ich weiß es nicht. Glaubst du, dass ich das Richtige getan habe? Ich weiß es nicht, Bruder Pavel.“

Pavel zögerte, doch dann trat er auf den Abt zu. Aus der Nähe erkannte er, dass die Augen Martins gerötet waren. Das schmerzhafte Pochen seines Herzens hatte noch nicht aufgehört, doch jetzt mischte sich in seine Furcht und dunkle Vorahnung ein geradezu brennendes Mitleid. Dieses Gefühl erstickte jeden Zweifel in ihm. Was Abt Martin auch wünschen würde, er würde dem Wunsch folgen.

„Ehrwürdiger Vater … warum denkst du gerade jetzt an ihn? Bruder Tomás ist schon lange beim Herrn, und der Herr hat ihm verziehen, so wie er dir und uns allen verzeihen wird.“

Die Hände des Abts schossen aus den Ärmeln seiner Kutte, in denen er sie verschränkt hatte. Er packte Pavel an den Handgelenken. Martins Hände waren Klammern aus Eis.

„Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf wie ein halb Wahnsinniger, „nein, nein, NEIN! Bruder Tomás lebt. Er ist hier. Er ist nach Braunau gekommen. Er liegt im Sterben und wünscht meine Absolution, doch ich habe nicht den MUT, ZU IHM ZU GEHEN UND DER SÜNDE INS AUGE ZU BLICKEN, DIE ICH SELBST BEFOHLEN HABE!“

„Still, ehrwürdiger Vater, still …“

Der Aufschrei des Abts hallte in der Zelle und echote draußen in den Gängen des Klosters. Pavels Gedanken rasten hilflos auf einer Kreisbahn. Sein Herz bewegte seinen Mund, bevor sein Hirn es tun konnte.

„Ich werde dich begleiten, ehrwürdiger Vater“, sagte er. „Dies ist auch eine Sache, die die Kustoden betrifft.“

Die Augen des Abts schwammen in Tränen. Pavel kniete nieder und legte sich die eiskalte Hand seines Klostervorstehers auf den Kopf. Er spürte sie zittern und hörte das heftige Atmen, mit dem Abt Martin versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen. Die Gedanken in Pavels Hirn liefen immer noch auf ihrer Kreisbahn, doch jetzt drehten sie sich einzig und allein um die Frage, was den alten Tomás bewogen hatte, nach Braunau zu kommen. Dass es nicht nur daran lag, dass er den Tod fühlte und nicht ohne Absolution sterben wollte, war für Pavel so klar, als sei es mit Feuerbuchstaben auf die Innenseite seines Schädels graviert. Warum bist du gekommen, Bruder Tomás … warum?

Als er den alten Mann auf dem Lager sah, das sie ihm in einer Ecke des Dormitoriums bereitet hatten, wusste Pavel, dass das Einzige, was diesen Körper noch am Leben hielt, der Wahnsinn war. Tomás war mit zwei anderen Brüdern in Podlaschitz zurückgeblieben, als der alte Abt von Braunau, Johannes, gestorben und sein Amt an Prior Martin gegangen war. Es hatte jede Menge Diskussionen gegeben, als Martin erklärt hatte, er wolle die Teufelsbibel mit nach Braunau nehmen. Seit dem Massaker hatte er sie in Podlaschitz nicht mehr für sicher gehalten. Der damalige Obere der Kustoden hatte versucht, sich Martins Wunsch zu verweigern, doch der neue Abt hatte nicht nachgegeben. Sie hatten die schwere, kettengesicherte Truhe schließlich mit zwei Eseln transportiert. Der Weg war ein Alptraum gewesen. Sie hatten die beiden Esel mit Geschirren ausgerüstet, diese mit zwei langen Tragstangen verbunden und die Truhe an den Stangen befestigt, so dass die Esel hintereinander gingen, zwischen sich die Truhe. Der vordere Esel rannte fast, als versuche er verzweifelt, dem Ding hinter sich zu entkommen, während der hintere Esel die Hufe in den Boden stemmte und sich sein Fell sträubte, als er der Truhe vor sich folgen musste. Sie hatten den vorderen Esel gezügelt und zurückgerissen, bis seine Schultern da, wo das Geschirr auflag, wund gerieben waren; den hinteren Esel hatten sie gepeitscht, bis seine Flanken von Striemen überzogen waren. Pavel hatte die Panik in den Augen der Tiere erkannt und sich gekrümmt bei diesem Anblick, doch er hatte geschwiegen. Am Ende war es Buh gewesen, der nach einem längeren Monolog, in dem kein einziges vollständiges Wort vorkam und den kein Mensch wirklich verstand, die Lösung gefunden hatte. Er hatte sich in die Tragstangen gestellt, direkt hinter der Truhe und vor dem Kopf des hinteren Esels, hatte sich ihm zugewandt und ihn zu streicheln begonnen. Pavel hatte reagiert und es ihm vor der Truhe gleichgetan. Der gewaltige Körper Buhs blockierte die Sicht des hinteren Esels auf seine Last, und was immer es war, das der schmächtige Leib Pavels vermochte, auch der vordere Esel beruhigte sich, sobald Pavel als Puffer zwischen ihm und der Truhe stand. So waren sie weitergezogen. Buh war fast die ganze Strecke rückwärts gegangen. Sie hatten keinerlei Pause eingelegt, auch nicht bei Nacht.

Bei ihrer Ankunft in Braunau knappe zwei Tage später war es irgendwie klar geworden, dass Pavel und Buh die Hauptverantwortung dafür trugen, dass die Truhe an ihren Bestimmungsort gelangte. Sie machten in der Unterstadt direkt unterhalb des steilen Klosterfelsens Halt, schirrten die Esel, als diese sich lieber hätten totschlagen lassen als noch einen Schritt weiterzugehen, aus und schleppten die Truhe zu zweit den Trampelpfad hinauf, der durch den tiefen natürlichen Graben zwischen den Klostergärten und dem Hauptgebäude und unter der Holzbrücke zum Klostereingang hindurch zur Stadt hinaufführte. Abt Martin hatte sie vor der Pforte warten lassen, während er das Kloster betreten hatte. Als er wieder herausgekommen war, schien der unmittelbare Eingangsbereich leergefegt und ausgestorben. Sie hatten den Anweisungen Martins folgend die Truhe eine Treppenflucht hinuntergetragen und waren mit ihr in den alten Höhlengängen unterhalb des Klosters untergetaucht. Danach hatten sie nie wieder etwas von Podlaschitz oder den zurückgelassenen Brüdern gehört. Es war, als sei eine Episode beendet gewesen. Mittlerweile war Pavel klar, dass die Episode für Abt Martin niemals beendet gewesen war; in seinem Herzen hatte Podlaschitz weiter geschwärt, eine brandige Wunde, die in Fäulnis verfiel und nicht absterben wollte.

Tomás’ Augen waren offen und starrten an den um ihn versammelten Brüdern vorbei den Abt an.

„Schick sie hinaus, ehrwürdiger Vater“, sagte er statt einer Begrüßung. Seine Stimme war wie das Geraschel von altem Gras im Wind. Unter den Brüdern erhob sich ein überraschtes Murmeln. Sie hatten genügend Sterbende gesehen, um zu wissen, wie es um Bruder Tomás stand, und den Klosterregeln sowie den Geboten der Menschlichkeit folgend hatten sie sich versammelt, um ihn auf seinem letzten Weg zu geleiten.

„Tut, was er gesagt hat, Brüder“, murmelte Abt Martin.

Die Mönche defilierten mit der größtmöglich beleidigten Würde hinaus. Es gab Dinge, die man empörend fand, selbst wenn sich vor den Mauern die Pesttoten stapelten. Pavel blieb im Hintergrund stehen. Tomás’ Blicke fielen auf ihn.

„Diese Verhöhnung des heiligen Benedikt auch“, flüsterte Tomás und deutete auf Pavel. Pavel wich das Blut aus dem Gesicht.

„Bruder Pavel bleibt“, sagte Abt Martin; es hätte sich entschlossen anhören sollen, war aber nur ein Winseln.

„Er und seinesgleichen sind schuld …“, begann Tomás, aber dann unterbrach ihn ein Hustenanfall. Nach seinem Ende fiel er schwer auf sein Lager zurück, lag mit offenen Augen und offenem Mund da und regte sich nicht.

Ungläubig trat Pavel einen Schritt näher, um sich zu vergewissern, dass der Alte wirklich tot war. Abt Martin beugte sich über das Lager.

Tomás’ Hand schoss nach oben und verkrallte sich in Martins Kukulle. Der Abt keuchte. Tomás zog ihn zu sich hinunter. Pavel sprang herbei, um den Abt aus dem Griff des Sterbenden zu befreien, doch dann hörte er die papierene Stimme rascheln: „Confiteor dei…“

„Erleichtere deine Seele, mein Bruder“, sagte Abt Martin mit schwankender Stimme.

„Podlaschitz ist tot“, sagte der Alte. Abt Martin legte ihm fast das Ohr auf den Mund, so leise sprach er. Dennoch hallte jedes Wort in Pavels Gehirn wie ein Schrei. „Ich war der Letzte. Diejenigen, die jetzt dort sind, leben noch, aber sie sind tot.“

Pavels Schultern sanken herab. Das Mitleid, das er mit dem Abt empfunden hatte, dehnte sich plötzlich auf Tomás aus. Der Alte war nicht mehr bei Trost. Er hatte die unglaubliche Reise von Podlaschitz bis hierher bewältigt, um erlöst in den Tod zu gehen, und nun spielte ihm sein Verstand einen Streich. Wenn das die Art Scherze war, die Gott liebte, dann hatte er einen kranken Humor. Ein ratloser Seitenblick des Abts traf ihn.

„Ich habe sie verlassen“, flüsterte Tomás. „Sie haben sich auf mich gestützt, doch ich habe sie verlassen.“

„Gott wird dir verzeihen“, murmelte der Abt. „Du bist gegangen, um deine Seele für die Ewigkeit vorzubereiten. Das ist die heilige Pflicht jedes …“

„Hör mir zu, ehrwürdiger Vater“, keuchte Tomás. Er zog sich an Martins Kukulle halb in die Höhe, dann sank er zurück. „Was ich meinen Mitmenschen an Bösem getan habe, habe ich bereits gebüßt. Ich habe inmitten der vergessenen Seelen Gottes gelebt.“

„Ego te absol…“, begann der Abt.

„Aber ich habe eine Sünde gegen den heiligen Benedikt begangen“, flüsterte Tomás. „Kannst du mich auch davon freisprechen, ehrwürdiger Vater? Kannst du das? KANNST DU DAS?“

„Ich weiß nicht ...“, sagte Martin, der bei Tomás’ letztem Schrei zusammengezuckt war wie unter einem Schlag.

„Du allein kannst es“, hauchte Tomás. „Nur du. NUR DU! Nur du kannst es tun, ehrwürdiger Vater, weil du daran schuld bist, dass ich sie begangen habe!“

Der Alte umklammerte Abt Martins Kutte, dass der Abt vor dem Lager auf die Knie gezwungen wurde. Pavel trat einen Schritt näher. Martin winkte fahrig ab. Er versuchte, sich aus Tomás’ Griff zu befreien, doch die Hand des Alten war wie eine Eisenzwinge.

„Erinnerst du dich, was du mir zu tun befohlen hast? Damals?“

Martin senkte den Kopf. Pavel sah voller Grauen zu, wie das Gesicht des Abtes vor seinen Augen verfiel.

„Ja“, flüsterte der Abt.

„Oboedientia. Weißt du, was das heißt, ehrwürdiger Vater?“

„Es ist nicht deine Schuld, Bruder Tomás. Es ist ganz allein meine Schuld. Das Blut dieses unschuldigen Wesens kommt über mich, nicht über di…“

„Oboedientia! Dagegen habe ich verstoßen, ehrwürdiger Vater. Du hast mich gezwungen, und ich habe dagegen verstoßen!“

Pavel schluckte. Er griff sich unwillkürlich an den Hals. Das Grausen, das in ihm aufstieg, löschte das Entsetzen über die Hunderte von Pesttoten draußen in den Gassen völlig aus.

„Zwei Männer waren in Podlaschitz“, sagte Tomás kaum hörbar. „Zwei Männer. Sie haben nach dem verdammten Buch gefragt. Sie wussten, wo es einst gewesen ist.“

„Bruder Tomás, was hast du getan?“

„Hast du gehört, ehrwürdiger Vater? Zwei Männer haben danach gefragt. All deine Bemühungen waren vergeblich. Du hast die Spur zur Teufelsbibel nicht verwischen können. Früher oder später wird jemand hierher kommen, und du wirst wieder Morde befehlen müssen.“

Abt Martin packte das dürre Handgelenk Tomás’ mit beiden Händen. Seine Knöchel waren weiß.

„Was hast du getan, Bruder?“, stöhnte er.

„OBOEDIENTIA!“, brüllte der Alte plötzlich. „Ich habe gegen das Gebot verstoßen! Gehorsam, Bruder, Gehorsam! Ich konnte ihn nicht leisten, ehrwürdiger Vater! Ich bin verdammt, und es ist deine Schuld!“.

Der Abt warf Pavel einen Blick zu, der dem jungen Kustoden durch Mark und Bein ging. Pavel wünschte sich, er könnte dem Verstehen, das er in den Augen seines Klosteroberen sah, widersprechen, könnte ihn beruhigen, könnte ihm sagen, dass er die falschen Schlüsse gezogen habe. Aber es wäre eine Lüge gewesen.

„Er hat das Kind nicht töten lassen“, sagte er. Seine Stimme hörte sich in seinem eigenen Mund an wie die eines Fremden. „Er hat es verschont. Es ist der einzige Hinweis darauf, was damals passiert ist und warum, und es ist irgendwo da draußen und sucht nach der Wahrheit.“

„Das können wir nicht wissen“, stammelte Abt Martin.

„Die Frage ist“, sagte Pavel und hatte das Gefühl, dass ihm seine eigene Stimme noch fremder wurde, „können wir es riskieren, das nicht zu wissen?“

„Ehrwürdiger Vater“, flüsterte Tomás. „Ich habe gegen die fünfte Regel des heiligen Benedikt verstoßen, weil du mich zwingen wolltest, gegen die fünfte Regel Gottes zu verstoßen. In dem Augenblick, in dem du es mir auftrugst, hast du mich verdammt.“

Martin starrte den alten Mönch an. Seine Augen waren weit. „Wolltest du mich warnen?“, fragte er. „Bist du deshalb gekommen – um mich zu warnen? Wer waren die Männer?“

„Ich bin gekommen, um dich zum Erlösung zu bitten, ehrwürdiger Vater. Ich bin gekommen …“

„WER WAREN DIE MÄNNER!?“, schrie der Abt. „Wer waren sie? Wo sind sie hergekommen? Wo sind sie hergekommen? SPRICH! Sprich, sprich, SPRICH!!“

„Erlöse mich, ehrwürdiger Vater.“

Pavel trat an die Seite des Abtes. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. Abt Martin fuhr herum. Die Hand des alten Tomás zerriss ihm fast die Kutte. Der Abt zerrte an dem dünnen Handgelenk wie ein Wahnsinniger.

„Sag den Kustoden Bescheid!“, keuchte Martin. „Das Geheimnis ist entdeckt. Wir müssen etwas tun. Der Augenblick ist da. O mein Gott, der Augenblick ist da …“

„Ehrwürdiger Vater …“, begann Pavel.

„Lass mich los!“, stöhnte Martin und riss an Tomás’ Hand. Er versuchte aufzuspringen und fiel wieder vor dem Sterbelager auf die Knie. „Verflucht, lass mich los, LASS MICH LOS!“

„Erlöse mich …“

„LASS MICH LOS! Bruder Pavel, du musst deiner Aufgabe folgen, du und die anderen. O Gott, wenn du kannst, lass diesen Kelch an uns vorübergehen!“

Abt Martin zerrte Tomás’ Hand mit übermenschlicher Anstrengung los. Der Kragen seiner Kutte riss bis zur Brust ein.

„Schnell, Bruder Pavel, wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Pavel schwieg und bekreuzigte sich. Der Abt hielt inne und folgte seinem Blick. Er hielt immer noch das Handgelenk Bruder Tomás’ umfasst. Tomás starrte an ihm vorbei an die Decke des Dormitoriums, doch Pavel wusste, dass der Blick des Alten in Wahrheit viel weiter ging und in ein Land fiel, das jenseits der Grenze lag. Ihm war, als hörte er noch das letzte „Erlöse mich…“ im Raum widerhallen. Tomás war umsonst gekommen. Wo immer für ihn Erlösung zu finden gewesen wäre, Braunau war es nicht gewesen.

Abt Martin starrte den Leichnam endlose Herzschläge lang reglos an. Dann bettete er die welke Hand, die er festgehalten hatte, sanft neben den Toten auf das Lager. Er stand auf und drehte sich zu Pavel um. Pavel biss die Zähne zusammen, als er sah, um wie viele Jahre der Abt in den letzten Minuten gealtert war.

„Dies ist deine Stunde“, sagte er. „Versammle deine Brüder.“ Dann ging er hinaus, aufrecht und starr. Vor Pavels Augen stand plötzlich das Bild, wie der Abt in der Kirche in Podlaschitz nach dem Mordbefehl zusammengebrochen war. Dies war schlimmer. Es schien, als sei Martin innerlich vereist.

Pavel folgte ihm langsam. Bevor er den Saal verließ, drehte er sich um. Bruder Tomás war nur noch ein Bündel aus Schatten in der Düsternis; wer nicht gewusst hätte, wo er lag, hätte ihn übersehen. Nur ein nachlässiges Bündel aus grobem Stoff, dachte Pavel, und doch hatte dieses Bündel soeben Pavels Welt in Stücke zerschlagen.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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