Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 60
15.
ОглавлениеWenn man den Pfarrer der Heiligenstädter Kirche fragte, wie es ihm ging, erwiderte er in der Regel, dass die Jahre gut zu ihm gewesen seien; gefolgt von einem nachdenklichen Händefalten vor seinem mageren Leib und dem Zusatz: „Zu gut, mein Kind, zu gut.“ Er hatte als blutjunger Kaplan seinen damaligen Pfarrer dies tun sehen, und es war ihm als Ausdruck von Bescheidenheit, Lebensfreude und glücklicher Fügung in die Ratschlüsse des allmächtigen Gottes geschienen. Dass der Pfarrer damals die notwendige Plauze besessen hatte, um den Spruch zu unterstreichen, hatte er vergessen, und der unfreiwillige Sarkasmus, der sich aus diesem Spruch in Zusammenhang mit seiner dürren Figur entwickelte, entging ihm. Zuweilen verwirrte ihn das zynische Lächeln, das er als Antwort darauf von einem Gemeindemitglied erhielt, das ebenso wenig Fleisch auf den Rippen hatte, weil die letzte Überschwemmung ihm alles genommen hatte. Noch mehr verwirrte ihn allerdings im Augenblick der dünne, abgerissene, stinkende Dominikanermönch, der plötzlich im Kirchenschiff stand und sich mit einer Brille zu orientieren versuchte, mit der man gefahrlos in die Sonne hätte blicken können, so trüb war sie. Der Neuankömmling machte keine Anstalten, nach des Pfarrers Wohlergehen zu fragen.
„Wo ist der unterirdische See?“, fragte er statt einer Begrüßung. Die Konsonanten seines Lateins prallten von den Wänden ab und flogen als Querschläger durch das Kirchenschiff.
Der Pfarrer benötigte ein paar Momente, um zu verstehen, was er gefragt worden war.
„Der unterirdische See?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Der Dominikaner deutete auf die Tür hinter dem Altar. „Wohin führt sie?“
Der Pfarrer erinnerte sich an die junge Frau, die letzten Herbst hier gewesen war, rätselhafte Dinge gesagt und schließlich in seinen behelfsmäßigen Vorratsraum gestarrt hatte, als hätte sie wirklich eine Treppe in ungekannte Tiefen und ein Labyrinth aus Katakomben und phantastischen Grotten dort erwartet. In seinem kleinen, schüchternen Hirn bildete sich der Gedanke, ob Gott oder jemand anderer sich einen Spaß daraus machte, ihm alle paar Monate einen Verrückten zu senden.
„Nirgendwohin“, sagte er. „Womit kann ich dir helfen, Bruder?“
Der Dominikaner blickte sich um. Der Pfarrer stellte fest, dass der verschwimmende Blick hinter den Brillengläsern seine Nackenhaare dazu brachte, sich aufzurichten.
„Gibt es noch eine andere Tür?“
„Hinter dem Altar? Nein … äh … hier geht’s zur Sakristei, und dort ist der nördliche Seitenausgang, aber beide sind natürlich nicht hinter …“
Der Pfarrer wandte sich zu seinem Gast um, der sich in Bewegung gesetzt und zu der vermaledeiten Tür geschritten war. Er lief ihm nach.
„Womit kann ich dir helfen, Bruder?“
Der Dominikaner rüttelte an der Tür. „Sperr sie auf.“
„Nach dem letzten Mal habe ich ein Schloss daran machen lassen“, erklärte der Pfarrer hilflos. „Ich wachte nachts auf und träumte, dass jemand auf meinen Vorräten herumtrampelte, während er irgendwelche Höhlen suchte, und so …“
„Höhlen?“ Der Dominikaner fuhr herum. „Höhlen mit einem See?“
„Dies ist meine Vorratskammer“, versuchte es der Pfarrer erneut, weil er das Gefühl hatte, er müsse zuerst die grundlegenden Dinge mit seinem Gast klären.
„Wo ist der Schlüssel? Sperr auf!“
„Es gibt dort nichts außer meiner Vorratskammer, tut mir Leid“, sagte der Pfarrer, horchte seinen Worten hinterher, fand sie ein wenig zu barsch für einen Diener Gottes und wiederholte: „Tut mir Leid.“
Der Dominikaner rüttelte an der Tür, stöhnte und gab ihr einen Tritt.
„Nur die Ruhe, nur die Ruhe!“ Der Pfarrer nestelte hastig an seinem Schlüsselbund herum. Es hingen drei Schlüssel daran, der zur Kirche, der zur Sakristei und der zum Vorratsraum. Er steckte die beiden falschen Schlüssel ins Schlüsselloch und triumphierte endlich mit dem dritten. Die Tür schwang auf; der Dominikaner packte das Türblatt und riss sie ungeduldig weiter auf. Das kühle, leidenschaftslose Licht des leeren nachmittäglichen Kirchenschiffs sickerte die paar Treppenstufen hinunter, kroch über den unebenen, schlammfarbenen Boden mit seinem Mosaikmuster aus Rissen und präsentierte das welke Gemüse in der Ecke.
„Na also!“, sagte der Pfarrer, horchte und sagte nochmals: „Tut mir Leid.“
Der Dominikaner stieg die Stufen hinunter und stampfte auf den Boden. Der Pfarrer hörte ihn seufzen.
„Wenn dort unten wirklich etwas liegt“, sagte der Pfarrer, weil ihm plötzlich der Gedanke gekommen war, dass man einen Verrückten loswerden konnte, indem man auf seine Verrücktheit einging, „dann ist es so sicher versiegelt wie im Geheimarchiv des Vatikans.“
Der Dominikaner zuckte zusammen. „Was?“, keuchte er. „Was hast du gesagt?“
Der Pfarrer schluckte und probierte es mit Schweigen und einem zutraulichen Lächeln. Der Dominikaner setzte sich auf die letzte Treppenstufe und stützte den Kopf in die Hand. Nach einer Weile hörte der Pfarrer ein gackerndes Geräusch. Der Mönch lachte. Er drehte sich um und spähte zum Pfarrer. Mit einem Mal nahm er die Brille ab, putzte sie mit einem Zipfel seiner Kukulle (nicht, dass der Pfarrer eine wesentliche Verbesserung ihres Zustands wahrgenommen hätte), setzte sie wieder auf und sagte: „Sie ist sicher. Es wird Jahre dauern, und bis dahin ist sie sicher.“ Der Mann klang glücklich.
„Ich habe ja auch den Schlüssel“, sagte der Pfarrer ratlos und weil er hoffte, seinen Gast noch mehr von der Sicherheit von Was-auch-immer zu überzeugen.
Der Dominikaner schwieg. Ganz langsam rann das Lächeln aus seinem Gesicht, bis es wieder von den riesigen Augen und den blinden Brillengläsern beherrscht wurde. „Was hast du vorhin gesagt? Beim letzten Mal …?“
„Ja“, sagte der Pfarrer und versuchte, unbeschwert zu klingen. „das letzte Mal. Eine junge Frau wollte die Treppe hinuntersteigen. Sie fragte mich dieselben Dinge wie du.“ Ein Verdacht schwamm unvermittelt in ihm hoch. „Kennst du sie?“
Der Dominikaner kam die Treppe herauf. Der Pfarrer hatte nicht wahrgenommen, wie er aufgestanden war. Er blickte in die Augen des abgerissenen Mannes und begann rückwärts zu gehen. Der Dominikaner folgte ihm. Der Pfarrer stieß mit dem Hintern an den Altar und stoppte; sein Oberkörper bog sich so weit nach hinten, wie es ging, während der Dominikaner sich über ihn beugte. Ihre Nasenspitzen stießen zusammen. Der Pfarrer hörte sein Rückgrat knacken.
„Wer ist sie?“, flüsterte der Mönch.
Der Pfarrer war überzeugt, dass seine letzte Stunde bevorstand. Sein Hirn leerte sich, und seine Blase hätte es auch getan, wenn genügend Flüssigkeit darin gewesen wäre. „Du kennst sie also nicht?“, brachte er hervor.