Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 52
7.
ОглавлениеDie guten Bürger von Chrudim hatten einen Kreis um ein Gebiet gezogen, das etwa so groß sein musste wie Wien mit seinen Vorstädten, hatten auf allen Straßen, Wegen und Pisten Wachposten platziert und neben der Hauptstraße einen Galgen errichtet, um zu demonstrieren, was dem zustieß, der nicht einsah, warum er in dem abgeriegelten Gebiet bleiben sollte. Der Galgen war leer, aber das musste nichts weiter bedeuten, als dass jeder Gehängte sofort abgenommen und verscharrt wurde, weil er möglicherweise auch noch im Tod die Krankheit verbreitete. Wer sich innerhalb der Grenze befand, war entweder leprös oder musste sich damit abfinden, als leprös zu gelten. Wer das Pech gehabt hatte, sich dort auf Besuch zu befinden, besaß plötzlich die Bürgerrechte dieses lebenden Friedhofs; wer das Glück gehabt hatte, anderswo auf Besuch gewesen zu sein, während die Räte von Chrudim handelten, legte keinen Wert mehr darauf, seine Chraster, Rositzer, Horkaer, Chacholitzer oder Podlaschitzer Rechte einzufordern und antwortete auf die Frage, ob er nicht auch von dort stamme, mit einem empörten Augenaufschlag und der örtlichen Ausformung von „Wer, iiich?“. Man hatte ein Gebiet unbetretbar gemacht, das im Nirgendwo lag, durch das keine wichtigen Straßen liefen und das weder genügend Lebensmittel lieferte, um einen Posten im landgräflichen oder kaiserlichen Haushalt auszumachen, noch von strategischem Interesse war. Die Bewohner der betroffenen Orte hatten niemanden interessiert, als der Fluch des Aussatzes noch nicht über sie gekommen war; jetzt waren die Ortsnamen zwar in aller Munde, aber man konnte nicht behaupten, dass die Teilnahme an den Schicksalen der Menschen größer geworden wäre. Die Gegend wäre selbst im Hochsommer bestenfalls beruhigend gewesen; im Februar und in der Morgendämmerung war sie trostlos. Die braunen und weißen Flächen sahen aus, als wäre das Land selbst von Lepra befallen worden. Es war kein Wunder, dass die Lage des Orts, an dem das Vermächtnis des Satans entstanden war, jedem Gedächtnis entschwunden war; und jemand, der leichter beeindruckbar gewesen wäre als Cyprian, hätte sich beklommene Gedanken gemacht angesichts der Tatsache, dass hier, wo einst ein eingemauerter Mönch und der Teufel versucht hatten, einander zu betrügen, Land und Leute gleichermaßen vom Aussatz befallen waren.
Stattdessen machte Cyprian sich Gedanken, ob es ihm gelingen würde, aus dem Kessel wieder zu entkommen. Hineinzukommen war einfacher gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. In der Morgendämmerung war die Aufmerksamkeitsspanne der Wächter auf dem Tiefpunkt. Alles, was es gebraucht hatte, war, sich aus Chrudim hinauszustehlen, bevor die Tore geschlossen wurden, sich zu Fuß auf den Weg nach Chrast und Umgebung zu machen, während der Nacht nicht von der Richtung abzuweichen und sich dann in der Nähe eines Postens zu verstecken. Als der Himmel erste Anzeichen von Dämmerung zeigte und die Posten von der Nachtwache erschöpft, von der Kälte zermürbt und von der Aussicht auf Ablösung abgelenkt waren, hatte er sich durch einen niedrigen Streifen Nadelwald geschoben und das Land der Teufelsbibel betreten.
Chrast war ein formloser Haufen Häuser. Es lag an der Flanke eines nach Südosten abfallenden Hügels. Man konnte die anderen Ansiedlungen gut von dort überblicken: sie lagen Chrast zu Füßen wie die verschmachteten Kälber einer toten Kuh. Dass Podlaschitz einmal der Mittelpunkt dieser Gegend gewesen sein musste, bevor die Teufelsbibel oder die Hussitenkriege oder beides miteinander über Land und Leute gekommen waren, war klar zu erkennen – die Klosterkirche, die zwei halb zerstörte Türme in die Gräue reckte, inmitten geborstener Mauern lag und an das halb zerfressene Skelett eines riesigen Kadavers erinnerte, war bis hierher zu sehen. Aus den Häusern derjenigen, die beschlossen hatten, statt zu erfrieren lieber zu verhungern, stiegen Rauchsäulen und hauchten den Geruch von feuchtem Holzbrand in die Morgenkälte. Entgegen der landläufigen Meinung starb es sich an Lepra nicht so leicht, wenngleich die meisten, die es bekamen, von ihrer Umgebung als tot betrachtet wurden und es sich zweifellos selbst wünschten. Es waren wenige Häuser, die ein derartiges Lebenszeichen gaben. Wie es in denen aussah, die still unter der Wolkendecke lagen, wollte Cyprian sich nicht vorstellen. Er benutzte kahles Gebüsch, Heuschober und Bodenwellen als Deckung auf seinem Weg nach Podlaschitz hinunter, obwohl er keine Menschenseele erblickte. Er ertappte sich dabei, wie er vor Berührungen all der Dinge zurückzuckte, die von Menschenhand gemacht waren – Steinmauern, zusammengetragene Totholzhaufen, die geschälten Pfosten von Unterständen – und redete sich ein, es geschah wegen der Kälte. Das Gehirn eines Mannes konnte sich noch so oft vorsagen, dass nie ein Mensch vom Aussatz befallen worden war, weil er etwas in einem Lepragebiet angefasst hatte, was seit Unzeiten Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war; der Körper hatte sein eigenes Wissen und zog die Hände schneller zurück als das Gehirn den Reflex überwinden konnte. Als Cyprian die Bachböschung hinunterrutschte, die das halb zugefrorene Rinnsal neben der Klosterruine einfasste, schwitzte er. Von seinem Versteck aus musterte er das Areal, das vor ihm lag und über dem sich das Gerippe der Kirche erhob. Er hatte es sich größer vorgestellt. Es war natürlich idiotisch zu glauben, dass Bosheit und Verderben immer räumliche Größe brauchten, um zu gedeihen; man erwartete es dennoch nicht anders.
Der Torbau war in sich zusammengefallen und stellte sich als das perfekte Hindernis dar, um jedem den Zutritt zu verwehren; allein der gemauerte Bogen war noch übrig geblieben und spannte sich über ein grau-weiß geschecktes Trümmerfeld. Die in sich zusammengesackte Mauer gleich daneben bot sich als neuer Tordurchgang an; die herausgebrochenen Steine lagen so, dass man sie als Treppe benutzen konnte. Cyprians Atem ging stoßweise und verdampfte in der Luft. Es regte sich nichts in jenem Monument der Zerstörung, in jenem Zentrum menschlicher Fäulnis … nicht einmal Raben, die sich überall dort sammelten, wo es etwas zu picken gab, waren zu sehen. Wer wollte, konnte das Verderben spüren, das noch immer von den Mauern ausströmte, in denen einst ein Mönch das Testament des Satans geschrieben hatte. Cyprian wollte nicht und meinte dennoch, es zu fühlen. Je länger er die erstarrte Trümmerlandschaft betrachtete, desto mehr stellten sich seine Haare auf.
„Verdammter Mist“, flüsterte er schließlich in die Totenstille.
„Ich pflichte Ihnen bei“, antwortete eine Stimme.
Cyprian warf sich herum. Er hatte wie immer keine Waffe eingesteckt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Um die Biegung des mäandernden Baches herum spähte ein bleiches Gesicht zu ihm herüber, auf dem die roten Wangen und die erfrorene Nase wie aufgemalt wirkten.
„Ich bin Ihnen gefolgt“, sagte der Mann. „Sie machten den Eindruck, als wüssten Sie, was Sie tun, und ich habe ehrlich gesagt nur darin Erfahrung, vor Stadtknechten davonzurennen.“
Cyprian starrte ihn an. Der Mann zuckte die schmalen Schultern.
„Sie dagegen bewegten sich so, als hätten Sie Ihr ganzes Leben nur damit verbracht, Wachposten zu umgehen.“
„Sie sind ein Bettler oder ein Dieb“, sagte Cyprian zuletzt.
„Der kleine Andrej war einer. Und Sie – Sie sind ein Spion, stimmt’s?“
„Alles, was der kleine Cyprian nie werden wollte“, sagte Cyprian.
Die beiden Männer musterten sich. Cyprian verfluchte sich im Stillen, nur darauf geachtet zu haben, dass er nicht entdeckt wurde, anstatt zu versuchen, jemand anderen zu entdecken, der ihm nachschlich. Hinter Andrejs magerer Fassade schien mehr zu stecken, wenn er es dennoch geschafft hatte, Cyprian zu überraschen. Cyprian stieß die Luft aus.
„Kommen Sie herüber“, zischte er.
Andrej von Langenfels krabbelte an Cyprians Seite. Er war bedacht, dass sein Kopf nicht über dem Rand der Bachböschung zu sehen war. Als er sich neben Cyprian auf die kalte Erde presste, konnte Cyprian erkennen, dass der andere nicht weniger schweißgebadet war als er selbst. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.
„Meine Mutter hat mich immer davor gewarnt, verschwitzt im Schnee zu liegen“, sagte er.
„Hätte meine eigene Mutter sein können“, sagte Andrej, aber er erwiderte das Lächeln nicht. Er wandte den Blick ab.
„Was haben Sie hier verloren?“
„Wie ich sagte: Jarka sucht nach den Spuren ihrer Mutter. Ich habe Grund zur Annahme, dass sie hier in diesem Kloster umgekommen ist.“
„In diesen gottverlassenen Ruinen?“
Andrej spähte über den Rand und zog den Kopf wieder zurück. In seinem Gesicht arbeitete es. Er warf Cyprian einen Seitenblick zu. „Hat sich ganz schön verändert, seit ich zuletzt hier war.“
„Sie waren schon einmal hier?“
„Als kleiner Junge. Als hier der Aussatz noch nicht herrschte. Als es noch ein Tor gab in jenem Torbogen.“
„Mit Ihrer Mutter?“
Andrej erstarrte. Cyprian war betroffen, wie sehr sein Körper sich versteifte. Andrejs Blick war fast gehetzt. „Wie …?“
„Jemand hat mich gelehrt, auf gewisse Dinge Acht zu geben. Ich habe Recht, oder?“
„Der Jemand, für den Sie hier spionieren?“
Cyprian grinste schwach.
„Was suchen Sie hier, Cyprian?“
„Was ist Ihrer Mutter zugestoßen? Und … Jarkas? Das ist Jarmila, oder? Sie nennen sie Jarka?“
„Ich weiß, was Sie hier wollen“, sagte Andrej.
„Tatsächlich?“
„Ich kenne Typen wie Sie. Mein Vater suchte das Gleiche hier. Gefunden hat er nur den Tod.“
Cyprian sagte sehr langsam: „Ich denke, wir sollten uns gegenseitig reinen Wein einschenken.“
„Fangen Sie an.“
Cyprian hob die Hand. Sein Blick schweifte ab.
„Was …?“
„Seien Sie still!“, zischte Cyprian. Andrej presste sich noch enger an die Böschung. Seine Augen erwiderten Cyprians Blick. Auch er hatte es gehört.
Cyprian hob den Kopf so vorsichtig wie ein Landsknecht, der in einer umkämpften Stadt um die Ecke späht. Die Ruine lag immer noch so tot und stumpf vor seinen Augen wie zuvor. Andrej schob sich neben ihm nach oben. Als Cyprian zu glauben begann, dass er sich getäuscht hatte, hörte er es wieder: ein Scharren und Schlurfen. Als es verstummte, rasselte etwas. Cyprian schluckte, als ihm klar wurde, dass das Rasseln der Atem eines Menschen war. Dann stand plötzlich eine hoch gewachsene Gestalt in der Lücke, die als neuer Tordurchgang diente. Sie trug eine zerfetzte schwarze Kutte mit einer Kapuze über dem Kopf.
Andrej machte ein Geräusch in der Kehle, das Cyprian dazu veranlasste, seine Pranke auf Andrejs Hand zu legen. Sein Begleiter hatte die Faust in den halbgefrorenen Dreck gekrallt. Vorne pendelte die schwarze Gestalt den Kopf unter der Kapuze hin und her wie eine Schlange, die glaubt, Witterung aufgenommen zu haben.
Cyprian rutschte unter die Kante der Böschung und zog Andrej mit sich. Sein Herz schlug bis zum Hals, und auf einmal spürte er die Kälte und Nässe des Bodens, auf dem er lag. Er hatte einen Blick in das Gesicht unter der Kapuze werfen können, bevor er in Deckung gegangen war.
Er hatte etwas erblickt, das nicht menschlich ausgesehen hatte, und in zwei Augenlöchern etwas zucken sehen, dem Schmerz, Hass und Einsamkeit jegliche Menschlichkeit genommen hatten.