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11.

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DER HOFKAPLAN UND ehrwürdige Bischof von Wiener Neustadt, Doktor Melchior Khlesl, hatte sich verändert, und nicht alle Veränderungen waren zu seinem Vorteil: Sein Gesicht war so hager geworden, dass seine Nase wie ein Fremdkörper daraus hervorragte, sein Kinn so spitz, dass der Bart, den er trug, davon abstand wie der eines Ziegenbocks. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, dunkle Murmeln, die die Schatten darunter spiegelten und in denen sich kein Lichtpunkt zeigte, so tief waren sie beschattet. Sein schwarzer spanischer Samtrock, auf dem alle Verzierungen, Troddeln, Litzen und Stickereien ebenfalls in Schwarz gehalten waren, hing an ihm wie an einem Kleiderständer. Eine fiebrige Erkältung hatte ihn noch dünner werden lassen; der Pelz um seine Schultern war so fahl wie seine Gesichtsfarbe. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Neffen Cyprian – abgesehen von diesem langen, ruhigen und intensiven Blick. Cyprians Augen waren blau, die seines Onkels schwarz – dennoch hätte jeder flüchtige Beobachter zu wetten gewagt, dass beide dieselbe Augenfarbe hatten. Agnes Wiegant hätte in dem Mann hinter dem wuchtigen Arbeitstisch den Priester, der sich damals so eilig aus der Heiligenstädter Kirche verabschiedet hatte und der nicht in die Kirche zu gehören schien, nicht wieder erkannt.

„Du hast die Höhle unter der Heiligenstädter Kirche zuschütten lassen“, sagte Cyprian statt einer Begrüßung. Für ihn war es leicht, zum Bischof von Wiener Neustadt vorzudringen – der Bischof hatte ein vierundzwanzigstündiges Besuchsrecht für seinen Neffen erteilt, und die einzigen Hindernisse, die sich Cyprian in seinen Weg zu Melchior Khlesl zu stellen pflegten, waren Dienstboten, die die Türen nicht schnell genug aufreißen konnten, um den jungen Mann durchzulassen.

Melchior Khlesl blickte auf. „Eines Tages wirst du wieder so hereinstürmen, ich werde arglos aufblicken, du wirst mir einen Dolch ins Herz stoßen, und alles, was ich noch sagen kann, wird sein: Tu quoque, fili?“

„Wenn Cäsar überhaupt etwas zu Brutus gesagt hat, dann: Kai su, teknon?“, erwiderte Cyprian. „Die römischen Herrschaften sprachen Griechisch miteinander. Hast du mir selbst beigebracht, Onkel.“

„Der Schüler macht dem Lehrer Ehre.“

„Ich dachte, du sagtest, das Buch müsse irgendwo da unten sein?“

„Ich sagte, ich weiß nicht, ob es sich um ein Buch handelt. Wir hätten ein Buch daraus gemacht – die Heiden können alles Mögliche verwendet haben, um das Wissen festzuhalten, einschließlich Zeichnungen an Höhlenwänden.“ Melchior Khlesl zögerte einen Moment. „Ursprünglich waren es mal Zeichnungen an Höhlenwänden, da bin ich mir sicher“, sagte er dann. „Das Böse ist unter uns, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden und die Menschen wie die Tiere lebten.“

„Und jetzt hast du deine Suche aufgegeben?“

„Wenn irgendetwas dort unten ist, dann ist es so gut getarnt, dass nicht einmal ich es gefunden habe. Nachdem ich es nicht an mich nehmen und vernichten konnte, habe ich es lieber dort unten versiegelt. Die Vakanz der Kirche nach dem Tod des alten Pfarrers hat mir gerade die nötige Zeit dazu gelassen, und die Verwüstungen der letzten Flut haben mir geholfen.“

„Gut“, sagte Cyprian. „Gut, dass das zu Ende ist. Dann brauchst du meine Hilfe nicht mehr, und ich kann meine eigenen Wege gehen.“

Es schien nicht so, als ob der Bischof Cyprian gehört hätte. Aber bei Melchior Khlesl konnte man nie so genau wissen. Der Bischof starrte auf den Haufen Dokumente auf seinem Tisch. „In Wahrheit fürchte ich, dass wir ohnehin zu spät gekommen sind“, murmelte er.

„Zu spät? Du hast doch dort unten gesucht, seit die große Überschwemmung das alte Heiligtum freigelegt hat. Fast zwanzig Jahre!“

„Cyprian, wenn ich sage 'zu spät', meine ich: um Jahrhunderte zu spät. Der Aberglaube der Leute hat immer gewusst, dass dort unten etwas Unheimliches war – bis hin zu der Tatsache, dass die Höhlen eine Verbindung zum Fluss hatten und es wirklich einen kleinen See gab, der abhängig von den Jahreszeiten mehr oder weniger Wasser besaß. Die versteinerte Frau, die schwarzen Fische mit den leuchtenden Augen: die stehen für das Böse, das dort unten war und das die Leute sich nicht erklären konnten. Was glaubst du, warum das alte Heiligtum ursprünglich vernichtet und zugeschüttet worden ist? Man hat es dem heiligen Severin als Missionierungstat zugeschrieben, aber ich bin sicher, dass es die Menschen selbst waren, die zu der Zeit hier lebten und die versuchten, die Macht des Teufels in der Erde einzukerkern.“

Cyprian schob Pergamente und Listen beiseite und setzte sich auf die Kante des Arbeitstisches. Sein Onkel lehnte sich zurück und sah zu ihm auf. Cyprian musterte ihn.

„Onkel“, sagte er schließlich. „Die Suche ist vorbei. Und ich bin froh darüber. Ich habe all die Jahre nichts lieber getan, als dir dabei zu helfen. Doch jetzt möchte ich mich meiner eigenen Suche widmen. Du hast die Hälfte deines Lebens nach einem Buch gesucht, das du vor deiner Nase versteckt geglaubt hast – in den Katakomben unterhalb der Heiligenstädter Kirche. Ich habe fast genauso lange die einzige Liebe vor der Nase gehabt, die ich jemals wollte, und jetzt will sie mir jemand wegnehmen. Ich bin dir dafür dankbar, dass du mich aus dem Dreck gezogen hast, Onkel. Jetzt lass mich bitte gehen.“

„Ich habe etwas gefunden, das darauf hinweist, dass mir jemand zuvorgekommen ist.“ Melchior Khlesl seufzte.

„Was?“

„Ein aus Ruß gemaltes Kruzifix in einer Nische, die mit einem Stein verschlossen war. Wenn sich nicht ein Ring aus feinem Schlamm in den Ritzen abgesetzt hätte, hätte ich die Nische nie erkannt. Ich lockerte den Stein und zog ihn heraus. Die Nische war leer – bis auf das gemalte Kreuz.“

Cyprian wollte nicht auf seinen Onkel eingehen; dennoch hörte er sich fragen: „Wie alt?“

Melchior Khlesl zuckte mit den Schultern. „Bis vor der letzten Überschwemmung lag die Stelle unterhalb des Wasserspiegels des Sees. Danach muss der Spiegel gesunken sein, vielleicht weil die angeschwemmten Sedimente irgendwas blockierten – ich weiß es nicht.“

„Das Kreuz kann also ein paar hundert Jahre alt sein – oder nur zwanzig.“

Der Bischof antwortete nicht.

„Offenbar waren es keine Höhlenmalereien“, sagte Cyprian, „die sich in der Nische befanden, sondern etwas, das man mitnehmen konnte.“

„Wachstäfelchen, Tontäfelchen, in Wachs versiegeltes Leinen …“

„Was kann man damit schon anfangen?“

„Jemand kann es übersetzt haben“, sagte Melchior Khlesl und starrte ins Leere. „Das Heiligtum war römischen Ursprungs – also werden die Schriften lateinisch oder griechisch gewesen sein.“

„Jeder halbwegs gebildete Pfarrer oder Mönch …“

Melchior Khlesl lachte unlustig.

„… wie es sie vor ein paar Hundert Jahren noch gab …“, vollendete Cyprian.

„Mit der Bildung ist es nicht mehr weit her“, sagte Melchior Khlesl. „Alles, was sie können, ist das Ketzertum zu verfluchen oder ihm zu verfallen, manchmal genau in der Reihenfolge. Und Mordkomplotte schmieden.“

„Schon wieder?“

Melchior Khlesl stand auf und ging zum Fenster. Cyprian stellte sich neben ihn. Zwei Stockwerke tiefer, unten auf dem gepflasterten Hof des Bischofspalastes, war eine helle, rotbraune Stelle zu sehen; Cyprian glaubte Steinstaub und Splitter in den Pflasterfugen zu entdecken.

„Vorgestern fielen rein zufällig zwei Dachziegel, die sich schon vor Jahren gelockert haben müssen, in den Hof, genau auf die Stelle, an der ich stand.“

„Ein blöder Zufall“, sagte Cyprian und sah seinen Onkel an.

„Ich hörte das Scharren und sprang beiseite.“ Melchior Khlesl tippte an eine Stelle auf seinen Wangenknochen, wo im Licht des Fensters ein kleiner Schnitt zu sehen war. „Ich habe einen Splitter abgekriegt, das ist alles.“

„Täter?“

„Nicht gefunden. Es steht natürlich außer Frage, dass es einer aus dem Gesinde war, ebenso wie es außer Frage steht, wer ihn bezahlt hat.“

Cyprians Blick ruhte immer noch auf seinem Onkel. „Hast du wieder einen Klagebrief an den Papst geschrieben?“, fragte er schließlich mit leichtem Lächeln. „Du weißt doch, dass deine Nachrichten abgefangen werden.“

„Manchmal muss man sich eben Luft machen“, brummte der Bischof und starrte missmutig zum Fenster hinaus.

„Hast du die kaiserlichen Hofräte wieder als Quellen allen Übels, als Unterstützer gottloser Prälaten und als Anstifter des Aufruhrs gegen deine Bischofswürde beschuldigt und sie als Parasiten und den Hof als Misthaufen bezeichnet?“

„Schlimmer“, sagte Melchior Khlesl düster, ohne näher zu erklären, was noch schlimmer sein konnte.

Cyprian trat vom Fenster zurück und betrachtete den überfrachteten Arbeitstisch seines Onkels. „Wachstäfelchen und Leinwandbahnen. Was glaubst du, wo die Schriften jetzt sind?“

„Cyprian, wie ich ohne Zweifel schon hundertmal erklärt habe …“

„… sind die Wachstäfelchen und die Leinwand nicht mehr da, so wie die griechischen Steintafeln nicht mehr da sind, von denen die Römer auf die Wachstafeln übertragen haben, so wie es die ägyptischen Schriftzeichen nicht mehr gibt, von denen die Griechen abgeschrieben haben …“

„… und und und“, sagte Melchior Khlesl. „Zurück bis zu Sodom und Gomorrha, bis zur Sintflut … bis zu Kains Mord an Abel, wenn du willst.“

„Und du glaubst, so eine lange Kette kannst du einfach durchtrennen, indem du die letzte Ausgabe dieses Vermächtnisses des Bösen vernichtest.“

„Was ich persönlich glaube, ist, dass die Möglichkeit des Scheiterns sehr groß ist“, sagte der Bischof und warf Cyprian einen raschen Seitenblick zu. „Was ich aber auch glaube, ist, dass wir es versuchen müssen, weil das Böse immer dann unbesiegbar wird, wenn niemand auch nur den Versuch wagt, sich dagegen zu stemmen.“

Cyprian lächelte. Melchior Khlesl hustete, zerrte an seinem Pelz und erschauerte. Cyprian fasste hinüber und zog den Pelz an den schmalen Schultern seines Onkel zurecht. Sie sahen sich in die Augen. In diesem Augenblick wirkten sie trotz aller Unterschiedlichkeit – hier der alternde, hagere Bischof mit dem müden Gesicht, dort sein junger, bulliger Neffe, der es liebte, sein Haar kurz zu scheren, obwohl er damit aussah wie ein minderbemittelter Bauer mit locker sitzenden Fäusten – wie Vater und Sohn. Cyprian war von Anfang an das Protegé seines Onkels gewesen, der Cyprians älteren Bruder und all seine jüngeren Schwestern ignoriert hatte; und Cyprian hatte die Geschenke des aufstrebenden Klerikers – meistens in Form von Lektionen, Reisen, Einladungen zum Essen mit Doktoren, Professoren und anderen hoch gebildeten Kirchendienern – akzeptiert, genossen, umgesetzt und in der Regel die Erwartungen Melchior Khlesls übertroffen. In dem Alter, in dem erste Söhne von Fürsten an andere Höfe überwechselten, um dort eine gleichzeitige Ausbildung und Geiselhaft zu absolvieren, und in dem erste Söhne von Kaufleuten bei Geschäftspartnern in die Lehre gingen, hatte Melchior Khlesl seinen Neffen in die Jagd eingeweiht, der er sein eigenes Leben gewidmet hatte.

„Lebt dein Vorkoster noch?“, fragte Cyprian.

Der Bischof zog eine Grimasse. „Ich habe mir nur einen Zug eingefangen, das ist alles. Wenn man versucht hätte, mich zu vergiften, lägen jetzt ein paar Leichen in diesem Palast herum.“

„Auch Vorkoster können bestochen werden.“

„Ich rede von meinen Hunden. Die probieren alles, bevor ich es esse. Meinem Vorkoster traue ich schon lange nicht mehr. Ich gebe ihm nur zu kosten, damit es ihn wenigstens auch erwischt, wenn mir einer mit Gift an den Kragen will.“ Melchior Khlesl zog eine Braue in die Höhe. Das Lächeln in seinem Gesicht erlosch. „Cyprian, irgendwann springe ich zu spät zur Seite, und dann treffen mich die Dachziegel. Ich möchte dich zu meinem Erben machen. Ganz offiziell. Ich möchte dich an Sohnes Statt annehmen. Ich möchte, dass du eine Karriere in der Kirche anstrebst. Ich möchte dich am Hof einführen und dich in alle Beziehungen, die ich über die ganzen Jahre hinweg in Rom und zum Kardinalskollegium aufgebaut habe, einbinden. Ich möchte, dass du meine Arbeit fortführst, wenn ich tot bin, und das kannst du nur, wenn du eine gewisse Machtposition in diesem Wolfsrudel hast, das sich das Heilige Römische Reich nennt. Ich werde deine Ausbildung, dein Studium und alle nötigen Bestechungsgelder bezahlen, und ich werde dafür sorgen, dass du schneller als jeder andere den Bischofsstab in der Hand hältst. Nimmst du mein Angebot an?“

Cyprian betrachtete seinen Onkel. Was immer er für den Mann empfand, es war nicht weit von bedingungsloser Liebe entfernt. „Von ganzem Herzen: Nein“, sagte er.

Der Bischof schüttelte den Kopf. „Gerade deswegen bist du der Richtige.“ Er seufzte. „Jeder andere in deinem Alter und in deiner Lage würde seine Seele dem Teufel verpfänden, wenn ich ihm so ein Angebot machte. Dein Bruder erbt die Bäckerei; deine Schwestern brauchen Geld für die Mitgift. Was bleibt für dich übrig? Nichts. Ich mache dir dieses Angebot nicht, um mir deine Loyalität zu erkaufen; wir beide wissen, woran wir miteinander sind. Ich mache es dir nur zu dem einen Zweck, dass du meine Suche fortführen kannst, wenn ich sie zu Lebzeiten nicht zu Ende bringe. Wenn das Testament des Teufels unter die Menschen kommt, wird es zu einer unvorstellbaren Katastrophe kommen. Denk an das Strafgericht über Sodom; denk an die Sintflut; denk daran, wie das römische Imperium gefallen ist. Unsere Welt wird in Flammen aufgehen.“

„Vielleicht habe ich mich vorhin unklar ausgedrückt: Ich bin hierher gekommen, weil ich um deinen Abschied bitten wollte“, sagte Cyprian nach einer Pause.

„Du hast dich sehr klar ausgedrückt.“

Cyprian schaute aus dem Fenster in den sich einschwärzenden Abendhimmel. „Ich weiß, dass ich dich nicht zu bitten brauche. Du bist nicht mein Herr, und ich bin nicht dein Knecht. Aber ich bin in deiner Schuld. Lass mich gehen, Onkel – es wartet jemand auf mich.“

„Das Schlimmste an all dem ist“, sagte der Bischof, als ob er Cyprians Worte nicht gehört hätte, „dass immer mehr Menschen Bescheid wissen. Es ist, als habe das Testament des Teufels für sich selbst entschieden, dass es nun lange genug geruht hat. Und die meisten, die davon Wind bekommen, wollen es für gute Zwecke benutzen – die Reformation beenden, die Welt unter der Herrschaft von Jesus Christus einigen, den Teufel endgültig aus der Hölle verbannen, was weiß ich. Sie verstehen nicht, dass man das Böse nicht für gute Zwecke einsetzen kann; es wird immer nur neues Böses daraus erwachsen. Diejenigen, die aus finsteren Gründen hinter den Schriften her sind, sind die leichtesten Gegner, weil man sie auf die Ferne erkennen kann. Die anderen, die der Überzeugung sind, das Richtige zu tun – die müssen wir fürchten.“ Er wandte sich seinem Neffen zu. Cyprian war bestürzt über die fleckige Röte, die die Wangen seines Onkels überzogen hatte. „Ich kann diesen Kampf nicht allein führen. Ich bin zu schwach.“

„Du wirst dich nicht verführen lassen.“

„Ich bin nicht weniger verführbar als alle anderen. Ich werde das Buch ungesehen verbrennen, wenn es mir in die Hände fällt. Aber ich habe keine Chance, es allein zu finden.“

Cyprian erwiderte nichts. Melchior Khlesl zerrte wieder an seinem Pelz. Cyprian betrachtete sein Gesicht von der Seite. Plötzlich gruben sich Falten in die Wangen des Bischofs. Er lächelte wieder.

„Jemand wartet auf dich, wie? Die Liebe, die du die ganze Zeit vor der Nase hattest so wie ich die Gewissheit, dass die Heiligenstädter Kirche nicht nur eine alte Legende unter ihren Mauern verbirgt?“

„Das Warten hat jetzt ein Ende.“

„Ich höre, es gibt andere Pläne für Agnes Wiegant.“

Cyprian war nicht überrascht, dass sein Onkel Bescheid wusste. Er stellte fest, dass es auf diese Weise sogar leichter war. Melchior Khlesl war nicht bekannt als einer, der seinen Mitmenschen Brücken baute. Für seinen Neffen Cyprian machte er Ausnahmen, wenn er das Gefühl hatte, dass es dem Jungen sonst zu schwer fiel, aus seiner Schale herauszukommen. Cyprian wusste genau darüber Bescheid. Es gab viele Gründe, warum nach Agnes sein Onkel der Mensch war, der ihm am meisten bedeutete. „Agnes ist ein illegitimes Kind. Wusstest du das auch?“

Melchior Khlesl musterte seinen Neffen über die Schulter hinweg. Seine Augenbraue war wieder in die Höhe gerutscht. „Nein“, sagte er. „Woher hast du es?“

„Von ihr. So ein schleimiger Dominikanerpater, den Agnes’ Vater von früher her kennt und der im Frühjahr zu Besuch war, hat sich wohl verplaudert.“

„Und?“

„Ihr Vater sagt, er habe sie aus einem Wiener Findelhaus gerettet.“

„Na, das ist doch eine gute Tat.“

„Warum hat er es ihr dann bislang verschwiegen?“

„Manchmal möchte man seine Lieben vielleicht nicht vor den Kopf stoßen oder sie aus ihren Träumen reißen – manchmal möchte man sich vielleicht selbst nicht aus seinen Träumen reißen …“

„Er hat jedenfalls kein Problem damit, sie mit jemandem zu verheiraten, den sie nicht liebt.“

Melchior Khlesl wandte sich vom Fenster ab. Er schlenderte zu seinem Tisch und setzte sich. „Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es tun, das weißt du. Ich glaube aber kaum, dass das Oberhaupt der Familie Wiegant auf mich hören würde.“ Er lächelte schief. „Damit meine ich nicht den guten alten Niklas.“

Cyprian schwieg. Er war sorgfältig darauf bedacht, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.

„Nein“, sagte Melchior Khlesl schließlich. „Erstens: ich wüsste nicht, was ich tun sollte; zweitens: eine Liebe, die man sich nicht selbst erkämpft, hat keinen Wert.“

„Ite, missa est“, sagte Cyprian.

Der Bischof lächelte müde. „So trennt die Liebe unsere schöne Kameradschaft.“

Cyprian schwieg einen so langen Augenblick, dass die Stille Zeit hatte, sich bemerkbar zu machen. „Nein“, sagte er zuletzt. „Aber deine Predigt war unnötig.“

„Es war keine.“

Cyprian zuckte mit den Schultern. Sein Blick wich nicht vom Gesicht seines Onkels.

„Wen soll sie heiraten?“

„Sebastian Wilfing junior.“

„Keine schlechte Wahl“, sagte der Bischof.

„Ich nehme auch nicht an, Niklas Wiegant will seine Tochter vorsätzlich quälen.“

„Wart ihr nicht einmal Freunde, du und Sebastian Wilfing?“

„Das hieße den Begriff Freundschaft herabwürdigen. Aber wir waren keine Feinde.“

Melchior Khlesl nickte. Wenn er die Vergangenheitsform herausgehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken.

„Agnes erinnert sich nicht an das, was sie in den Katakomben unterhalb der Kirche gesehen hat“, erklärte Cyprian. Er dachte daran, was Agnes ihm heute gestanden hatte. „Sie hat die Kirche und alles, was mit ihr zusammenhängt, vollkommen vergessen“, log er, ohne wirklich zu wissen, warum er es tat.

„Cyprian – was diese Angelegenheit betrifft, so ist alles auf irgendeine Weise miteinander verbunden. Dazu brauche ich keinen Stein der Weisen, kein Wissenselixier oder sonst einen Unsinn der Alchimisten. Meine Nase sagt mir das, und meine Nase hat mich noch nie betrogen.“

„Deine Nase, hm? Hat deine Nase dir nicht auch gesagt, es sei klug, sich mit Erzherzog Mathias zusammenzutun, und hat dir deswegen die Feindschaft der kaiserlichen Räte eingebrockt?“

„Das heißt noch nicht, dass sich meine Nase geirrt hätte. Cyprian, ich bitte dich, lass mich nicht im Stich. Du wirst nichts dagegen tun können, dass Agnes den Mann heiratet, den ihr Vater für sie vorgesehen hat. Ich brauche mein Angebot nicht ein zweites Mal zu äußern.“

„Meine Karriere in der Kirche.“

„Es geht nicht um die Karriere. Es geht darum, dass das Werk fortgesetzt wird, das Jesus Christus begonnen hat: die Menschheit vor der Verführung durch das Böse zu beschützen. Es geht darum, dass Menschen wie du nötig sind, um diese Arbeit zu erfüllen.“

„Meine Antwort bleibt die Gleiche.“

Der Bischof trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Cyprian – hilf mir dabei, dieses unheilige Manifest zu finden. Ich sorge dafür, dass du dein Studium hier unter meinen Fittichen absolvieren kannst. Du wirst Wien nicht einmal verlassen müssen. Und du wirst ständig mit Agnes in Verbindung bleiben, weil sie irgendwie zu dieser Geschichte dazugehört, sonst wäre sie damals unter der Heiligenstädter Kirche nicht dem Ruf der Katakomben gefolgt. Dass sie Sebastian Wilfings Frau ist, heißt noch lange nicht, dass sie nicht deine Geliebte werden kann. Die Kirche braucht deinen ungeteilten Geist, nicht deine ungeteilte Manneskraft.“

„Du bist zu lange Bischof gewesen, Onkel, du denkst schon wie ein Kleriker in Rom“, sagte Cyprian.

Melchior Khlesl wirkte betroffen. „Ich habe es gut gemeint“, murmelte er schließlich.

„Onkel, wenn ich mich auf so etwas einlassen würde, dann wäre ich nicht nur der falsche Mann für Agnes, sondern auch für deine Aufgabe. Wenn Agnes und ich zusammenkommen, dann nicht auf der Basis von Betrug und Heimlichtuerei, und es ist mir ganz egal, ob der Zustand, den du mir vorgeschlagen hast, für die Hälfte aller Liebenden die probate Lösung ist. Für uns ist es die falsche Lösung.“

„Hilf mir nur noch bei einer einzigen Sache“, sagte Bischof Khlesl. „Es gibt neue Entwicklungen, und ich möchte, dass du sie dir mit mir zusammen anhörst.“

„Welche neuen Entwicklungen?“

„Ich lasse dich holen, wenn ich sie selber erfahre.“

Cyprian horchte den Worten des Bischofs nach. „Du bist nicht mehr der Einzige, der der Teufelsbibel auf der Spur ist.“

„Ich sagte es ja schon: sie ist wieder erwacht.“

„Wenn du mich rufst, komme ich.“

„Danke.“

Cyprian wandte sich zum Gehen.

„Woher wusstest du, dass der Zugang zu den Katakomben unter der Kirche nicht mehr existiert?“, fragte der Bischof.

Cyprian blickte sich nicht um. „Ich war dort“, sagte er. „Du hast nicht gesagt, ich dürfe nicht auch mal dort vorbeischauen.“

„Kein Problem“, erklärte der Bischof.

Cyprian konnte nicht sagen, ob sein Onkel seine Lüge durchschaute oder nicht. Es verursachte ihm Magenschmerzen, dem Bischof die Wahrheit zu verschweigen, doch er hatte das Gefühl, er tat es zu Agnes’ Schutz. Er öffnete die Tür; aus dem angrenzenden Raum sprintete ein Diener heran und nahm ihm die restliche Arbeit ab. Dann wandte er sich noch einmal um. Bischof Khlesl war wieder in seine Dokumente vertieft. Während er darin raschelte, zog er mit der anderen Hand seinen Pelz zurecht. Er hustete. Der Diener schloss die Tür.

„Pass auf dich auf“, murmelte Cyprian gegen das geschlossene Türblatt, drehte sich um und ging.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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