Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 38

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"KANNST DU SIE hören, kannst du sie riechen, kannst du sie fühlen – die Stadt der hundert Glockenspiele und Choräle, der fremdländischen Düfte und höllischen Ausdünstungen, der Pflastersteine unter deinen Füßen und der zauberhaften Hände auf deiner nackten Haut? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen, die Stadt der hundert Türme – den Weißen und den Schwarzen Turm, den Daliborka-Turm, den Mihulka-Turm, den Heinrichsturm, den Nikolausturm, die Türme von Maria vom Teyn, von Sankt Veit, den Rathausturm? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen? Kannst du sie hören, kannst du sie riechen? Siehst du die Burg auf ihrem Hügel thronen, hörst du die Löwen im Hirschgraben brüllen, riechst du die Schwaden aus den Hexenstuben in der Goldmachergasse? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen, die Prinzessin Libuše, wie sie ihren Rittern befiehlt, vor Přemysls Schwelle niederzuknien und die Stadt Prag zu gründen? Kannst du sie hören, Dalibors Geige, die er noch spielte, als er zum Scharfrichter geführt wurde, und die erst verstummte, als sein Kopf unter dem Beil fiel? Kannst du sie riechen, die halb verweste Brigitta, deren Geist in Gewitternächten durch die Gassen weht und jeden Vorübergehenden küsst, weil sie hofft, die Lippen ihres Geliebten zu schmecken, die ihm die Raben am Galgen von den Zähnen gepickt haben? Das ist PRAG, Fremder, das ist das Paradies des Teufels, das ist die Stadt der Engel, kannst du sie riechen, kannst du sie hören, kannst du sie SEHEN? Schätze dich glücklich, Fremder, denn ich kann es nicht! Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden, Almosen für einen Blinden!“

Pater Xavier starrte auf den Bettler hinab, der an der Flanke der Marienkirche auf dem Boden kauerte, eine Lederkappe vor sich. Sein Oberkörper pendelte hin und her, der Leinenstreifen um die Mitte seines Haupts war schmutzig und dort, wo die Augen gewesen wären, halb durchtränkt von einer wässrig roten Flüssigkeit. Der Mann schrie mit tönender, heiserer Stimme. In seiner Lederkappe befanden sich ein paar Münzen, eine Handvoll Haferkörner, ein halb aufgegessener Wecken und ein grob geschnitztes Männchen, von dem sich ein mitleidiges Kind getrennt haben musste. Über Pater Xaviers Gesicht huschte ein leichtes Lächeln. Der Blinde stellte das Pendeln ein, witterte mit ruckartigen Kopfbewegungen und richtete schließlich sein Gesicht auf Pater Xavier.

„Wie geht es dir, Fremder?“, fragte er mit ruhiger, tiefer Stimme.

„Ganz gut, denke ich“, sagte Pater Xavier. „Gott segne dich, mein Sohn.“

„Dank sei Gott dem Herrn, Bruder. Er segne auch Sie.“

Pater Xavier fühlte eine Leichtigkeit, die er die ganzen sieben Tage in der Klausur des Benediktinerklosters nicht gespürt hatte. Es war die Leichtigkeit des Jägers, der zwar noch nicht weiß, wo sich seine Beute versteckt, der sich aber endlich aufgemacht hat, nach seiner Fährte zu suchen. Der Jäger weiß, dass die Beute zuschlagen kann, noch bevor er gewappnet ist, und sei es aus purer Angst. Das war die Antwort auf die Frage, die er sich so lange gestellt hatte, wie Gott benötigt hatte, um die Welt zu schaffen: konnte er seine Mission erfüllen, ohne sich im Hradschin aufzuhalten, im Zentrum des Spinnennetzes, im Knotenpunkt der Macht, der Gerüchte, der Halbwahrheiten und verdrehten Tatsachen, im Magnetberg für alles, was jenseits der Grenzen des katholischen Glaubens wandelte? Konnte er anderswo als im Reich des Alchimistenkaisers eine Hoffnung haben, die Spur zu seinem Ziel aufzunehmen?

Die Antwort war Nein gewesen.

„Also gut“, sagte er. „Woher weißt du es?“

„Die Stimme, Bruder. Die Stimmen der Menschen sagen einem alles. Man muss nur zuhören wollen. Und was kann ein Blinder besser als zuhören? Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden!“

Pater Xavier trat beiseite, als ein Mann sich bückte, eine Münze in die Lederkappe schlüpfen ließ, sich bekreuzigte und weiterging. Der Blinde nickte ernst vor sich hin.

„Und was hat dir meine Stimme gesagt?“

„Sie ist leise, Bruder. Ein Mann Gottes hat es nicht nötig, laut zu sprechen, er weiß, dass er gehört wird. Sie hat einen Akzent, Bruder, und ich glaube verdörrte Ebenen, glühende Steine und das Blau eines kalten Meeres darin zu vernehmen. Sie spricht die Worte Gottes, Bruder, und so früh am Tag und außerhalb der Kirchen vernimmt man das Wort Gottes nicht oft.“

„Schön, schön“, sagte Pater Xavier. „Man könnte einen mit so einem scharfen Gehör geradezu beneiden.“

„O nein, Bruder, beneiden Sie mich nicht. Gott hat mir das Augenlicht genommen, weil ich ein armer Sünder war. Ich bereue und habe meine Strafe angenommen, aber beneiden Sie mich nicht, Bruder, wirklich nicht.“

„Stammst du aus Prag?“

„Dreißig Jahre auf dem Pflaster, in den Gassen und unter den Türmen – das bin ich, Pater, jawohl. Dreißig Jahre mit dem Kuss von Engeln auf der Stirn und dem Biss der Teufel im Arsch, wenn Sie entschuldigen wollen, Pater.“

„Kennst du dich gut aus?“

„Ich habe den Pflastersteinen in jeder Gasse Namen gegeben, Pater. Hier …“, die Hände des Bettler flatterten über den Boden, „der da, der so aufragt, das ist Horymir, und der breite daneben, das ist Horymirs Pferd Šemík, wie es über die Burgmauer springt und den Abhang hinunter gleitet, um seinen Herrn vor der drohenden Hinrichtung zu retten …“

„Und auf der Burg?“

„O Bruder, wie sollte ich mich auf dem Hradschin nicht auskennen, wo ich doch die gesegneten Jahre meines Lebens dort verbracht habe? Ich war ein Dienstbote, Bruder, ich hatte es warm und trocken und jeden Tag genügend zu essen und trinken, und das machte mich hoffärtig und leichtsinnig. Ja, heute kann ich es zugeben, denn ich bin ein reuiger Sünder, und diesen gehört die Liebe unseres Herrn Jesus: ich habe gestohlen, Bruder, und man hat es entdeckt, mir das Augenlicht genommen und mich auf die Straße geworfen. Ich trage es ihnen nicht nach, Bruder, denn die Strafe war gerecht, und …“

Pater Xavier nickte. Er holte eine Münze aus seiner schmalen Börse, hielt sie über den Lederbeutel, rückte die Hand nach kurzem Zögern ein paar Zoll beiseite und ließ die Münze fallen.

„… die Nachsicht unseres Herrn hat mir dafür andere Sinne gegeben.“

Die Münze fiel neben den Lederbeutel auf das Pflaster und sprang davon. Pater Xaviers Fuß schoss nach vorn und nagelte Münze und Hand des Blinden, der noch schneller danach gegriffen hatte, auf dem Boden fest.

„Autsch …“, sagte der Blinde. „… gottverdammt!“ Er versuchte, die Hand unter Pater Xaviers Fuß hervorzuziehen, aber der Dominikaner verlagerte sein Gewicht auf den Fuß. Der Blinde ächzte und gab seine Bemühungen auf. Halb zu Füßen Pater Xaviers liegend, starrte er mit verzerrtem Gesicht zu ihm nach oben.

„Soso“, sagte Pater Xavier. „Andere Sinne.“

„Was soll das, Pater, verdammte Scheiße?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagte Pater Xavier. „Möglichkeit eins: ich ziehe dir die lächerliche Binde vom Kopf, die du mit Beeren rot eingefärbt hast, damit man nicht sieht, wie dünn du sie an den Stellen gescheuert hast, durch die du hindurch sehen kannst; fange dann laut zu schreien und Gott zum Zeugen anzurufen an, dass du ein Betrüger bist, und halte deine Hand so lange unter meinem Fuß fest, bis die Stadtwachen kommen und dich abführen; und falls du eventuell mit dem Gedanken spielen solltest, mich mit der freien Hand angreifen zu wollen, so denk daran, dass deine Finger unter meinem Fuß vor lauter Gier nach der Münze gekrümmt waren und ich sie dir ganz einfach alle vier brechen kann, indem ich noch ein bisschen mehr Gewicht verlagere …“

Es knackte unter Pater Xaviers Sandale.

„Au!“, rief der Bettler. „Schon gut, schon gut, ich wähle die zweite Möglichkeit!“

„Was stimmt an deiner Geschichte mit dem Dienstbotendasein auf dem Hradschin?“

„Alles, außer dass ich nicht geblendet worden bin!“, jaulte der Bettler. „Hören Sie auf, Bruder, ich spiele Ihr Spiel doch mit.“

Pater Xavier hob den Fuß. Der Bettler zog die Hand an sich und hielt sie dicht vor die Binde. Die Finger sahen gequetscht aus. „O Mann, das tut WEH!“, stöhnte er.

„Du bist nicht ernsthaft verletzt, also hör auf zu jammern.“

„Gott segne Sie, Bruder, und wenn Ihnen jemals die Rübe von den Schultern fällt, dann hoffe ich, dass Er Ihnen in den Hals scheißt!“

„Wie komme ich in den Hradschin hinein?“

Das von der Binde halb unkenntlich gemachte Gesicht richtete sich überrascht auf ihn. Dann huschte ein Lächeln über die struppigen Wangen des Bettlers.

„Noch neu in der Stadt, aber schon haben Sie gehört, dass im Reich Seiner allerchristlichsten Majestät Hermes Trismegistos keine Kutten erwünscht sind?“

„Hermes Trismegistos?“

„Der Kaiser sitzt nicht nur auf seinem Thron – er sitzt auch auf dem Stuhl des Hexers. Wussten Sie das nicht, Pater? Der Kaiser besitzt alles, was es zur Magie braucht: Alraunen, getrocknete Föten, Steine mit teuflischen Zeichen, in Kristall eingeschlossene Dämonen, Bezoare, vom Himmel gefallene Steine. Er experimentiert mit Mumienstaub und Leichenfett und versucht, einen Homunkulus zu schaffen; er studiert zusammen mit den jüdischen Rabbinern und steckt seine Nase öfter in deren Zaubersprüche als in die Bibel. Man nennt ihn deshalb Hermes Trismegistos, den dreifach Großen …“

„Den Gott des Höllenfeuers, den Gott des Todes, den Gott der Fruchtbarkeit …“, murmelte Pater Xavier.

„Angst, Pater?“ Der Bettler grinste und verbarg gleichzeitig seine lädierte Hand an seinem Körper. Pater Xavier ignorierte ihn.

„Wie komme ich in den Hradschin hinein?“, wiederholte er.

„Der Kaiser duldet keine Kutten in seiner Nähe, wenn er deren Träger nicht persönlich kennt, und selbst die kommen oft tagelang nicht an ihn heran“, sagte der Bettler. „Haupteingang und Nebeneingänge werden von der Eskorte bewacht, die den Kaiser auch von Wien hierher begleitet hat. Fremde werden abgewiesen.“ Der Bettler kicherte. „Wenn Sie warten wollen, Pater, befinden Sie sich wenigstens in guter Gesellschaft – ausländische Botschafter, Reichsbarone, päpstliche Legaten, Abgesandte von Königen: auf dem Hradschin wartet alles.“

„Ich will nicht warten“, sagte Pater Xavier sanft. Das Grinsen des Bettlers erlosch.

„Sagen Sie, Sie wurden von den Doktores Maier und Ruland zu einem Disput gerufen. Maier hängt dem Rosenkreuzer-Unsinn an, und Ruland glaubt nur an Wasserbäder, Aderlässe und Schröpfköpfe, wenn es um das Heil geht – aber beide liefern sich oft Diskussionen mit gelehrten Kirchenvertretern, um ihre Theorien zu beweisen. Sie sehen wie ein gelehrter Mann aus, Pater. Versuchen Sie ein gescheites Gesicht zu machen, dann lässt man sie vielleicht durch.“

Pater Xavier bückte sich und hob die Münze auf. „Ich wähle auch die zweite Möglichkeit“, sagte er und schnippte die Münze in die Lederkappe. Dann richtete er sich auf und betrachtete das vermummte Gesicht unter sich. Er sah einem Schweißtropfen nach, der unter der Binde hervor und in den Hals seines Gesprächspartners rann. In die Morgenstille des Platzes drang der Schritt einer Gruppe von Stiefelsohlen.

„Gibt es noch irgendetwas, das du mir beinahe zu erzählen vergessen hättest und das dir gerade noch eingefallen ist?“, fragte er.

„Meiden Sie den Dienstbotentrakt“, sagte der Bettler. Pater Xavier hatte das Gefühl, dass er seine Augen hätte zucken sehen, wenn er die Binde entfernt hätte.

„Noch etwas?“

„Gehen Sie zum Teufel, Pater.“

„Gott segne dich, mein Sohn.“ Pater Xavier wandte sich um und ging gelassen davon.

„Was wäre denn Ihre erste Möglichkeit gewesen, Pater?“, rief der Bettler ihm hinterher.

Pater Xavier deutete auf die Gruppe Stadtknechte mit Spießen und Armbrüsten, die über den Platz trabten und die das Stiefelgeräusch verursacht hatten. Er drehte sich nicht um dabei und warf dem Bettler auch keinen Blick mehr zu. Aber er registrierte mit Befriedigung, dass erst nach seinem Eintritt in eine der dunklen Gassen das tönende „Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden!“ wieder zu vernehmen war.

Für eine Weile war die Hofburg in Wien Pater Xaviers Lebensraum gewesen. Als er über die Zugbrücke und durch das zwar bewachte, aber nicht gesicherte Ehrentor in den ersten Burghof des Hradschin schritt, von den Wachen nur mäßig interessiert gemustert, wusste er, dass Kaiser Rudolf hier sein Zuhause gefunden hatte. In Wien hatte der Kaiser, damals nur der Erzherzog von Österreich, ständig über die offene, ungeregelte, unsymmetrische Struktur des kaiserlichen Machtzentrums gestöhnt – die enge Hofburg selbst, der völlig losgelöst davon erbaute Arkadenhof, den zu erreichen man über freies Gelände gehen musste und den man wegen seiner Unbeliebtheit kurzerhand in Stallburg umgetauft und den Pferden als Domizil überlassen hatte; selbst seinen eigenen Versuch, ein für ihn angemessenes Gebäude östlich der alten Hofburg zu errichten, hatte er zu hassen begonnen, kaum dass er sich zu dem merkwürdig trapezförmigen Grundriss hatte zwingen lassen. Drei Gebäude, verteilt über eine gewaltige Fläche, zwischen Hütten, Ställen und Gesindehäusern aufragend, von keiner Mauer geschützt, in die Wiener Ebene geklotzt mit dem offenkundigen Willen zum Kompromiss und dem ästhetischen Diktat zum Pragmatismus; und hier das genaue Gegenteil davon: eine geschlossene Burganlage, im Norden und Süden von tiefen, natürlichen Wällen der umgebenden Stadt entrückt, im Westen durch einen künstlichen Graben und im Osten durch den steil abfallenden Hang des Burgbergs geschützt. Der Hradschin zog sich auf dem Rücken des großen Felsens von Westen nach Osten hin wie die zu Quadern, Dachschrägen, Zinnen und Turmspitzen erstarrte Schaumkrone einer Stein gewordenen Welle, die über Prag hoch gegischtet und dort für immer festgehalten worden war; und mit den Schatten, die rings herum im Lauf eines Tages an ihr herab rannen, sickerten die Krankheit ihres kaiserlichen Bewohners und die Korruption seines Hofstaates in die Stadt drunten hinab.

Man konnte dies wissen und dennoch beeindruckt sein; man konnte, wenn man vom zweiten in den dritten Burghof gelangt war und erkannte, dass der mächtige Veitsdom in Wahrheit eine Bauruine war, die viele geniale Männer angefangen und keiner von ihnen je beendet hatte, dennoch den Kopf in den Nacken legen und staunen; man konnte die Augen schließen und die in die Höhe schießenden Monumente von Selbstbewusstsein und architektonischer Größe rings herum fühlen und sich gleichzeitig klein und doch geborgen vorkommen – was die Macht gehabt hatte, solche Bauten zu befehlen, musste doch auch die Macht haben, der Christenheit und einem selbst voran in die Seligkeit zu schreiten.

Pater Xavier, der sich ziemlich genaue Vorstellungen über die Macht des Kaisertums und die Intentionen seines derzeitigen Inhabers machte, tat keines davon. Er schlenderte auf den Eingang des Königspalastes zu, zog ein überraschtes Gesicht, als die Wachen ihn aufhielten, sagte seinen Vers über die Doktores Maier und Ruland auf und wurde nach winzigem Zögern eingelassen. Die Marotte des Kaisers, die den Hradschin zu einer versiegelten Festung machte, schuf gleichzeitig auch seine Schwachstelle.

Pater Xavier war ohne konkreten Plan in den Hradschin gekommen, wenn man es nicht als Plan bezeichnen wollte, dass er an diesem ersten Tag nichts zu erreichen hoffte. Auch im Inneren eines Ungetüms wie des Hradschin flüsterten die losen Zungen nicht in das erstbeste Ohr; auch inmitten der tausend dienstbaren Seelen, die hier durch die Räume trieben, mussten diejenigen erst gefunden werden, denen man die richtigen, scheinbar arglosen Fragen stellen konnte. Vielleicht würde er sogar wirklich nach den beiden Männern suchen, die er als Alibi angegeben hatte, und mit ihnen in Disput treten. In ein paar Tagen würden die Wachen sein Gesicht kennen und ihn ohne Nachfragen durchlassen; in ein paar weiteren Tagen würden sie sein Gesicht schon wieder halb vergessen haben, und wenn sie in einem Archiv oder einer Bibliothek auf ihn stießen, dann würde seine Anwesenheit ihnen nicht illegal erscheinen und sie nicht im Traum darauf kommen, dass ein Spion in eigener Sache ihnen lächelnd zunickte.

Mit diesen Gedanken bog Pater Xavier um die Wendel einer engen Treppe, die nach unten und zur Burgmauer hin führte und die seiner Erfahrung nach verkommen und dunkel genug war, um zu den Gesindequartieren zu führen. Die Dienstboten kamen überall hin und waren am leichtesten von allen durch den dominikanischen Habit zu beeindrucken; unter ihnen würde er seine ersten Verbündeten suchen, so wie er es in Wien getan hatte, um auch über die Sünden seines Beichtkindes informiert zu sein, die dieser nicht gestand. Als Erzherzog hatte Rudolf einen Hang zu niederem Fleisch gezeigt; keine Dienstmagd, ob alt oder jung, war vor ihm sicher gewesen … Pater Xavier gestattete sich ein verächtliches Lächeln in der Finsternis und Einsamkeit der langen, gewendelten Treppe. Sein Mund war immer noch verzogen, als er genau auf Höhe der kleinen, schießschartenähnlichen Fensteröffnung in den sehr dicken Mann hineinlief, der ihm entgegenkam.

Der Aufprall hüllte Pater Xavier in Schweiß-, Fisch- und Bratenduft und in die glitschig-klebrige Berührung von zu viel Brokatstickereien auf einer monumentalen Menge Seide. Er blieb stehen, während der dicke Mann einen erschrockenen Schritt zurücktrat und Pater Xavier das Weiteratmen ermöglichte.

Der Mann war Leviathans Zwillingsbruder – größer als Pater Xavier, prall, gedunsen, ein Speckbulle mit hektisch roten Apfelbacken und einem tonnenförmigen Leib. Sein Mund stand vor Anstrengung und vor Überraschung offen und ließ Zähne sehen, die der Dominikanermönch mit seinem tadellosen Gebiss lieber nicht erblickt hätte. Über den Mund hing das fleischige Ende einer langen, gebogenen Nase und imitierte die Unterlippe, die ihrerseits feucht und mit einem tiefen Grübchen in den blonden Vollbart hing. Wäre das Erstaunen über das unerwartete Zusammentreffen nicht gewesen, wären die Augen vermutlich halb in Speckwülsten versteckt gewesen – so jedoch waren sie weit aufgerissen. In dem hässlichen Gesicht stellte ihr makelloses Blau, von langen Wimpern gerahmt und vom Licht aus der Fensteröffnung perfekt beleuchtet, das einzig Schöne dar. Die Augen zuckten – wie bei den Ketzern, deren ausgekugelte Arme schlaff an ihren Seiten herabhingen, während sie stöhnten, der protestantischen Irrlehre abgeschworen zu haben, doch ihre Blicke verrieten sie … Pater Xavier starrte in die blauen Augen seines Gegenübers, und mit dem Schock, der gleichzeitig in diesen Augen hochschoss und den seinen widerspiegelte, erkannte er die permanente Schuld, die stetige Angst und das ewige schlechte Gewissen wieder. Die Augen waren so geblieben, wie Pater Xavier sie in Erinnerung hatte; das Gesicht war zu einer unkenntlichen Fratze völliger Ausschweifung geworden. Der Alchimist hatte die Transmutation an sich selbst vollzogen, und wie immer war lediglich der Dreck mehr geworden und das Gold ausgeblieben.

Pater Xavier senkte den Kopf, doch es war zu spät. Wie hatte er glauben können, dass der lächerliche Bart ihn auch nur eine Sekunde vor der Entdeckung schützen würde? Kaiser Rudolf hatte ihn immer mit dem Herzen angesehen, nicht mit den Augen, so wie der Hase nicht das dreieckige, schlaue Gesicht des Fuchses sah, sondern zwei Reihen scharfer Reißzähne. Pater Xaviers Herz schlug so heftig, dass er einen Augenblick lang keine Luft bekam. In seinem Hirn war völlige Leere. Was sollte er tun? Der Bettler hatte ihn gewarnt, seine eigene Erinnerung hatte ihn gewarnt: Kaiser Rudolf, der Freund der Dienstmägde. Warum hätte er hier in Prag, in seinem eigenen Reich, in seiner eigenen Machtfülle, seine Gewohnheiten ändern sollen?

Rudolf von Habsburg stieß ein Grunzen aus. Die Apfelbacken hatten sich in teigig-schlaffe Hautsäcke verwandelt. Von der Unterlippe troff ein Speichelfaden und verhedderte sich im Kinnbart. Dann fiel ein halbes Haus auf Pater Xavier, stieß ihn beiseite und quetschte ihn an die Wand des Treppenhauses, ein Monstrum heulte an ihm vorbei und brachte die Treppe zum Schwingen, und er war allein. Die Treppenstufen herab polterte das Dröhnen der Flucht des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs und schallte sein gellendes Geheul. In die übriggebliebenen Düfte nach mangelnder Körperhygiene und schnellem Koitus in einer überheizten Küche mischte sich der Gestank von Angst und einer schwach gewordenen Blase.

Pater Xavier stieß sich von der Wand ab, gegen die der an ihm vorbei rennende Kaiser ihn geschoben hatte. Er hob eine seiner Hände vor Augen. Sie zitterte. Er starrte sie an, bis das Zittern verebbte. Dann verlangsamte er seinen Atem, bis auch aus ihm das Zittern geschwunden war. Zuletzt stand er ganz still. Wer ihn gesehen hätte, hätte niemals vermutet, dass sich hinter seiner Stirn die Gedanken jagten. Das Heulen Kaiser Rudolfs verklang wie die Schritte, die es davontrugen, in den Tiefen des Königspalastes.

Pater Xavier ballte eine Faust und schlug damit gegen die Wand des Treppenhauses. Einmal, zweimal … beim dritten Mal platzten die Knöchel auf, beim vierten Mal blieben vier rote, sternförmig ausgefranste Flecke an der Wand. Der Dominikaner öffnete die Faust, betrachtete die Blutspuren an der Wand und spürte dem Schmerz nach, der das Kreischen seiner Gedanken in seinem Schädel zum Stillstand brachte. Langsam hob er die Hand und leckte das Blut vom Handrücken.

Dann drehte er sich um und stieg die Treppe hoch, seinem ehemaligen Beichtkind hinterher.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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