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3. Im Übrigen: Normative Leitfunktion

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Weder aus Art. 46 Abs. 1 EMRK noch aus Art. 1 EMRK lässt sich für die BR Deutschland als Vertragsstaat – geschweige denn für die deutschen Behörden und Gerichte als ihre Organe – eine unmittelbar völkerrechtlich verbindliche Bindung an die gegen andere Vertragsstaaten ergehenden Urteile (als solche) begründen. Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten der EMRK aber dazu, den Konventionsrechten gegenüber seinen Bürgern Geltung zu verschaffen. Weil aber Art. 32 EMRK dem EGMR eine (nicht ausschließliche) Kompetenz für alle die Auslegung und Anwendung der Konvention nebst ihrer Zusatzprotokolle betreffenden Angelegenheiten zuweist und nicht nur diese Vorschrift sondern vor allem die einzelnen Garantien der EMRK über das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) Teil der deutschen Rechtsordnung geworden sind, besteht für die deutschen Gerichte und Behörden eine Pflicht, die gesamte Rechtsprechung des Gerichtshofs – d.h. den übertragungsfähigen Inhalt sämtlicher Urteile – bei der Auslegung und Anwendung der EMRK als Teil des nationalen Rechtes zu berücksichtigen.[35]

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Diese (innerstaatliche) Pflicht aller staatlichen Stellen zur Berücksichtigung der gesamten Spruchpraxis des EGMR hat das BVerfG verfassungsrechtlich über das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) abgesichert.[36] Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche zwischen der völkerrechtlich verbindlichen Achtung der EMRK im Außenverhältnis und ihrer Auslegung in der deutschen Rechtsordnung vermeiden.

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In diese Richtung hatte bereits 2002 das BVerwG[37] argumentiert, indem es feststellte, dass der Auslegung der Konvention durch den EGMR über den entschiedenen Fall hinaus eine „normative Leitfunktion“ zukommt, an der sich die Vertragsstaaten zu orientieren haben. Lässt sich aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung feststellen, haben dem die deutschen Gerichte vorrangig Rechnung zu tragen. Diese Beachtenspflicht rechtfertige sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag. Und weiter heißt es wörtlich:

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„Die Feststellungsurteile des Gerichtshofs besitzen neben einer subjektiven, auf die konkrete Beschwer im Einzelfall bezogenen Bedeutung zusätzliche objektive, auf Rechtsklärung gerichtete Elemente. Die kollektive Garantie der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpften“.

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