Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser, Manuel Ladiges - Страница 178

I. Das deutsche König- und Kaiserreich, die Kirche, die Städte

Оглавление

18

Das Ostfrankenreich ist seit der Krönung des Sachsen Heinrich I. im Jahr 919 ein Königreich, wobei die Königswürde nicht vererbt wird, sondern die Territorialfürsten den König wählen. Bis 1250 ist die Wahl auf das Königshaus beschränkt, wodurch Dynastien regieren: Nach den Sachsen die Salier (1024–1125) und die Staufer (1152–1250). Die Stauferzeit kann als klassische Zeit, als Blütezeit des mittelalterlichen Reiches gesehen werden; impulsgebend wirkt insbesondere die Errichtung eines zentralistisch organisierten Staates auf Sizilien durch Kaiser Friedrich II. (seit 1198 König von Sizilien, seit 1211 von Deutschland, Kaiser seit 1220, gest. 1250).[43] Nach der Absetzung des letzten Staufers folgt ein Interregnum, eine herrscherlose Zeit, danach, ab 1273, setzt sich – was eine politische Schwächung des Königs bedeutet – das dynastieunabhängige passive Wahlrecht durch; sukzessive wird das aktive Wahlrecht auf die sieben Kurfürsten (= Wahlfürsten; küren = wählen) beschränkt, nämlich drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, und vier weltliche, den König von Böhmen, den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg. Kaiser Karl IV. (deutscher König 1346–1378, römisch-deutscher Kaiser ab 1355) lässt dies 1356 festschreiben in einer Bulle, das heißt einem feierlich verfassten Erlass (lat. bulla = Siegelkapsel), die wegen ihres goldenen Siegels Goldene Bulle genannt wird und als erstes und wichtigstes Grundgesetz des Königreiches gelten kann.[44] Die politische Macht des Königs beruht – neben seiner territorialen Hausmacht – darauf, dass er auf das mit dem Königsamt verbundene Reichsgut zurückgreifen kann, nämlich auf den Ertrag des betreffenden Grundbesitzes sowie auf nutzbare Hoheitsrechte, sog. Regalien (lat. iura regalia = königliche Rechte) wie Münzrechte, Zölle, Jagdrechte u.a. Gleichwohl ist der König zur Beherrschung des Reiches angewiesen auf die – historisch brüchige – Gefolgschaft der Territorialherrscher; seine Macht wird nicht als territoriale begriffen (das Reich ist im Lauf der Jahrhunderte zahlreichen Grenzveränderungen unterworfen, es verfügt nicht über eine feststehende Hauptstadt, der König regiert reisend), sondern basiert auf personaler Bindung. Diese erzeugt der König, indem er die Territorialherrscher mit Grundbesitz belehnt und dadurch zur Treue, konkret zum Wehrdienst verpflichtet. Die Umstellung der Kriegsführung – von der Fußtruppe zum Reiterheer – lässt einen neuen Stand, den der Ritter entstehen, die ihrerseits von den Territorialfürsten belehnt werden und als Grundherren von ihrer Burg aus ihren Grundbesitz einschließlich der Bauern beherrschen.[45]

19

Bereits im 10. Jahrhundert (Kaiserkrönung des zweiten Sachsenkönigs Ottos I. im Jahr 962 in Rom durch den Papst) ist die weströmische Kaiserwürde (die mit der Krönung Karls des Großen erneuert worden war) auf die Könige des Ostfrankenreiches übergegangen, das demnach Nachfolger des Römischen Reiches ist und seit dem 13. Jahrhundert Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich, genannt wird, seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz deutscher Nation – bis zur Abdankung des letzten Kaisers 1806. Diese höchste – göttliche – Legitimierung festigt Macht und Ansehen des Königs, allerdings um den Preis, dass er sich dem ihn zum Kaiser krönenden Papst unterordnet. Denn jedenfalls nach kirchlicher Deutung ist es der Papst, der die Kaiserwürde von Rom auf das Frankenreich, dann auf das Ostfränkische Reich hat übergehen lassen (genannt lat. translatio imperii = Übertragung der Kaiserherrschaft). Dass die Kirche ein eigenständiger und ebenbürtiger Machtfaktor ist, stützt sie argumentativ auch auf die von Papst Gelasius I. (reg. 492–496) formulierte Zwei-Schwerter-Lehre (die geistliche und die weltliche Macht als zwei von Gott verliehene Schwerter) und die angebliche Schenkung der Herrschaft des weströmischen Reiches seitens des Kaisers Konstantin des Großen (reg. 306–337) an die Kirche, wobei diese sog. Konstantinische Schenkung eine im 8. Jahrhundert gefälschte, aber erst im 15. Jahrhundert als Fälschung erkannte Urkunde ist. Die Geschichte des Mittelalters ist auch die Geschichte der Auseinandersetzung von geistlicher und weltlicher Macht, von sacerdotium und regnum.[46]

20

Die Macht der Kirche stützt sich dabei seit der fränkischen Zeit auch auf eine starke wirtschaftliche Basis. Die Kirche ist Eigentümerin von Klöstern, die nicht nur intellektuelle Zentren bilden, sondern auch über ausgedehnten Landbesitz verfügen; der Abt agiert als Grundherr. Im 10. Jahrhundert breitet sich, ausgehend von den Klöstern des Westfrankenreichs, über dieses und das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches eine Reformbewegung aus, die sich gegen Simonie (Ämterkauf), gegen die Einsetzung von Laien in kirchliche Ämter und gegen die Priesterehe und das Konkubinat (die dauernde außereheliche Geschlechtsgemeinschaft) wendet und eintritt für die asketischen Ideale des Mönchstums. Der Abt des Benediktinerklosters im burgundischen Cluny wird einer der einflussreichsten Männer Europas. Allmählich treten politische Forderungen in den Vordergrund, und es wird die Unabhängigkeit der wirtschaftlich gestärkten Klostergüter von den Bischöfen als den für ein bestimmtes Gebiet eingesetzten Kirchenfürsten durchgesetzt, indem die Klöster unter direkten päpstlichen Schutz gestellt werden. Der mächtige salische Kaiser Heinrich III. (reg. 1028–1056) nutzt seine Verbindungen zur Reformbewegung zur Verdrängung des simonistischen Papstes und ernennt dessen Nachfolger selbst. Später treiben die Päpste Leo IX. (reg. 1049–1054) und Gregor VII. (reg. 1073–1085) die Reform selbst weiter im Sinne der Wiederherstellung des alten kanonischen (d.h. kirchlichen) Rechts. Ihre Machtinteressen konfligieren mit denen des Kaisers konkret bei der Frage der Investitur (lat. wörtlich Einkleidung), d.h. der Einsetzung der deutschen Bischöfe, die zugleich weltliche Fürsten sind. Höhepunkt des Investiturstreits ist die Exkommunikation (der Kirchenbann) Kaiser Heinrichs IV. (reg. 1084–1105), aufgehoben nach dessen Unterwerfungsgeste („Gang nach Canossa“) 1077. Nach dem kompromisshaften Wormser Konkordat, geschlossen zwischen Papst und Kaiser, das 1122 den Streit beendet, erfolgt, anders als zuvor, die Einsetzung (nur) in das geistliche Amt durch den Papst.[47]

21

Im Hochmittelalter bewirken technische Fortschritte beim Ackerbau und ein wärmeres Klima günstigere Lebensbedingungen; die Bevölkerung des Reiches wächst zwischen 1150 und 1250 um 40 % von 50 auf 70 Millionen. Abgesehen von wenigen römischen Gründungen existierten im mittelalterlichen deutschen Reich keine Städte; seit dem 11. Jahrhundert werden hier Städte gegründet und wachsen und werden neben dem König, den Landesfürsten und der Kirche zur vierten Größe im Gesellschafts- und Verfassungsgefüge sowie – neben den Klöstern – zu kulturellen und intellektuellen Zentren. Als städtische Bildungsstätten entstehen die Universitäten (wichtige erste Gründungen außerhalb des Heiligen Römischen Reiches: Ende des 11. Jahrhunderts Bologna; Beginn des 13. Jahrhunderts Paris, Oxford, Cambridge, Salamanca, Padua; im Reich: Prag 1348; Wien 1365; Heidelberg 1386; Köln 1388; Erfurt 1392). Teils nach kämpferischer Auseinandersetzung erlangt eine Reihe von Städten Selbstständigkeit vom jeweiligen Territorialfürsten und ist demnach nur noch dem Reichsoberhaupt verantwortlich (sogenannte Reichsunmittelbarkeit). Die Städte haben jeweils eigene Rechtsordnungen, weswegen die damalige Rechtslage überaus uneinheitlich ist. Es dominiert der Kaufmannsstand; die im 13. Jahrhundert entstandene Hanse, ein länderübergreifender Städtebund, verfügt insbesondere im 14. Jahrhundert über erhebliche wirtschaftliche und infolgedessen politische Macht. Um 1500 hat Köln über 40 000 Einwohner, fast alle der ca. 4000 Städte des Reiches allerdings nur einige Tausend; 90 % der Bevölkerung leben auf dem Land.[48]

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх