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II. Scholastik und Strafrecht der Kirche
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Im zwölften Jahrhundert kommen zu günstigeren materiellen Lebensverhältnissen weitere Umstände hinzu, die einen kultuerellen und intellektuellen Aufschwung bewirken, wobei sich das Rechtsverständnis der Menschen in einem Jahrhunderte währenden Prozess tiefgreifend verändert hin zu einer Verwissenschaftlichung des Rechts. Zunächst sind dies gewandelte philosophische Grundlagen, indem seit Beginn des 12. Jahrhunderts die Schriften Aristoteles‚ neu entdeckt, rezipiert und mit der christlichen Lehre verbunden werden. Das hieraus entstehende Denken, die sogenannte Scholastik (von lat. scholasticus = zur Schule gehörend), beherrscht das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert. Seine bedeutendsten Vertreter sind Mitglieder der konkurrierenden Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner: Albert der Große (1193–1280) übernimmt den aristotelischen Ansatz erfahrungsgegründeter Naturforschung; auch für die Philosophie beansprucht er freies Nachdenken unabhängig von theologischen Axiomen. Alberts Schüler Thomas von Aquin (1225–1274) entfaltet durch sein monumentales wissenschaftliches Werk die stärkste Wirkungsmacht. Seine Metaphysik weist dem Menschen einen ontologischen Eigenwert zu, seiner Vernunft einen autonomen Bereich; Erkenntnis sei nicht göttliche Erleuchtung, sondern ein auf Sinneswahrnehmung beruhender, mittels abstrahierender Geistestätigkeit zu leistender Vorgang, der verallgemeinernde Gattungsbegriffe erzeugt. In der politischen Philosophie begreift Thomas, ebenfalls aristotelisch, den Menschen als soziales, als politisches Wesen; der Staat habe für das Gemeinwohl, insbesondere den auf Gerechtigkeit fußenden Frieden zu sorgen – mittels Erlass von Normen, die nicht gegen das natürliche gottgegebene Gesetz verstoßen dürften, im Übrigen, in der konkreten Ausgestaltung der Verhältnisse, aber frei gesetzt werden könnten. Der schottische Philosoph Johannes Duns Scotus (1265–1308) hebt die Individualität des Menschen und die Eigenständigkeit des Willens im Verhältnis zur Vernunft hervor. William von Ockham (1286–1349) fordert, ausgehend von diesem Menschenbild, politisch – dem frühneuzeitlichen Ansatz vom Gesellschaftsvertrag vorgreifend – eine durch Übereinkunft legitimierte und von kirchlicher Bevormundung freie weltliche Herrschaft.[49]
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Zeitgleich mit dem Aufschwung des philosophischen Denkens im 12. Jahrhundert erhält auch das kirchliche Recht bedeutsame Impulse. Um 1140 unternimmt der oberitalienische Mönch Gratian die concordantia discordantium canonum (= Harmonisierung widersprüchlicher Kirchenrechtssätze) in einem so betitelten, später Decretum Gratiani genannten Buch. Die aus Bibelzitaten, Lehrsätzen der Kirchenväter, Konzilsbeschlüssen und päpstlichen Erlassen bestehende Substanz des kirchlichen Rechts seit dessen Entstehung sucht er hier zusammenzufassen, zu systematisieren und mittels Auslegung in Einklang zu bringen. Die Kirche wird nun deutlicher als zuvor als eine im Diesseits, also im Rahmen rechtlicher Strukturen tätige Institution wahrgenommen. Hatten Sündenbekenntnis und Buße im Frühmittelalter primär die theologische Funktion der Versöhnung mit Gott, werden sie nun zur Basis eines neuen rechtswissenschaftlichen Strafverständnisses. Dieses letztere erlangt allgegenwärtige praktische Bedeutung, nachdem unter Papst Innozenz III. (reg. 1198–1216) auf dem IV. Laterankonzil 1215 das Kirchenstrafrecht als zentrale Institution eingeführt wird: Im Mittelpunkt steht nun die Frage der individuellen Schuld in einem weit komplexeren Sinn als dem der einfachen Erfolgsverursachung, fußend auf dem kirchlichen Dogma individueller Entscheidungsfreiheit, wonach der getätigte Wille sanktionsbestimmend sein muss – ein bis ins heutige Rechtsdenken maßgeblich wirkendes Strafkonzept. Strafrechtssystematisch etablieren sich, darauf basierend, neben der Differenzierung von direktem und indirektem Vorsatz und Fahrlässigkeit, als Negativvoraussetzungen der Bestrafung Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe und eine differenzierte Irrtumslehre.[50]
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Dem entsprechen spezifische prozessuale Formen und Institute. Neben den Akkusationsprozess, der initiiert wird durch die Klage (accusatio) der geschädigten Partei, ist seit Beginn des 11. Jahrhunderts der Inquisitionsprozess getreten, für den es keiner Klage, sondern lediglich einer Anzeige (denunciatio) oder auch nur eines Gerüchts oder schlechten Leumunds bedarf, woraufhin die Befragung (inquisitio) von Amts wegen durchgeführt wird. Papst Innozenz IV. (reg. 1243–1254) erleichtert 1251 die Überführung des Akkusations- in den Inquisitionsprozess. Historisch berüchtigt sind die Inquisitionsprozesse gegen Häretiker (Ketzer). Häresie, das Glauben und Verbreiten von Irrlehren, ist sowohl theologisch als auch mit Blick auf die diesseitige Macht und Autorität des Papstes ein Schwerstverbrechen, auf das als Strafe die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen steht. Ab dem 13. Jahrhundert agieren neben den Bischöfen besondere Ketzerverfolger in päpstlichem Auftrag, wobei es zulässig ist, wegen der Außergewöhnlichkeit des Verbrechens die prozessualen Normen hintanzustellen („Propter enormitatem delicti licitum est leges transgredi“), mit anderen Worten nach einem summarischen Verfahren mit entformalisiertem Beweisrecht zu verurteilen. Diese Ausnahmeform des Inquisitionsprozesses sollte den Blick nicht verstellen für den rationalisierend-wissenschaftlichen Grundgedanken der neuen Prozessform: Bestrafung als Reaktion auf eine zu spezifizierende Schuld setzt deren Feststellung, also die Ermittlung materialer Wahrheit voraus. Im 13. Jahrhundert verlieren die frühmittelalterlichen beweisrechtlichen Institute wie der Reinigungseid und das Gottesurteil ihre kirchenrechtliche Legitimation. Zur Überführung bedarf es nach dem neuen rationalen und formalisierten Beweisrecht des Vollbeweises durch Aussage zweier Tatzeugen – oder durch Geständnis, das allmählich zur regina probationum, zur Königin unter den Beweismitteln avanciert. Nicht nur das prozesspraktische Bedürfnis, Geständnisse herbeizuführen, sondern auch die enge gedankliche Verbindung, ja Identifizierung von Sünde und Straftat, von Sündenbekenntnis und Geständnis, von göttlicher und weltlicher Sanktion, legitimieren es, dem Inquisiten das Geständnis gewaltsam abzuzwingen: Ohne Kontinuitätslinien zur römischen und fränkischen Zeit wird in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Folter als beweisrechtliches Instrument bei der Ketzerverfolgung, aber auch allgemein in die kirchenrechtliche Strafpraxis eingeführt. Der Zugriff auf den Körper betrifft auch die Sanktion; vor dem theologischen Hintergrund des Fegefeuers als jenseitiger körperlicher Bestrafung begangener Sünden erfährt die am Körper vollzogene Strafe, die peinliche Strafe, die im frühen Mittelalter prinzipiell nur gegen Unfreie praktiziert wurde, eine allgemeine Wiederaufnahme.[51]