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IV. Die Praxis des Gemeinen Strafrechts

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In der Praxis des gemeinen Rechts des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts[75] können die humanistischen Anliegen eines dem Menschen zugewandten Strafrechts keinen Einfluss erlangen; die hart geführten theologischen Kontroversen in der Zeit der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Kriegs bilden vielmehr den Hintergrund eines autoritären Strafrechts, für das als bedeutendster Jurist der Epoche der am Leipziger Schöppenstuhl und Oberhofgericht tätige, dem orthodoxen Luthertum verpflichtete Benedikt Carpzov (1595–1666) steht. Sein Rechtsverständnis, nach dem der Wille des göttlichen Gesetzgebers in der Bibel als göttliches Recht (lex divina) geoffenbart ist und durch das nicht geoffenbarte Naturrecht (lex naturae) ergänzt wird, begreift das menschlicherseits gesetzte Recht als nur konkurrierende, nicht abschließende Rechtsquelle. Auf der Basis dieses christlich fundierten Rechtskonzepts werden die Delikte nach dem Dekalog geordnet, und die Strafe ist dem Talionsprinzip verpflichtet. Rückschlüsse darauf, dass Carpzov auch als Praktiker für ein besonders hartes Strafrecht steht, so wie es ihm seit der Frühaufklärung vorgeworfen wird, sind nicht belegt; wenn er das Recht zur Verteidigung hervorhebt, ist dies ein Gegenindiz. Prägend für das Strafrecht der Zeit wird, dass Carpzov praxisorientiert, pragmatisch denkt. In seinen wirkungsmächtigen Schriften wertet er breites Aktenmaterial zur Praxis des sächsischen Strafprozesses aus und gleicht es mit der CCC ab, was als Handreichung wiederum für die Praxis dienen soll, nicht hingegen unmittelbar auf die Ausdifferenzierung der Strafrechtsdogmatik zielt, die demgegenüber von den Systematisierungsbestrebungen humanistischer Provenienz profitiert.[76]

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Konkret sind die allgemeinen Lehren des gemeinen Strafrechts hier auf dem Stand, dass das Verbrechen als rechtswidriges und schuldhaftes menschliches Handeln begriffen wird, wobei die genannten Attribute nicht dogmatisch geschieden sind; Notwehr wird weiterhin auf Tötungsdelikte, der Notstand auf den Diebstahl bezogen. Schuldformen sind der Vorsatz und die milder zu bestrafende Fahrlässigkeit. Der Vorsatz ist bei Irrtum über tatsächliche Umstände ausgeschlossen; die Figur des dolus indirectus (indirekten Vorsatzes) ermöglicht die Vorsatzfeststellung auch bezüglich ungewollter Erfolge. Der Versuch wird näher konturiert, der untaugliche meist als strafbar angesehen. Die Beteiligungslehre orientiert sich bei der Unterscheidung der Beteiligungsformen an objektiven Kriterien, die nachträgliche Unterstützung der Haupttat wird zu eigenen Delikten hochgestuft (Begünstigung und Hehlerei). Die praktisch wichtigsten Delikte sind die Tötungsdelikte, zu denen auch der Suizid und die Abtreibung ab dem 40. Tag zählen. Die Verbreitung der Kindstötung als spezifisch frühneuzeitliches Phänomen ist auf den sozialen Druck zurückzuführen, unter dem ledige Mütter stehen, die nämlich im Gegensatz zum Schwängerer Kirchenstrafen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt sind.[77] Beleidigungen sind verbal und tätlich möglich, mit Blick auf letztere ist die Körperverletzung noch nicht eigenständig. Der Diebstahl umfasst im engeren Sinn die Wegnahme aus fremdem Gewahrsam, im weiteren Sinn auch die heute als Betrug, Untreue und Hehlerei bezeichneten Delikte; Raub ist gewaltsame Wegnahme.[78]

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Während nach der CCC rechtstechnisch das Akkusationsverfahren die Regel (processus ordinarius), das Inquisitionsverfahren die Ausnahme ist, dominiert das letztere die Praxis. Inquisition als Befragung von Amts wegen im Gegensatz zum Parteienverfahren ist aber nicht gleichzusetzen mit der peinlichen Befragung, der Folter. Vor dieser schützen zahlreiche Immunitäten (etwa zugunsten Adliger und Kleriker), und auch die konkrete Gewichtung der Indizien für die Feststellung des die Folter hinreichend rechtfertigenden Verdachts ermöglicht jedenfalls zugunsten der sozial Integrierten eine moderate Anwendung in der Praxis, was durch tendenziöse Darstellungen der aufklärerischen Rechtswissenschaft seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verdunkelt wird. Auch die Lehre von den Prozessessentialien, insbesondere dem rechtlichen Gehör, deren Fehlen die Nichtigkeitsbeschwerde eröffnet, entfaltet Schutz. Die Kautelen werden dort beiseite geschoben, wo allerschwerste Verbrechen als Ausnahmedelikte (delicta atrocissima; crimina excepta) nach zeitgenössischem Verständnis ein summarisches Verfahren mit ungehemmter peinlicher Befragung ohne Einreden und Förmlichkeiten, den sprichwörtlichen „kurzen Prozess“ nahelegen. Das betrifft den Hochverrat, auf den das Vierteilen, die Vermögensbeschlagnahme und die Verbannung der Angehörigen stehen, daneben die Ketzerei und die Hexerei.[79]

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Die strafrechtliche Verfolgung der Hexerei ist ein spezifisch frühneuzeitliches Phänomen. Nach früheren Verfolgungen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, ausgehend von dem Kulturraum um den Genfer See, verfestigt sich das Verfolgungskonzept mit einer Päpstlichen Bulle von 1484, die neben anderen den dominikanischen Inquisitor Heinrich Kramer (latinisiert H. Institoris) zur Hexereiinquisition im Reich ermächtigt. Kramer veröffentlicht 1486/87 den wirkungsmächtigen Malleus Maleficarum (Hexenhammer), in dem er das Hexereidelikt insbesondere als auch vor weltlichen Gerichten zu ahnden herausstellt. An der Wende zum 16. Jahrhundert haben sich die zwei älteren Traditionslinien, die sich jeweils entweder auf den Schadenszauber oder den Hexensabbat konzentrieren, zur Vorstellung eines Hexereidelikts verbunden, das kumulativ aus dem Flug zum Hexensabbat, der Verschreibung, dem Geschlechtsakt mit dem Teufel oder einem seiner Diener und schließlich dem durch die teuflischen Kräfte ermöglichten Schadenszauber besteht. Die strafrechtliche Verfolgung der Hexerei wird prozesspraktisch behindert, solange der Akkusationsprozess dominiert, da hier der Ankläger oftmals an seiner Beweispflicht scheitert, so dass die Prozesse mit Freispruch des Angeklagten und Verurteilung des Anklägers wegen Verleumdung enden. Erst von der Mitte des 16. Jahrhunderts an, also nach Etablierung des Inquisitionsprozesses durch die CCC, erfolgen, lokal stark abhängig von der Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung, die großen Verfolgungswellen, beginnend in den 1560er Jahren, abflauend seit den 1630er und wieder zunehmend in den 1660er Jahren. Indem die peinliche Befragung auf die Entlarvung vermeintlicher weiterer Hexen zielt, die als in einem weltumspannenden Komplott agierend gesehen werden, ergeben sich verhängnisvolle Prozessserien, deren Opfer europaweit über den gesamten Zeitraum auf 100 000 geschätzt werden, mit einem Frauenanteil von drei Vierteln. Vereinzelt werden Hexereiprozesse bis weit ins 18. Jahrhundert geführt. Das argumentative Eintreten gegen den Hexenwahn leisten im 16. Jahrhundert etwa Johann Weyer (1515–1588), im 17. Jahrhundert der Jesuit Friedrich Spee (1591–1635) und der reformierte Theologie Balthasar Bekker (1634–1698), am Beginn des 18. Jahrhunderts der Frühaufklärer Christian Thomasius (1655–1728). Hier spielen materiellrechtliche Argumente (Nichtexistenz des Schadenszaubers) mit prozessualen Hürden zusammen (restriktive Handhabung des Indizienrechts durch die für das Torturinterlokut, d.h. die Entscheidung über den Einsatz der Folter zuständigen Spruchfakultäten).[80]

2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte§ 5 Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter › Ausgewählte Literatur

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