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B. Strafrecht in der Frühen Neuzeit

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Das Strafrecht der frühen Neuzeit war durch eine heute fast unvorstellbare Grausamkeit und Willkür geprägt. Die Carolina von 1532[8] gab der Strafrechtspflege zwar eine Grundstruktur; vielfach wurde jedoch von ihren Vorgaben abgewichen.[9] Die Carolina enthielt außerdem nach heutigem Verständnis hochgradig grausame und irrationale Bestimmungen,[10] was sich umso verhängnisvoller auswirkte, als sie für über 200 Jahre die einzige umfassende gesetzliche Grundlage der Strafrechtspflege in den zersplitterten Territorien Deutschlands blieb. Auslegungsdifferenzen und Unsicherheiten in der Anwendung des Gesetzes konnten daher nicht ausbleiben.

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Die Strafrechtswissenschaft des 16. und frühen 17. Jahrhunderts beschränkt sich auf die Beschreibung und (bei anspruchsvolleren Werken) systematische Aufbereitung des geltenden Strafrechts, insbesondere der Vorschriften der Carolina. Ein einflussreiches Werk dieser Art ist etwa Damhouders erstmals 1554 publizierte „Praxis rerum criminalium“, die 1565 durch Beuther von Karlstadt in die deutsche Sprache übertragen wurde.[11] Die deutsche Fassung ist reich bebildert, was erheblich zur Verständlichkeit des Inhalts beigetragen haben dürfte. Kritik an der herrschenden Strafpraxis findet sich jedoch allenfalls in Ansätzen.

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Strafrecht und Strafrechtspflege des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wurden wesentlich geprägt durch den Leipziger Gelehrten und Rechtspraktiker Benedikt Carpzov (1595–1666), der seine schriftstellerische Tätigkeit mit der Arbeit am Leipziger Schöppenstuhl verband. Man hat Carpzov als den „eigentliche[n] Begründer einer deutschen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft und praktisch wie wissenschaftlich vielleicht einflussreichste[n] deutsche[n] Juristen überhaupt“ bezeichnet.[12] Carpzovs 1635 erschienenes Hauptwerk „Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium“ wurde im gesamten deutschen Raum und darüber hinaus rezipiert.[13] Einen vergleichbaren Einfluss auf die gemeinrechtliche Theorie des Strafrechts erreichte erst wieder Johann Samuel Friedrich von Böhmer (1704–1797).[14]

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Carpzovs Vorstellungen über das Strafrecht galten den Aufklärern als der Inbegriff eben der religiös verhetzten, gleichermaßen irrationalen wie inhumanen Strafrechtskonzeption, um deren Überwindung es ihnen ging. Dies mag erklären, warum das Bild Carpzovs bis in das 20. Jahrhundert hinein fast durchweg negativ gezeichnet wurde.[15] Andererseits ist nicht zu bezweifeln, dass Carpzov als streng bibelgläubiger Lutheraner[16] tatsächlich ein Hauptvertreter der fatalen Vorstellung einer Verknüpfung von weltlicher Straftat und „Sünde“ gegen die göttliche Ordnung war; zu Recht wird seine Staats- und Rechtsauffassung, und damit auch sein Strafrechtsverständnis, als „theokratisch-absolutistisch“ bezeichnet.[17]

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Carpzov zufolge dient die Strafe folgenden Zwecken: Die Ahndung von Verfehlungen sichert den Respekt gegenüber dem Gesetzgeber, sie wirkt general- wie spezialpräventiv und sie versöhnt Gott mit dem Verstoß gegen die von ihm gesetzte Ordnung. Die damit umrissene religiös fundierte Zielsetzung von Strafe rechtfertigt für Carpzov außerordentlich harte Bestrafungen: „Mitunter macht die Schwere eines Verbrechens es auch erforderlich, dass der Täter ausgemerzt wird, auf dass er nicht den göttlichen Fluch auf jenes Land ziehe, welches durch sein Verbrechen belastet ist“, schreibt er unter Berufung auf 5. Mos. 21 V. 7, 8, 21.[18] Überhaupt finden sich zahllose Belege aus dem Mosaischen Recht, bemerkenswerterweise oft verbunden mit Hinweisen auf antike Autoren wie Platon, Aristoteles oder Cicero. Menschliches Fehlverhalten wird mit einer Krankheit am gesellschaftlichen Körper verglichen, die es herauszuschneiden gelte.[19]

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Für eine Vielzahl von Delikten fordert Carpzov die Todesstrafe, nicht bloß für Tötungsdelikte, sondern auch für Gotteslästerung, Götzenanbetung, Giftmischerei, Sodomie, Ehebruch, Unzucht mit einer Verlobten und Blutschande.[20] Dabei ist zu beachten, dass die Todesstrafe damals meist in verschärften Formen vollstreckt wurde. Um die Abschreckungswirkung zu erhöhen und Gottes Wohlgefallen zu erregen, sollten Hinrichtungen öffentlich erfolgen; zustimmend erwähnt Carpzov die Praxis, „die Leichen der Erhängten für längere Zeit oder auch auf Dauer unbestattet am Galgen hängen“ zu lassen.[21]

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Trotz der nach heutigen Maßstäben extremen Härte der von ihm geforderten Strafdrohungen und der Zeitgebundenheit seines durch und durch religiösen Welt- und Menschenbildes wird man Carpzov zugutehalten müssen, versucht zu haben, Strafrecht und Strafrechtspflege rational zu durchdringen, die Vielzahl der bereits entschiedenen Fälle zu strukturieren und Regeln für die Entscheidung künftiger Fälle aufzustellen.

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Die Rechtspraxis des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ist dem nur teilweise gefolgt. In vielen Ländern führte das Fehlen rationaler Kontrolle zu Willkür und ausschweifender Grausamkeit in der Strafverfolgung. Die Ursachen für diese Verrohung sind bis heute ungeklärt. Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte die moralische Verunsicherung durch die Glaubensspaltung und die beispiellose Zerrüttung bislang gesichert erscheinender Verhältnisse im 30jährigen Krieg gespielt haben. Die Herausbildung des Territorialstaates führte außerdem zu einer Auflösung der Ständeordnung und zu einem Status- und Rechtsverlust der neuen Untertanen,[22] der sie den extremen Strafforderungen gegenüber schutzlos machte.

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Eine besondere Bedeutung hatte wohl die bis in das Zeitalter der Aufklärung und darüber hinaus immer wieder erneuerte Vorstellung, eine Auflehnung gegen die weltliche Ordnung sei zugleich Sünde, also ein Verstoß gegen den Willen des Gottes. Mittels einer solchen Konstruktion ließen sich selbst für leichte Verfehlungen härteste Strafen rechtfertigen; sub specie dei konnten auch geringfügige Verletzungen weltlicher Güter als schwerwiegende Auflehnung gegen die göttliche Ordnung interpretiert werden. Humane Regungen und Zweifel, die es immer gab, konnten so unter Berufung auf den Willen der Gottheit zurückgewiesen werden.

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Das bekannteste Beispiel für die religiöse Durchdringung der Strafrechtspflege bilden die Hexenverfolgungen, die sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in den meisten europäischen Staaten nachweisen lassen. Besonders betroffen war Deutschland, und hier die geistlichen Fürstentümer, wobei eine Rolle gespielt haben dürfte, dass in ihnen die weltliche und die geistliche Herrschaft zusammenfielen, so dass eine wechselseitige Abschwächung oder Kontrolle ausgeschlossen war.[23]

2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte§ 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › C. Gegenreaktionen und Aufbruch in eine neue Zeit

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