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A. Einleitung

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Geistesgeschichtlich gesehen ist das Recht, zumal das Strafrecht, in aller Regel eine Reaktion auf die Erfahrung von Unrecht. Das Strafrecht Europas, das heute vom Gedankengut der Aufklärung bestimmt wird, lässt sich als Reaktion auf die dramatischen Unrechtserfahrungen mit dem Kriminalrecht der frühen Neuzeit deuten: fast unbeschränkte richterliche Willkür, eine damit einhergehende beispiellosen Verrohung der Strafrechtspflege und schließlich die Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die nicht zuletzt auf eine fatale Verquickung von Theologie und Jurisprudenz zurückzuführen waren.

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Eberhard Schmidt hat vier Leitideen der rechtspolitischen Forderungen der Aufklärung hervorgehoben: Säkularisierung, Rationalisierung, Liberalisierung und Humanisierung.[1] Damit dürften die wesentlichen Stoßrichtungen des aufklärerischen Reformprogramms treffend identifiziert sein. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass „die Aufklärung“ eine überaus facettenreiche, praktisch alle kulturellen Felder des 18. Jahrhunderts berührende Geistesbewegung war, die nur um den Preis erheblicher Abstraktion in einigen wenigen Begriffen erfasst werden kann. Dies gilt auch und gerade für die Auswirkungen der Aufklärung auf die europäischen Rechtsvorstellungen.

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Anders als in England, Frankreich und den USA stößt das Ideengut der Aufklärung in Deutschland auch heute noch auf Vorbehalte. Dies dürfte eng mit den in den letzten zwei Jahrhunderten immer wieder auftretenden Absetzbewegungen gegenüber dem Gedankengut des „Westens“ zusammenhängen.[2] Als letzte größere Bewegung dieser Art wird man gewisse Strömungen der 1968er-Jahre ansehen können, die insbesondere am teleologischen Denkansatz der Aufklärer Anstoß nahmen.[3] Die Schwierigkeiten deutscher Intellektueller mit der Aufklärung sollten allerdings nicht übersehen lassen, dass die Aufklärung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auch in Deutschland eine ganz erhebliche Breite und Tiefe erreicht hat, die es erlaubt, die deutsche Aufklärung als gleichberechtigt neben die englische und französische zu stellen.[4]

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Bemerkenswert ist, dass sich das aufklärerische Denken teilweise mit älteren Denkmustern verbündete, so etwa mit den Vorstellungen eines Naturrechts, deren Wurzeln sich bereits in der Antike finden. Auch der Denktyp des Rationalismus wird vom Impetus der Aufklärung erfasst; der für das Recht wohl einflussreichste Vertreter dieser Richtung war Christian Wolff (1679–1754). Dagegen sind andere große Vertreter der Aufklärung wie John Locke (1632–1704) oder David Hume (1711–1776) dem geistesgeschichtlichen Widerpart des Rationalismus, nämlich dem Empirismus zuzuordnen. Die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, allen voran Montesquieu (1689–1755) und Voltaire (1694–1778), lassen sich ebenfalls eher dem Empirismus zuordnen, obgleich bei ihnen die Erkenntnistheorie deutlich hinter die praktische Philosophie und die Rechtspolitik zurücktrat.

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Bemerkenswert ist auch, dass die Philosophie der Aufklärung zwar in Frankreich gegen die „Herrschenden“, also Adel und hohen Klerus, gerichtet war, eine Konfrontation, die schließlich 1798 in der Französischen Revolution gipfelte. In anderen Ländern, etwa im Preußen Friedrichs II. (1740–1786), aber auch in Österreich unter Joseph II. (1765–1790), wurde die Aufklärung dagegen von den absolutistischen Fürsten mitgetragen und teilweise sogar gegen den Willen der Bevölkerung und vieler Intellektueller durchgesetzt.

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Die großen Reformbewegungen im Strafrecht begannen in Preußen nach dem Machtantritt Friedrichs II. und damit sogar noch vor der Publikation von Montesquieus bahnbrechendem Werk „Vom Geist der Gesetze“ (1748). In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nahm die Strafrechtsreform dann in ganz Europa Fahrt auf. Der Justizmord an dem Toulouser Hugenotten Jean Calas, einer der berühmtesten Strafrechtsfälle des 18. Jahrhunderts, führte nach dem Eingreifen Voltaires zu einer europaweiten Debatte über die Reform des Kriminalrechts. Zu ihren wichtigsten Ergebnissen gehört Cesare Beccarias (1738–1794) epochemachendes Werk „Über Verbrechen und Strafen“ (1764), welches bis heute zu den Grundtexten der Strafrechtsreform weltweit gehört.

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Der durch das moralphilosophische und rechtspolitische Gedankengut der Aufklärung bewirkte Wandel in den strafrechtlichen Grundanschauungen ist so tiefgreifend, dass man den Ausgang des 18. Jahrhunderts im Strafrecht als Epochengrenze betrachten muss.[5] Ähnliches gilt für das Öffentliche Recht.[6] Auch für das Zivilrecht bedeutet dieser Zeitabschnitt eine tiefe Zäsur.[7] Doch während die Pandektistik des 19. Jahrhunderts die alte römische Rechtstradition in die moderne Welt zu übertragen versuchte, fehlen solche Versuche im Strafrecht. Trotz vielfältiger dogmengeschichtlicher Kontinuitäten und geistesgeschichtlicher Verbindungslinien stehen das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts im Zeichen eines radikalen Neuanfangs.

2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte§ 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › B. Strafrecht in der Frühen Neuzeit

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