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ОглавлениеKapitel 2 – GEBURT
Sie waren ja vor Ihrer Geburt schon da
Allerdings waren Sie drinnen, geborgen im Leib Ihrer Mutter. Neun Monate lang war Ihre äußere Welt die innere Welt Ihrer Mutter. An diese Zeit können Sie sich selbstverständlich nicht mehr erinnern. Warum eigentlich selbstverständlich? So selbstverständlich ist das gar nicht, denn Sie hatten ja bereits ein Gehirn, bevor Sie das Licht der Welt erblickten. Das Erste, was sich nach der erfolgreichen Befruchtung einer Eizelle entwickelt, ist ein Gehirn, eine Steuereinheit, die alle weiteren Vorgänge und Entwicklungen lenkt. Ohne Gehirn keine Hände, keine Füße, kein Herz, kein Schwanz, kein Popoloch. Wir wären zu dumm zum Scheißen. Wenn man dann einmal schon recht gut scheißen kann, dann braucht man sein Hirn nicht mehr so oft zu verwenden. Nachdem Sie also in Ihrer embryonalen Phase bereits ein funktionierendes Gehirn hatten, hatten Sie auch die theoretische Möglichkeit zu denken und sich bereits im Mutterleib sinnlose Fragen zu stellen:
»Gibt es eigentlich ein Leben nach der Geburt? Angeblich kommt zuerst ein enger Tunnel, dann ein grelles Licht und dann steht man vor ›dem Mutter‹. Was auch immer der Mutter ist. Vielleicht ist aber nachher auch gar nichts, man weiß es nicht, denn zurückgekommen ist jedenfalls keiner mehr.«
Aber ganz egal, was auch immer Sie sich im Mutterleib dachten, es ist Ihnen dabei gut gegangen, denn Sie mussten sich um nichts kümmern, Sie waren angeschlossen mit einem langen Kabel, Ihrer Nabelschnur, an das Nervensystem Ihrer Mutter. Sauerstoffzufuhr, Nahrungszufuhr und Schadstoffabtransport waren elektronisch geregelt. Eine gut funktionierende, hochmoderne elektronische Einspritzanlage hat Sie neun Monate lang versorgt. Sie sind viel herumgekommen, ohne sich dabei selbst zu bewegen, und dabei war es immer schön warm und feucht. Neun Monate Thermenurlaub, und das ohne Pilz. Und dann, eines Tages, erlebten Sie den heiligen Moment der Geburt. Jede Geburt ist, ähnlich wie der Tod, ein heiliger Moment, dem eine unbeschreibliche Kraft innewohnt. Waren Sie schon jemals bei einer Geburt dabei? Was für eine dumme Frage. Aber jetzt rechnen wir einmal Ihre eigene Geburt nicht dazu, denn da waren Sie ja nicht wirklich bewusst dabei, und das ist gut so. Da muss man nicht unbedingt dabei sein, oder? Wären Sie allen Ernstes gerne bei Ihrer Geburt bewusst anwesend gewesen? Stellen Sie sich das einmal vor, da wird es nämlich wirklich so richtig eng, haben Sie das Tor, durch das Sie schreiten müssen, schon einmal aus der Nähe betrachtet? Das ist wirklich nicht groß. Dann bleiben Sie vielleicht noch irgendwo hängen, verkeilen sich, von hinten wird periodisch in immer schnellerer Folge Druck auf Sie ausgeübt. Da muss man, glaube ich, nicht wirklich dabei sein. Möglicherweise war die Geburt für den Neandertaler etwas einfacher. Frau Neandertaler war ja anders gebaut, etwas breiter, denn sie musste ja in keine enge Jean oder in den Schalensitz von Herrn Neandertalers Sportwagen passen. Kein langweiliges Schwangerschaftsturnen, das das ungeborene Neandertalerlein zu ertragen hatte, keine unnötige Aufregung über den überfälligen Geburtstermin. Geschützt hinter einem Busch, stehend, leicht angehockt, die Schwerkraft ausnutzend ohne Trubel, und in Ruhe fallen gelassen. Das Erste, was das Neandertalerlein von seiner äußeren Welt wahrgenommen hat, war ein feuchter Waldboden, eine duftende Wildkräuterwiese oder aber ein spitzer Stein. Die Natur ist eben nicht immer gerecht. Das Erste, was wir beide von unserer Umwelt wahrgenommen haben, war ein Krankenhaus. Ich jedenfalls schon. Der Kreißsaal im Franz-Josefs-Spital, ein unangenehm grelles, künstliches Licht und eine Bande von Maskierten im grünen Tuch. Das Erste, was diese maskierten Verbrecher machen: Sie zwicken dir, so schnell wie möglich, das Verbindungskabel zur Steuereinheit durch und du wirst mit einem Schnitt zurückgebaut, downgegradet von einer wunderbar funktionierenden elektronischen Einspritzanlage auf einen primitiven Vergaserbetrieb. Von nun an wird oben eingefüllt, verdaut, verbrannt und unter Anstrengung und manchmal auch Schmerz die Umwelt verpestend rausgeschissen. Das ist mit Verlaub definitiv ein technischer Rückschritt und es gibt hier nichts zu beschönigen.
Was meinen Sie, Herr Prehsler, gibt’s da etwas von Ihrer Seite aus zu beschönigen? Sie sehen ja sonst alles auch positiv?
Zu beschönigen gibt es da von meiner Seite aus nichts, aber durchaus etwas hinzuzufügen:
Prehslers Speisekarten des Lebens
Du kommst auf die Welt und schaust einmal ziemlich blöd aus der nicht vorhandenen Wäsche. Gut, jetzt bist also einmal da. Nass, verknittert, glitschig, voller Blut und zwider – irgendwie wie ein großer Engerling mit Gliedmaßen oder ein Maulwurf ohne Fell. Aber das ist wurscht, weil spätestens in ein paar Stunden bist du das schönste Baby der Welt – wenn auch nur für einen beschränkten Personen kreis. Wenn du so 15 bist, werden sie ständig an dir herummeckern, obwohl du da gerade am Erblühen bist.
Jetzt bist du aber erst einmal im Kreißsaal, als kurzer Gast in dieser gastlichen Stätte. Im Gasthaus zum Leben. Und? Was machst jetzt? Am besten die Karte verlangen und schauen, was es denn da so gibt, in diesem Gasthaus zum Leben.
Wen könnte ich denn so fragen, nach der Speisekarte hier? Wer könnte denn da überhaupt ein Angebot für mich haben? Shit! Nachhilfelehrer, Therapeut, Jungscharführer, Sozialarbeiter und Bewährungshelfer … keiner da. Die kommen alle erst später. Den Arzt? Na, vor dem fürchte ich mich doch ein bisschen. Die Hebamme? Die lacht lieb! Aber die ist gerade zu beschäftigt.
Was bleibt denn da noch? Ui, Mama und Papa! Was könnt ihr mir denn so anbieten, aus eurer elterlichen Küche?
Vorspeise | Zehn Jahre WurschtigkeitOma-DepotKinderkrippen-Gang-Bang |
Hauptgang | Neun Jahre fade Schule, HAK-Abschluss (Papa-Empfehlung: Damit ich auch so einen guten Job bekomme, wie er ihn jeden Abend verflucht)15 Kilo ÜbergewichtBausparvertragWochenend-Disco-Zudröhnung |
Dessert | Familientherapeut mit eigenen, noch nichtbewältigten TraumataDiabetesHoher BlutdruckUnbezahltes Praktikum |
Digestiv | Flucht in die große Liebe |
Hmmm … naja, ihr lieben Eltern, nichts für ungut, aber dann krabble ich jetzt rüber in den anderen Kreißsaal und schau einmal, was die Eltern dort so anzubieten haben.
… Ah, gar nicht so uninteressant. Da schau her! Offenbar ein Haubenlokal.
Vorspeise | Strampler von Tom TailorLuxuskinderzimmer in Pink oder Blau, je nach GeschlechtAu-Pair-Mädchen (kann ich das auch als Hauptspeise haben?)Elite-KindergartenElite-VolksschuleDie erste Neurose |
Hauptspeise | PrivatgymnasiumSchnöselfreundeHugo Boss-Anzug und/oder Gucci-TascheBefreiung durch Papas Portemonnaie aus derGeiselhaft der schlechten NotenElite-InternatKreditkarteEigenes AktiendepotLeichtes Zucken am linken Aug’ |
Dessert | Erster SelbstmordversuchSechs Monate London beim befreundeten BankerSechs Monate New York beim befreundeten Broker |
Digestiv | Eigenes Pferd oder Sportwagen, je nachGeschlecht |
Jooo, grundsätzlich nicht so schlecht. Und auch das Interieur gefällt mir hier besser als in der öffentlichen Wurfanstalt drüben. So eine Privatklinik hat schon ihre Vorteile. Selbst die Hintergrundmusik ist bezaubernd … ah, ich erkenn das: Die drei Tenöre singen Wal-Chöre! Ja, das ist die optimale superdrüber Relax-Musik für die Leben schenkende Mutti der Oberschicht, schön!
Jooo . warum nicht?
Sie, Herr Dr. Papa oder Fräulein-auch-irgendwas-Mama, könnte ich dazu noch ein bisschen Elternliebe und Zuneigung haben? So zum Drüberstreuen.
Wie bitte? Ah so … ist heute nicht lieferbar. Aber als Ersatz und als Geste der Entschuldigung bietet mir das Haus ein iPhone mit extragroßen Babytasten (die brauch ich dann wieder so ab 65) und vorinstallierten 5.000 Facebook-Freunden auf Kosten des Hauses. Da muss ich noch ein wenig überlegen. Vielleicht gibt's da eine einfachere Alternative, was Regionales, Hausmannskost sozusagen.
Was ist denn da drüben unter dem Lebensbaum los? Das ist interessant! Die Mutter hockt und presst nach unten, beschwört dabei ihre Ahnen und wünscht sich vom Universum, dass sich der unfähige Vater endlich schleicht … und der Vater zieht sich jetzt die Plazenta rein! (Rechtlich gehört übrigens die Plazenta den Eltern. Ich hab’ mich im Uterus schon ein bisschen eingelesen.)
Der Friede sei mit euch und mit mir die Liebe! Was habt ihr, Bruder Sonne und Schwester Mond, denn so anzubieten für ein neues Erdending?
Werfen wir einmal einen Blick in diese Karte, aus recyclebarem Umweltpapier von garantiert bei Neumond zu Tode gesungenen Bäumen außerhalb des Amazonas-Urwaldes, produziert von artge recht gehaltenen Orang Utans, geringfügig beschäftigt im Ruhestand.
Vorspeise | Dem Morgentau als Gabe dargebracht werdenSchafwollstrampler mit Bio-Obst-FleckenAntiautoritäre Erziehung30 selbst getöpferte Phalli als Lebenssymbole |
Hauptspeise | Patchwork Family auf dem Vierkanter Bausatz»Mein erstes eigenes Rad aus Bio-Bambus«Mit den Wölfen tanzen oder mit den Schafen blökenAlternativschuleErste Liebe auf dem Komposthaufen |
Dessert | FahrradboteSelbsterfahrungsgruppe in LemnosArmutsgrenze von unten |
Digestiv | Hausbesetzung |
Nicht unspannend und wirklich ganz anders … aber doch nicht ganz so meins.
Ist das der richtige Weg, wie man ein perfektes Kind hochzieht? Hochziehen tut so oder so sicher weh. Aber solange es man nicht an den Ohren macht … das muss man eben positiv sehen.
Da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Prehsler. Sehen wir es positiv .
Ich – Mich – Mein
Nachdem wir den Ortswechsel der Geburt zwar sicher nicht ohne Schaden aber doch überlebt haben und bevor wir an den Ohren hochgezogen werden, beginnt unser göttliches Dasein. An das wir uns aber leider nicht erinnern können. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit, wann und wo tauchen erste Bilder auf? Meine Erinnerungen beginnen sehr verschwommen, im Alter von drei oder vier Jahren, vielleicht auch etwas früher, ich kann mich leider nicht erinnern.
Die Zeit davor ist aber ersatzlos gestrichen, sie ist weg und das, obwohl ich da war. Es gibt sehr peinliche Beweisfotos aus dieser Zeit. Offenbar war dies die Zeit, in der unser Gehirn noch anders funktionierte. Es lernte ständig, arbeitete pausenlos, ohne auch nur einen Moment über »das Leben« nachzudenken, ohne auf eine bessere Zukunft zu hoffen, ohne sich über die Vergangenheit zu ärgern und ohne Angst um sein Hab und Gut zu haben. Wir beide lebten einfach nur. Aber bald widerfährt dem kleinen göttlichen Wesen etwas Dramatisches und für die weitere Lebensgeschichte Entscheidendes. Eines Tages beugt sich jemand über den Kinderwagen:
»Nau wem ham wir denn da? Wer is denn des? Wer schaut denn da? Is des da Kevin, ha? Der Kevin is des, gel? Is er eh brav, der Kevin?«
Leider doch kein Gott geworden, sondern schlicht und einfach nur Kevin. Was für eine niederschmetternde Erkenntnis.
Mit seinem Namen, in diesem Fall Kevin, bekommt das kleine Leben sein ICH, damit auch ein MICH und vor allen Dingen ein MEIN. Dieses Mein wird nun in weiterer Folge viel Leid in das eigene aber auch in das »Leben« der anderen bringen. Von nun an ist das Spielzeugauto nicht nur ein Spielzeugauto. Von nun an ist es mein Spielzeugauto. Es ist meine Schokolade. Es ist immer noch meine Entscheidung, jedenfalls ist das meine Meinung. Übrigens ist die steile Braut dort drüben meine Frau, der Betrunkene an der Bar ist leider mein Mann. Das gilt übrigens auch dann, wenn man nicht Kevin heißt. Wie heißen eigentlich Sie? Nehmen Sie einen Stift zur Hand und tragen Sie Ihren Namen an der markierten Stelle ein.
Dieses Buch gehört:
Damit auch alle wissen, dass das IHR Buch ist.