Читать книгу Weltfremd - Roland Düringer - Страница 5
Nachwort
ОглавлениеDas Nachwort steht relativ vorne, aber immerhin nach dem Vorwort. Warum? Weil es keine Garantie dafür gibt, dass Sie es bis zu einem Nachwort am Ende des Buches schaffen würden, denn ehrlich gesagt ist das teilweise schon ziemlich heftig, was da so aus mir herausgeronnen ist. Bist du deppert, da wird es so manchem die Sicherungen schmeißen. Da werden einige durch die Hölle gehen …
Heute ist der 18. September 2015. Dieses Buch geht in Kürze in Druck. Kein Zurück mehr also. Dafür vielleicht ein Schritt nach vorne. In den letzten Wochen hatte dieses Buch einen fixen Platz in meiner Lebensgeschichte, bekam dadurch eine Wichtigkeit und eine Bedeutung. Letztlich ist es nur ein Buch, eines von tausenden und abertausenden. Was ist schon wichtig? Nichts ist wichtig! Oder ist alles wichtig? Wahrscheinlich ist es beides. In ein paar Monaten, vielleicht in ein paar Wochen oder schon in wenigen Tagen, wird dieses Buch seine Wichtigkeit in meinem Leben verloren haben, für mich Vergangenheit sein. Wenn auch nicht mehr wichtig, wird es trotzdem nicht egal für mich sein, denn nichts, was ich tue oder getan habe, ist oder war egal, deswegen aber noch nicht unbedingt wichtig. Was ist wichtig in einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät? Ist es tatsächlich so, dass unsere Welt in Gefahr ist, oder ist nur die Wirklichkeit, unsere Vorstellung der Welt, wie sie sein sollte, im Zusammenbruch begriffen? Überall bröckelt der Verputz, die Fassade zerfällt, das Kartenhaus wackelt. Sie spüren das, ich spüre das. Wachstum, Beschleunigung, Expansion, Fortschritt, Wohlstandsvermehrung, Konsumzwang, Reglementierung, Überwachung, Finanzskandale, Arbeitslose. Das alles und vieles mehr liegt schwer auf unseren Herzen. Oder besser: Es liegt nicht, es lastet auf unseren Herzen, Verunsicherung und Angst hat nun auch die »Insel der Seligen« erreicht. Seit Tagen zieht eine für unsere Generation – die Generation der Macher und des Erfolgs – bislang unbekannte Welt durch unser Land, unseren Kontinent. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor dem Leid und suchen ihr Glück in Europa. Sie suchen in der Regel Schutz und Sicherheit, manche von ihnen suchen vielleicht Streit und befinden sich im heiligen Krieg mit unserer »heilen Welt«. So oder so, ist das nicht beschämend, eine Schande für unsere ach so zivilisierte Kultur? Wie auch immer, sowohl tatsächlich verfolgte als auch gewaltbereite Menschen aus einem fernen Teil der Welt sind plötzlich Teil unserer Wirklichkeit. Plötzlich? Unerwartet? So als wär der Flüchtlingsstrom eine unvorhersehbare Naturkatastrophe, ein Tsunami, der unsere Küsten über Nacht erreicht und die Regierenden wie ein Blitz getroffen hat? Oder ernten die schon lange industrialisierten Länder Europas nun gerade, was sie gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika gesät und fleißig »bewirtschaftet« haben?
Wobei Europa in diesem Fall den Erntehelfer gibt und die USA den Großgrundbesitzer mimen. Gerade vor einigen Minuten war ein Beitrag im Radio zu hören. Ö1, ein Qualitätssender, brachte in »Saldo, dem Wirtschaftsmagazin« einen Bericht über die wirtschaftlichen Folgen der Migration nach Österreich. Erwiesenermaßen, so die Experten, kurbeln Migranten die Wirtschaft an, sie steigern das BIP und sorgen für Wirtschaftswachstum. Das klingt plausibel, denn Menschen, die bei uns arbeiten, geben dann bei uns auch ihr Geld aus, nehmen eines Tages Kredite auf und bezahlen brav ihre Steuern und natürlich Zinsen.
Warum denkt ihr Experten nicht weiter, warum nur hört euer Denken am Tellerrand des angelernten Wissens auf? Mehr Wachstum = mehr Wohlstand! Mehr Wachstum ist aber auch mehr Verbrauch. Verbrauch von Rohstoffen und Energie. Um Zugriff auf Rohstoffe und Energie zu bekommen, muss man expandieren – was für ein schönes Wort für Plündern, Rauben und Morden. Unseren Glauben an Wohlstand durch Wachstum bezahlen viele mit dem Leben. Menschen, Tiere und Pflanzen – das Leben an sich fällt dem Wachstum zum Opfer. Mehr Wachstum = mehr Verbrauch = mehr Krieg um Ressourcen = mehr Leid. Noch hat der Krieg uns nicht erreicht, noch schlagen wir uns hier noch nicht die Schädel ein, aber der Krieg der Ideologien, der Weltbilder und der Überzeugungen kommt wieder ins Rollen. Die ideologischen Einsatztruppen rüsten sich bereits, alle schreien nach effizienten und raschen Lösungen, jeder möchte das Kartenhaus auf seine Art vor dem Zusammenbruch bewahren. Jeder meint es gut, gut aus seiner Sicht. Man möchte der angespannten Situation Herr werden und konzentriert sich voll und ganz auf die Bekämpfung von Symptomen.
Darüber ist zur Zeit viel zu hören und zu lesen. Sei es im Bezug auf die Flüchtlingsströme, auf die imperialistischen Stellvertreterkriege, auf die Auswüchse eines aufgeblähten Finanzsystems, die Zerstörung unserer Umwelt oder die wachsende Umverteilung von »fleißig« zu »reich«. Wie wenig hört man aber über die Ursachen, wie wenig denken wir über unser Denken nach? Jenes Denken, das die Welt, in der wir leben, erschaffen hat. Wir lehren die Kinder noch immer, was sie denken sollen, aber nicht, wie man denken könnte. Man kann einen lebendigen Organismus, einen in ständiger Bewegung befindlichen Prozess, wie es unsere Welt ist, nicht mit Wundpflastern heilen, die Situation mit den selben Mitteln verbessern, mit denen wir sie zyklisch verschlechtern.
Das Denken, Sprechen und Handeln von Menschen begleitet mich seit fast 35 Jahren beruflich. Um als Schauspieler Menschen spielen zu können, muss man versuchen, sie zu verstehen, die Funktionsweise ihres Denkens zu begreifen. Bleibt man an der Oberfläche an den Symptomen hängen, liefert man nur eine Karikatur ab. Versucht man, das Denken der Figur zu verstehen, so wie sie zu denken, dann hat man viel über das eigene Denken gelernt, und die Figuren verlieren immer mehr an Bedeutung. Die Beobachtung der eigenen Denkmuster schiebt sich in den Vordergrund. Was bin ich eigentlich, jenseits meines Denkens?
Die Antwort darauf habe ich bislang noch nicht gefunden, vielleicht ist sie ja auch nicht so wichtig. Denn was ist schon wichtig?
18. September 2015. Valentino Rossi führt mit einem Vorsprung von 23 Punkten vor Jorge Lorenzo die Motorrad-WM an. Nächstes Wochenende ist der Grand Prix von Aragon, und ich werde vorm Fernseher sitzen und mit Valentino mitzittern. Ganz einfach, weil es mir wichtig ist.
Ach ja, und eines noch zur Vergeschlechtlichung in diesem Buch: Manchmal habe ich es zur schwereren Lesbarkeit gemacht, manchmal nicht. Mir selbst ist das nicht wichtig. Falls es Ihnen wichtig ist, dann gratuliere ich Ihnen. Sie sind eine Glückspilzin, denn was ist es für ein Glück, wenn man sonst keine Sorgen hat und dadurch die Freiheit genießt, Buchstabenkombinationen Wichtigkeit zu geben. Vieles ist aus der Sicht eines Mannes erzählt. Warum? Vielleicht weil ich ein Mann bin und die Welt nur aus meiner Sicht wahrnehmen kann.
Das ist etwas, was wir beide, lieber Leser, liebe Leserin, teilen, und das ist doch ein guter Anfang, oder?