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Flexible Wortstellung
ОглавлениеZu den Vorzügen unserer Sprache rechne ich auch den Satzbau. Das mag manchen Leser überraschen, wird doch gerade der deutsche Satz von Kritikern als Zumutung empfunden. Natürlich gibt es sie, die Bandwurmsätze, bei denen sich erst am Ende mehrerer voneinander abhängiger Nebensätze durch das Verb erschließt, was ihre Gesamtbedeutung ist. Aber auch das muss nicht immer ein Nachteil sein, wie wir sehen werden.
Der Satzbau im Deutschen ist sehr flexibel – eine Folge des von Mark Twain so ungeliebten ausgeprägten deutschen Kasussystems.3 Es ist einleuchtend, dass eine Sprache mit ausgeprägtem Kasussystem in der Wortstellung mehr Freiheit geben kann. Den Vorteil einer leicht zu bildenden Wortgruppe ohne Kasusmarkierung bezahlt der Sprecher des Französischen mit einer Einschränkung in der Wortstellung. Man kann eben nicht alles haben. Im Deutschen kann man den Satz Ich habe ihm das Buch geschenkt mehrfach drehen und wenden und ihn damit in einer immer wieder anderen Bedeutung verwenden: Ihm habe ich das Buch geschenkt; wenn es darum geht, den Empfänger stark zu betonen. Ich habe das Buch ihm geschenkt, hier wird der Empfänger etwas schwächer betont als im Satz zuvor, weil er sich die Aufmerksamkeit des Hörers mit dem Buch teilen muss. Das Buch habe ich ihm geschenkt, wenn das Geschenk selbst betont werden soll; Geschenkt habe ich ihm das Buch, wenn man verdeutlichen will, dass man das Buch nicht verkauft oder verliehen hat. Nur die Wortstellung Ich ihm habe das Buch geschenkt wird im Deutschen nicht akzeptiert.4
Wenn man nun noch Umstandsbestimmungen der Zeit, des Ortes oder etwa des Grundes oder der Art und Weise hinzufügt (Heute Morgen, im Restaurant, wegen seiner Mithilfe, mit großer Freude), ergeben sich noch mehr Möglichkeiten der Wortstellung und ebenso viele Nuancen, im Satzinhalt eine andere Betonung des Wichtigen vorzunehmen.5 Elastizität und Nuancenreichtum, das sind Vorzüge des deutschen Satzbaus.
Eine weitere Besonderheit des deutschen Satzbaus rührt von der Teilung des Prädikats her, von der Verb- oder Satzklammer. Sie betrifft einmal die Hilfs- und Modalverben, die ein Hauptverb in seiner Bedeutung spezifizieren wie in dem Satz: Paul hat Gaby auch am letzten Abend gegen 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld nicht gesehen. Die Klammer wird hier von hat bis nicht gesehen gebildet, und mancher Nicht-Muttersprachler stöhnt über die lange Strecke, die er zurücklegen muss, bis er den wahren Sinn des Satzes verstanden hat, denn dieser erschließt sich ja erst ganz am Ende.6 Ebenso hört man Klagen von Nicht-Muttersprachlern, die einen Satz in korrekter Satzklammer formulieren wollen und dabei den Überblick verlieren (wobei dies den Muttersprachlern ja auch häufig widerfährt). Man kann aber die Satzklammer umgehen.7 Den obigen Satz kann man problemlos so umformen, dass die möglicherweise wichtigste Nachricht am Anfang des Satzes steht und der Rest in einen Nebensatz ausgelagert wird: Paul hat Gaby nicht gesehen, als er am letzten Abend gegen 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld war. Man kann sogar das Gesehen-Haben noch stärker betonen, indem man es an den Anfang des Satzes stellt: Gesehen hat er sie nicht …
Aber die Verbklammer hat auch ihr Gutes. Nehmen wir den Satz: Sie gibt ihre anspruchsvolle und interessante Tätigkeit auf. Am Ende könnte es auch heißen: … nicht auf. Oder: … an eine Kollegin ab. Oder: … nicht an eine Bekannte, sondern an einen neuen Kollegen ab. Dadurch dass die Inhalte des Satzes erst am Ende durch den Verbbestandteil (auf ab) richtig eingeordnet werden, bekommen wir eine synthetische Vorstellung der Lage: Der Satzinhalt wird zu einer Vorstellung zusammengedrängt. Die Bedeutung des Satzes ist so lange in der Schwebe, bis wir ihn ganz gehört haben, und erst am Ende verstehen wir ihn richtig. Man muss durch die Verbklammer alle Bestandteile des Satzes im Gedächtnis behalten, um am Ende des Satzes mithilfe des Verbs oder seiner Vorsilbe oder auch seiner Verneinung die Bedeutung richtig interpretieren zu können. Das kann in Satzgefügen oder auch in einfachen Sätzen mit komplexen Substantivgruppen eine anspruchsvolle Übung sein, und für den Nicht-Muttersprachler, der dies nicht gewohnt ist, muss eine solche Wortstellung sowohl beim Hören als auch beim Sprechen anfangs recht schwierig erscheinen. Aber im Gegenzug bildet der deutsche Satz mit seiner Eigenart der Verbklammer eben jene synthetische Vorstellung, die es einem ermöglicht, alle Elemente des Satzes in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander als ein Ganzes zu erfassen. Ein weiterer Vorzug der Verbklammer ist ihre Gliederungsfunktion in einem Satzgefüge. Sie markiert nämlich unmissverständlich das Ende eines Satzes, an das nun ein Nebensatz angeschlossen werden kann: Sie gibt ihre anspruchsvolle und interessante Tätigkeit auf, weil sie ein Erbe antreten kann.
Einige Sprachwissenschaftler aus dem romanischen Sprachraum deuten den Satzbau der französischen Sprache als das Gegenteil der sogenannten „regressiven“ (= rückwärtsgewandten oder rückbezüglichen) Wortstellung des Deutschen. Der französische Satz, so ihre These, gehorche einer natürlichen Wortstellung („ordre naturel“ oder „ordre direct“), indem er alles stets der Abfolge Subjekt, Prädikat, Objekt unterwerfe;8 im Deutschen sei diese Ordnung auf den Kopf gestellt; das gelte auch für Wortgruppen wie zum Beispiel ein zwei Meter langer Tisch oder ein auf den Stuhl gelegter Mantel; das Französische stelle hier ganz logisch das Substantiv an den Anfang, gefolgt von den Wörtern, die es weiter bestimmen (une table longue de deux mètres; un manteau posé sur une chaise); der Leser oder Hörer könne bequem der Ordnung der Wörter folgen, weil sie sich eins nach dem andern und vom Wichtigsten ausgehend erschlössen; im Deutschen könne der Sprecher nach Belieben alles umstellen und hin- und herrücken, ohne sich beim Sprechen um die natürliche Ordnung der Dinge zu kümmern; im Französischen werde er hingegen zur sachlich richtigen Wortstellung gezwungen; das Deutsche sei eine Sprache für Sprecher, das Französische eine für Hörer.9
Aber was ist eine „natürliche“ Wortstellung? Für die Franzosen der Aufklärung war es die Folge Subjekt – Verb – Objekt, an die sie selbst sich so wenig hielten wie andere Sprachgemeinschaften. Noch schwerer sind mentalitätsbezogene Weltbildthesen zu beurteilen, die aus den genannten sprachlichen Unterschieden abgeleitet worden sind (Rationalität im Gegensatz zum Gefühl, Objektivität im Gegensatz zur Subjektivität).
Es gibt immerhin einiges, was für die im Deutschen mögliche vorangestellte Attribuierung (ein auf den Stuhl gelegter Mantel) spricht. Denn das Deutsche eröffnet dadurch die Ausbaufähigkeit des Nomens nach beiden Seiten, nämlich durch vorangestellte Attribute und durch nachfolgenden Relativsatz (ein auf den Stuhl gelegter Mantel, den ich beim Hinausgehen vergessen hatte).10 Auf diese Weise können auch komplexe Informationen gut aufgeteilt werden. Das vorangestellte Attribut ist weniger hervorgehoben als ein Relativsatz. Dadurch gelingt eine differenzierte „Perspektivierung“, also eine feine Dosierung der Gewichte, die man den präzisierenden Satzteilen oder Sätzen zuweist. Und wenn man bedenkt, was sonst noch möglich ist, beispielsweise auch in der Nachstellung des Adjektivs, kann man von der großen Elastizität der Wortstellung nur beeindruckt sein: Röslein rot, Forelle blau, Henkell trocken oder auch diese nachgestellte Konstruktion: Salat kauft er nur frischen.11
Zurück zum Sprachvergleich zwischen dem Deutschen und dem Französischen, der erhellend ist, weil er zeigt, dass die beiden Sprachen in ihrem System und in ihren Stilidealen die Aufmerksamkeit auf verschiedene Weise „steuern und fixieren“, so der Kölner Romanist Peter Blumenthal in einer scharfsinnigen Arbeit zu diesem Thema.12 Hier die Aufmerksamkeit sozusagen Schritt für Schritt und Stück für Stück, da die Aufmerksamkeit in einer Gesamtsicht.
Bei aller Faszination für sprachliche Unterschiede ist anzumerken, dass das Deutsche auch den geradlinigen Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt kennt: Er gibt ihr das Buch. Erst in den Sätzen mit zusammengesetzten Prädikaten und in Nebensätzen werden Satzklammern gebildet. Und schließlich muss das Deutsche auch in Substantivgruppen eine Ansammlung von bestimmenden Wörtern nicht voranstellen, sondern kann sie durch einen Relativsatz oder eine Apposition nach dem Substantiv gruppieren: Wem die Wortgruppe ein im Wohnzimmer zwischen dem Kamin und dem Fenster stehender Schrank zu schwierig ist, der kann ebenso gut sagen: ein Schrank, der im Wohnzimmer zwischen dem Kamin und dem Fenster steht oder ein Schrank im Wohnzimmer, zwischen dem Kamin und dem Fenster.13 Es gibt sprachliche Zwänge, aber es gibt auch Auswege aus ihnen.