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Quengelware und fremdschämen

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An den Kassen der Supermärkte hat man gezielt verführerische Waren auf der Augenhöhe von Kindern ausgestellt, damit diese sie sogleich erblicken und so lange quengeln, bis die Mutter oder der Vater sie ihnen kauft. Die in den Neunzigerjahren aufgekommene Bezeichnung dafür lautet denn auch kurz: Quengelware. Braucht man einen neuen Begriff für Leitungen, die riesige Datenmengen quer durchs Land transportieren können, so kombiniert man das Wort für diesen ebenfalls recht neuen Gegenstand mit zwei bestehenden: Datenautobahn.

Diese Fähigkeit der deutschen Sprache, mühelos Wörter zu kombinieren, macht sie wendig: Man kann zwei Substantive kombinieren wie in Autobahn. Man kann Adverb und Verb kombinieren wie in fremdschämen, das das bekannte Gefühl übersetzt, welches wir empfinden, wenn wir uns einer anderen Person schämen und nicht unserer selbst – eine gelungene Neuschöpfung der letzten Jahre. Zwar konnte man sich auch schon vorher für jemanden schämen, aber diese Empfindung konnte man nur in direktem Bezug auf eine Person äußern, nicht als Empfindung an sich. Nun aber kann man sich schämen und sich fremdschämen, und schon ist dieser Unterschied in einem Wort gemacht.

Durch Vor- oder Nachsilben können wir aus Substantiven jederzeit ein Adjektiv machen wie bei schnurlos. Und wir können durch diese Silben (Lexeme oder Phoneme) die Bedeutungen unserer Verben weiter präzisieren, wie bei dem in den Neunzigerjahren entstandenen andenken in Sätzen wie es ist angedacht, das Produkt erst später zu lancieren. Andenken heißt hier, dass wir uns auf etwas noch nicht festlegen wollen, sondern dass wir es zur Diskussion stellen. Eine ähnliche Wortschöpfung ist sich hineindenken: „Er hat sich in die Sache hineingedacht“, er hat begonnen, sich mit der Sache gedanklich vertraut zu machen.

Allerdings ist nicht jede dieser Kombinationen logisch abzuleiten, wie überhaupt die Wortfelder einer Sprache nicht den strikten Anforderungen einer Formelsprache genügen, und es kann deshalb auch immer wieder zu Missverständnissen kommen wie bei der wichtigen Frage, ob jemand den Mann umgefahren hat oder ob er ihn umfahren hat, was aus dem Verb in seiner ungebeugten Schriftform allein nicht zu erkennen ist (umfahren), sondern nur in der mündlichen Rede durch die Betonung (úmfahren oder umfáhren).

Es ist auch nicht zu bestreiten, dass die Leichtigkeit, mit der das Deutsche zur Wortschöpfung durch Kombination bestehender Wörter einlädt, zu Wortungetümen verführt wie beim Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz aus dem Jahre 2008, mit dessen Hilfe die Zahlungsfähigkeit der Kreditinstitute in Deutschland sichergestellt werden sollte. Immerhin wird in diesem Wortungetüm eine komplexe Information gebündelt – nicht schön, aber wenigstens genau. Für den Hausgebrauch reichen einfache Abkürzungen – natürlich auch wieder Wortkombinationen wie Rettungspaket, Rettungsfonds oder auch Rettungsschirm.

Eine weitere Quelle des reichen Wortschatzes im Deutschen sind die Ableitungen. Man hängt einfach eine Endsilbe an ein Substantiv, und schon hat man ein Adjektiv zur Hand: Gefühl wird zu gefühlvoll, gefühlsarm oder gefühlig. Oder umgekehrt: einsam wird zu Einsamkeit, Vereinsamung. Auf diese Weise entstehen ganze Wortfamilien aus einem einzigen Wort. Wer das Ausgangswort kennt, kann sich das Wortfeld erschließen.

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