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Kapitel 8

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milchflor vor den scheiben/ heiterkeit beim flick-schuster/ an den mühsalen des alltags gelitten/ summ summ der muskeln und sehnen/ grüße vom rosaroten panther/ wie in einem spiegel/

Die Februartage zogen sich hin, belanglos und ohne Fassung. Paul konnte schon morgens das gemächliche Schlurfen des Lichtes hören, wie es sich mühsam durch die nebelverhangenen Morgenstunden quälte. Der beständige Milchflor vor den Scheiben und das nie enden wollende Heller Werden zermürbten ihn. Er fühlte sich dahin bröseln. Für den Mai hatte er seine Reise angesetzt.

An diesem Morgen verspürte er beim Aufstehen einen trockenen Geschmack im Mund, eine Mischung von Rohpausen halbvergessener Träume der vergangenen Nacht, unterlegt vom Nachgeschmack des Rotweines aus dem Sonderangebot, den er am Vorabend getrunken hatte. Er versuchte, sich an die Träume zu erinnern. Sein Bilderarchiv klemmte. Ihm fielen nur Fetzen von hektischen Gestalten ein, die über ein Gräberfeld liefen, und eine Art Fangenspiel veranstalteten. Das Ganze war begleitet von dem Gefühl großer Unruhe. Seine Reisepläne schienen in weite Ferne gerückt, als hätten sie sich mit der winterlichen Nässe und Kälte klamm heimlich davongeschlichen.

Pauls taumelnder Gang führte ihn zum Waschbecken, das herausfordernd, als habe es Zweifel an seiner Existenz, an der Wand hing. Er blickte in den Spiegel und sah sein noch Schlaf verstörtes Gesicht vor sich. In ihm keimte der Verdacht auf, dass die Gestalt ihm gegenüber nicht er selbst sein könne. Dabei verirrte sich ein Lächeln auf seine Lippen, weil ihm dieser Spruch bekannt vorkam. Dieser schizoide Zustand hielt für die Dauer eines Wimpern Schlages an. Durch ein schiefes Lächeln aus den Mundwinkeln heraus, begleitet von einem kräftigen Schnäuzen, gelang es ihm, den Zustand zu beenden. Mit Schlägen von kaltem Wasser ins Gesicht zwang er sich in seine Haut zurück. Dieses morgendliche Wasch- und Weckritual leitete jeweils die entscheidende Phase ein, in der sich Wohl und Wehe des kommenden Tages entschied. Gelang es ihm nicht, durch das eiskalte Wachrütteln in seiner Hülle wieder Fuß zu fassen, dann verharrte er den ganzen Tag über in einer schwebenden Benommenheit. Sein Gang blieb taumelig, seine Bewegungen Schwindel durchwirkt. Paul versuchte, mit einiger Routine Techniken zu entwickeln, die ihm an solchen Tagen halfen, wenigstens nach außen hin den Anschein einer vertretbaren Zuverlässigkeit zu vermitteln. Sah man ihn sich jedoch genauer an, war in jeder seiner Äußerungen eine schnell ermattende Aufmerksamkeit zu spüren. Er selbst hatte den Eindruck eines dumpfen Sensibilität Verlustes, der kein Sinnesorgan aussparte, und seine Stimme klang wie mit Grünspan belegt.

Eine kurze Hinwendung im Gespräch zu Alex, schon umgab ihn wieder eine klamme Benommenheit. Manch-mal schien er daraus aufzuwachen. Dann blickte er sich verwundert um, zwang sich für eine Weile anwesend zu sein, um nach einem solchen Ausflug von Wachheit wieder in sich zurückzugleiten. Der einzige Ausweg aus solchen Tagen heil herauszukommen, war für ihn, sich in irgendeine heftige Beschäftigung zu stürzen, in eine Art belanglosen Aktionismus, der sich manchmal darin austobte, dass er Unterlagen auf dem Schreibtisch von einem Platz zum anderen bewegte, Kopien sortierte oder versuchte, sich in die Literaturberge, die sich auf seinem Schreibtisch häuften, einzuarbeiten. Meistens kam er jedoch nicht über die Inhaltsangaben hinaus.

Nach einem solchen Tag, angefüllt mit flüchtigen Gesprächen, Zerstreuungshandlungen und hoffnungslosem Unverständnis, fühlte er sich so ausgelaugt, als habe er einen gewaltigen Arbeitsberg mit größtem körperlichem Einsatze weggeschaufelt. Rekapitulierte er den Tag auf dem Weg zurück nach Hause, fand er als Bodensatz den faden Grieß der vergangenen Stunden wieder. Dann wünschte er sich, Wölffler oder der Müllwerker am Straßenrand zu sein. Ein physischer Drang bemächtigte sich seiner, die Muskeln angespannt zu fühlen. Sie mit geschwollenen Muskelbäuchen und gespannten Sehen singen zu hören. Sie sollten im Takt der gestemmten Müllcontainer surren und pulsieren. Er sah Wölffler unter freiem Himmel stehen, wie er gerade nach erfolgreicher Jagd einen Bauernschrank auf die Ladefläche seines verbeulten Dreitonners hievte, und er hatte das Gefühl, etwas Wesentliches zu versäumen. Reflektorisch fasste er sich dann an den Bizeps oder fühlte die Fettrollen ab, die sich spürbar über seinem Gürtel vorwölbten. Er meinte ertasten zu können, wie der zunehmende Mangel an Kraft in seinen Oberarmen sich zu Fettdepots in seinen Bauchfalten materialisierte. Wölffler war weit weg und der Müllwerker am Straßenrand schien bei näherem Hinsehen auch nicht vom Glück verfolgt zu sein.

Man liegt sicherlich richtig, wenn man Pauls damaligen Zustand als den einer latenten Depression bezeichnen würde. Der freundschaftliche Rat, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, wäre ihm jedoch wie ein mutwilliger Eingriff in seine Intimsphäre vorgekommen. Auch Paul hätte die Diagnose bejaht, hatte er sich doch als ausgebildeter Mediziner während seines Studiums die Grundregeln seelischer Befindlichkeiten kennen gelernt. Auf eine fatale Weise kannte er sich in den unteren Etagen seiner Gefühlswelt so gut aus, dass er sich darin fast heimisch fühlte. Die Warnung wäre fruchtlos geblieben.

Alex, der Pauls Zerstreutheit mit Sorge verfolgte, hielt sich zurück. Zu sehr beschäftigten ihn seine eigenen Probleme. Gelegentliche Ausflüge von Heiterkeit und die Aussicht, den bleichgesichtigen, mitteleuropäischen Februarhimmel mit dem kalifornischen Frühling eintauschen zu können, halfen Paul jedoch, die schlimmsten Phasen seiner Gemütsverstimmungen zu überstehen. Solche Ausbrüche von Heiterkeit kamen ganz unvermittelt über ihn.

Früh morgens zum Beispiel, wenn er das Haus verließ, nach einem flüchtigen Kuss auf Barbaras Wange, der eher schmerzlos als liebevoll war, und einem Schluck Kaffee zwischen Tageszeitung und dem Suchen nach gleichfarbigen Socken, stolperte er die zehn Schritte bis zu seinem Wagen in den Morgen hinein. Das Suchen nach dem Autoschlüssel, Öffnen der Tür, Werfen der Tasche auf den Beifahrersitz liefen mit traumwandlerischer Routine ab. Aufgeschreckt wurde er nur, wenn er in seinem Vorwärtsdrang mit den Gegenständen um sich herum kollidierte. Sich den Kopf am Türholm des Wagens rammte, ihm der Autoschlüssel aus der Hand fiel, oder er fünfmal ansetzen musste, um den Sicherheitsgurt einzurasten. Er reagierte jedoch nicht, wie man es erwartet hätte, mit zunehmendem Missmut, sondern verfiel in eine Art Selbstgefallen, das er mit Kaskaden von Selbstgesprächen einleitete: »Tölpel, wohl schlecht geschlafen, guten Morgen Paul«, waren noch milde Formen selbstironischen Gefallens. Setzte er das Auto aus seiner Eigenheim Siedlung in Richtung der Stadt in Bewegung, fielen die Straßennamen und Plakattafeln seinem aufkeimenden Lebenswillen zum Opfer. Buchstaben auszulassen, sie an andere Stellen zu platzieren, der dünnblütigste Blödsinn verbaler Spielereien bereiteten ihm an einem solchen Morgen kindliche Freude. Aus dem »Himmelhain« Weg wurde »Bimmelrain« Steg und der »Flickschuster«, eine auf seinem Weg gelegene Kneipe, geriet ihm mit derselben Bannung, die ihm das Überspringen der morgendlichen Schatten auf seinem Kindergartenweg auferlegt hatte, zu einem todsicheren »Fickschuster.« Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich dann auf die Plakatwände, die seinen Weg in die Stadt begleiteten. Je nach der mehr oder minder gelungenen verbalen Volte der Werbetexter nahm er sie wohlwollend oder mit einem Anflug von Ärgernis zur Kenntnis.

Heute befand er sich in etwas gehobener Stimmung, als er wieder in einem der unvermeidlichen Autostaus steckenblieb, die seine Leidensgefährten mit dem gleichen Gleichmut hinzunehmen schienen, wie er selbst. Diesmal wollte er sich jedoch nicht in obligatorischen Ausbrüchen über die Sinnlosigkeit des Autofahrens ergehen, dessen alleiniger Zweck darin zu bestehen schien, in morgendlichen Kraftstößen die durchschnittlich siebzig Kilo schweren Fleischpakete aus ihren schlafwarmen Betten in die Stadt hinein und abends aus den Großraumbüros und Werkhallen zurück in die bescheidene Seligkeit ihrer Vierwände zu katapultieren. Er grübelte über die schicksalsträchtige Bedeutung nach, die diese Vehikel mit dem euphemistischen Namen »Kraftfahrzeuge« für den modernen Menschen gewonnen hatten: Von Priestern geweiht, auf christliche Namen getauft, mit Zierrat versehen, müssen sie sich einem wöchentlichen Waschritual unterziehen. In ihren Auslagen beherbergen sie die Schwiegermütter Opfer in Form von Häkeleien, unter deren Schlüpfer farbigen Paspeln sich der Gral teutonischer Sauberkeitserziehung, vulgo Klopapier Rollen, verbergen. Sie tragen die baumelnden Erinnerungen an die ersten Schuhe des Söhnchens oder Töchterchens wie die Skalp-Trophäe eines Sioux Indianers an der Frontscheibe. Sie haben Symbolwert, Charakter und Rasse, hören auf Wertminderungen und Abschreibungsraten. Und keine menschliche Situation ist ihnen fremd. In ihnen wird geliebt, gestorben und geboren. Sie sind Gefängnis und die große Freiheit zugleich. Stürzen Familien ins Unglück und verschlingen jährlich ganze Kleinstädte. Sie sind die Pest der modernen Zeit und sorgen für das wirtschaftliche Erblühen bracher Landstriche. Der Staub ihrer Reifen schreibt Geschichte auf die Autobahnen. Da karren die GIs triumphierend den Wüstenstaub aus Kuwait in den Felgen ihrer Lastwagen von Frankfurt bis zur Abfahrt Nürnberg-Fürth. Da zockelt der Altkleiderkonvoi der evangelischen Gemeinde Lütken-Dortmund in Richtung der Hungergebiete nach Rumänien. Da stehen die weiß gespritzten Lastwagen von UNPROFOR auf dem Rastplatz Bayernwald und machen eine Verschnaufpause auf ihrem Weg in die Kriegsgebiete Bosniens.

Raufschalten, Abbremsen und Wieder-in-Bewegung-setzen. Nachdem er zum hundertsten Mal diese Bewegungs-stereotypie ausgeführt hatte, beschloss er, sich ganz geschmeidig zu machen, um mit einem meisterlichen Satz durch die Windschutzscheibe zu setzen. Gedacht, getan. Hinter sich hörte er das Glas splittern. Noch im Sprung kamen ihm Bedenken, dass sein Wagen den Verkehr blockieren könnte. Polizei, der Menschenauflauf, die gaffenden Mitfahrer. Doch dann landete er mit einem sanften Aufprall auf der Kühlerhaube des vor ihm stehenden Fahrzeugs und trommelte mit seinen Fingern ein gut vernehmliches »Tam-Tata-Tam« auf das Blech des Vordermannes, wartete auf eine, wenn auch nicht freundliche so doch vernehmbare Reaktion aus dem Inneren des Fahrzeuges, auf dem er gelandet war. Stattdessen drangen nur Fetzen von Popmusik an sein Ohr und dazwischen die dissonante Tonfolge des Verkehrsfunks mit der Ansage, dass auf der A3 der Stau mittlerweile auf fünf Kilometer angewachsen sei. Paul betrachtete den Mann hinter dem Lenkrad etwas näher. Eine gewisse Ähnlichkeit war unverkennbar.

Er musste etwa Mitte dreißig sein, die Haare auf nicht ganz ordinäre Länge gestutzt, sodass sie leicht in den Nacken und über die Ohren fielen. Ein kurz gehaltener, dunkler Vollbart, in den sich von den Seiten her graue Strähnen einflochten, gaben dem Gesicht einen maskulinen Ausdruck, der jedoch mit dem wie verloren in den Himmel hängenden Blick kontrastierte. In einer hilflos wirkenden Art hielt er sich am Lenkrad fest als umklammere er einen Rettungsring, dabei schienen seine Finger, den Takt des Musikstücks aus dem Autoradio auf dem Lenkrad mit zu trommeln. Ihm kam das Gesicht bekannt vor. War das nicht der Mann, den er gestern im Supermarkt gesehen hatte als er selbst mit Barbaras Zettel in der Hand noch die restlichen Einkäufe für das Abendessen erledigte. Der Mann hatte ein Paket Spaghetti, süße Sahne und einen Schimmelkäse der Marke Bavarian Blue im Einkaufswagen liegen. Zum Abendbrot sollte es sicherlich Spaghetti mit Käsesauce geben. Manchmal fuhr er einem kleinen Mädchen, das offensichtlich zu ihm gehörte, Gedanken verloren über den Kopf. Eine große Müdigkeit ging von ihm aus, als wäre er seinen eigenen Bewegungen nicht gewachsen. Plötzlich, als der Mann vor der Kasse stand, fasste er sich mit einer hastigen Geste an den Oberschenkel. Etwas Erschrockenes geisterte durch die Szene, und für einen Moment sah es so aus, als wenn er vor irgendetwas Angst zu haben. Dann entspannte er sich wieder, griff in die Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus. Das Ganze, einen Herzschlag lang dauernde Drama, war nur eine Unsicherheit gewesen, der Verdacht, das Geld vergessen zu haben und nun vor der Kassiererin stehen zu müssen, ohne bezahlen zu können. Paul sah die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes und die Hand, wie sie beim Abzählen des Geldes zitterte.

Jetzt kratzte Paul mit seinen Fingernägeln auf dessen Kühlerhaube. Es klang wie das Kreischen von Kreide auf einer Schiefertafel. Auch diese martialische Störung der morgendlichen Einheitsgeräusche konnte den Mann hinter dem Lenkrad nicht davon abhalten, weiter vor sich hinzustarren, und den Stimmen aus seinem Autoradio zu lauschen.

Paul legte sich mit dem Rücken auf die Kühlerhaube. Arme und Beine von sich gestreckt, verharrte er in dieser Demutsgebärde. Der Mann blickte durch das Wagenfenster und sah vor sich über der Stadt den roten Ball der Sonne aufgehen. Sie tauchte die Autoschlange in ein rosafarbenes Licht. Zum ersten Mal in diesem Februar begann der Morgen mit einem glasklaren von der Sonne geblendeten Himmel. Paul rieb sich die Augen. Der Wagen vor ihm setzte sich in Bewegung, und sie rollten gemeinsam auf die nächste Ampel zu.

Stachel im Fleisch

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