Читать книгу Stachel im Fleisch - Rolf Dermietzel - Страница 14
Kapitel 11
Оглавлениеschminkstifte und andere utensilien/ im fahrstuhl von schattenbildern verfolgt/ jonas/ in der not seines körpers gefangen/ ein flagellant am abgrund/ amen und kein ende/ viel mehr zu sagen als sprachlos zu sein/
Paul verließ sein Arbeitszimmer, nachdem er die Anfor-derungskarten mit den Anfragen nach Sonderdrucken seiner Publikationen sortiert hatte, um mit dem Fahrstuhl in den Keller zu fahren. Für das kommende Wintersemester musste er den Sektionskurs organisieren. Alex hatte ihm Schminkstifte besorgt, mit denen er die Linien für die Hautschnitte auf den Leichen vorzeichnen wollte. Einige Male hatte er es mit wasserlöslichen und wasserunlöslichen Filzschreibern probiert. Die wasserlöslichen lösten sich innerhalb weniger Stunden von der Haut ab, da die Leichen ständig mit feuchten Tüchern vor dem Austrocknen geschützt werden mussten. Die unlöslichen wurden von der Haut erst gar nicht angenommen.
»Schminkstifte natürlich«, war Alex’ Antwort gewesen, als sich Paul Hilfe suchend an ihn gewandt hatte. Er bat Alex, ihm einen Satz Schminkstifte zum Austesten mitzubringen. In seinem Hang zum Dekorativen hatte Alex auf der Suche nach hautverträglichen Farben, die er unverfänglich in größeren Mengen einkaufen konnte, ohne als Tunte verkannt zu werden, sämtliche Dekorationsgeschäfte der Stadt aufgesucht. Direkt gegenüber dem Stadttheater war er fündig geworden. Neben zentnerschweren Rollen von Wachstüchern, Weihnachtssternen und Regalen voller Pappbögen, Körben mit Plastikobst und Lebensmittelimitaten, von der angeschnittenen Blutwurst bis zum naturecht aussehenden Hamburger, hatte er ein Kabinett entdeckt, das die herrlichsten Schminkstifte in allen Farben der Jahreszeiten beherbergte. Paul händigte er nur die roten und blauen Stifte aus. Sich selbst versorgte er mit einer ganzen Sammlung von Schachteln, wovon jede einzelne jeweils die unterschiedlichsten Nuancen eines Farbtones enthielt. In Mußestunden pflegte sich Alex abends vor den Spiegel seines Badezimmers zu stellen und die Stifte der Reihe nach auszuprobieren. Dann legte er auf die Augenlider einen schweren blauen Nachtschattenton und bemalte die Wangen mit einem tiefen Scharlachrot, so dass sie die Farbe der aufgehenden Sonne annahmen. Paul hatte er die Stifte mit der Bemerkung überreicht, es sei den Kadavern wohl egal, ob sie die Wangen eines fiebrigen Romeos zum Erglühen bringen würden oder auf der kalten Haut einer früh verstorbenen Julia die Schnittlinien für die Skalpelle der Studenten markierten. Damit hatte er wohl auf die Lage des Ladens gegenüber dem Schauspielhaus anspielen und die Zweckentfremdung der Schminkstifte ironisch kommentieren wollen. Paul musste beim Gedanken an Alex‘ Bemerkung lächeln. Nur Romeo und Julia dieses tragische, ultimative Liebespaar brachten seine Gedanken wieder auf den armen Metchnikoff zurück. Der verliebte sich kurz nach Ludmillas Tod, nachdem er nach Odessa zurückgekehrt war, und heiratete bald darauf die fast fünfzehn Jahre jüngere Olga. Beinahe noch ein Teenager, mit einer robusten Konstitution versehen, bemühte sie sich, den gemütslabilen Mann in Zeiten seiner Krisen zu stützen. Aber auch Olga konnte aus ihm keinen neuen Menschen machen. Sechs Jahre nach ihrer Heirat, in einer desperaten Verfassung, überarbeitet, müde, hypochondrisch auf eine Herzkrankheit fixiert, unternahm er seinen zweiten Selbstmordversuch.
Im Fahrstuhl erinnerte sich Paul an einen ähnlichen Zustand, zehn Jahre zuvor, als sein Sohn gestorben war:
Noch entziehen sich die Bilder seinem rückwärtsgewandten Blick. Doch als der Fahrstuhl mit einem Ruck nach unten beschleunigt, ist plötzlich auch das Gefühl großen Unglücks gegenwärtig. Es hat sich in seinem Inneren freigemacht wie die Silhouette des Mondes, die hinter einer dunklen Wolke auftaucht. Zum Glück ist er allein im Fahrstuhl, und niemand kann sein Gesicht sehen, das sich als fahle Erscheinung in der verchromten Fahrstuhltür widerspiegelt. In diesen wenigen Sekunden, in denen er zwischen dem sechsten Stockwerk des Institutsgebäudes und dem Kellergeschoss schwebt, durchlebt er das ganze damalige Elend von neuem. Jede Episode des wenige Stunden dauernden Dramas ist von einer Galerie von Standbildern begleitet, die zwischen den Stockwerken wechseln, und in die einzelnen Bilder sind Gefühle eingraviert, die die Konturen seiner Erinnerungen schmerzhaft nachzeichnen. Während die Gestalten und Figuren unscharf bleiben, erkennt er immer wieder sich selbst inmitten einer wuchernden Hoffnungslosigkeit, die ihm die Sprache genommen und zur stummen Selbstvergessenheit getrieben hatte.
Jonas war gerade sieben Jahre alt geworden. Seine Züge trugen die unwirkliche Blässe eines sensiblen, leidensfähigen Kindes. Barbara liebte ihn mit einer im letzten Jahr zunehmenden Besorgnis, als hege sie den Verdacht, dass diese Liebe nur von vorübergehender Dauer sein könne. Jedes kleine Manöver des Ausweichens und Freimachens von Jonas’ Seite beantwortete sie mit erhöhter Zuneigung und vermehrten Liebesbeweisen.
Katharina und Jonas waren anderthalb Jahre auseinander, doch der ältere Bruder umsorgte die Schwester mit einer fast erwachsenen Fürsorge. Paul nahm all dies nicht wahr. Wie oft hatte er später versucht, die Bruchstücke seiner Erinnerungen zu rekonstruieren. Aber sein gut geschultes Gedächtnis versagte an dieser Stelle. Immer wieder hatte er sich bei seinen Bemühungen in einem Gefühl von Schuldhaftigkeit verstrickt gefühlt, das ihm nicht erlaubte, mit seiner Trauer frei umzugehen. Vielmehr suchte er nach den Momenten der Verfehlungen, dort, wo er glaubte, Jonas unrecht getan zu haben; ein ungerechter Schlag hinter die Ohren, eine zu krasse Strafe, ein zu scharfes Wort, Gleichgültigkeit bei seinen Nöten, bis hin zur Missachtung von Bedürfnissen. All die kleinen Unterlassungen und Fehler, die in einer normalen Entwicklung als verzeihliche Schwächen hätten ausgelebt werden können, nahmen nach seinem Tod die Dimensionen von nicht wieder gut zu machenden Verfehlungen an. Da Paul sich selbst nicht um Verzeihung bitten konnte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als allmählich zu verstummen. Er hatte darauf gehofft, dass das Ganze vernarben würde. Warum ausgerechnet jetzt im Fahrstuhl, bei der Beschleunigung Keller Warts, der ganze Bodensatz seines Elends wieder hochgespült wird, kann er nicht sagen. Vielleicht hat es mit dem anstehenden Gang in den Leichenkeller zu tun, vielleicht ist es auch nur dieses vage Schwindelgefühl im Magen, das seine Wachsamkeit dämpft und ihn den alten Gefühlen ausliefert.
Kurz nach seinem achten Geburtstag hatte Jonas mitten in der Grippezeit des Frühjahres hohes Fieber bekommen. Bei zwei Kindern in diesem Alter war dies ein Alltagsereignis. Paul tat es als normalen Infekt ab. Die halbe Schulklasse war krank. Nun hatte es auch Jonas erwischt.
Paul war zu sehr mit sich und seinen beruflichen Ambitionen beschäftigt. So nahm er auch nicht Barbaras Besorgnis wahr, die auf das anhaltende Fieber, das sich nicht durch fiebersenkende Mittel beeinflussen ließ, mit großer Unruhe reagierte. Barbara vertraute Paul und seinem medizinischen Wissen. Er machte Wadenwickel, und sie maß stündlich die Temperatur. Es herrschte eine großes Einvernehmen zwischen beiden in dieser Nacht. Ein gegenseitiges Vertrauen, dass jeder das Richtige tun würde. Wie sehr hatte er dieses Vertrauen missbraucht. Er hätte eher reagieren müssen, eher nach Zeichen auf Jonas Leib suchen sollen, die über den Fieberschweiß und die Wärme eines grippalen Infektes hinausgingen. Als es am nächsten Morgen hell wurde, und sie sein von blutroten Flecken übersätes Gesicht sahen, versuchte er immer noch in der nun auch ihn überkommenden Unruhe, das Ganze zu bagatellisieren. »Es werden die Masern sein. Gibt eine blutige Form von Masern.« Barbara drängte ihn zu telefonieren, und sie benachrichtigten die Kinderklinik. Paul wusste später nicht, ob sein Zögern Hartnäckigkeit gewesen war, Bequemlichkeit oder die Angst vor etwas Schlimmerem, das zu denken er sich nicht hatte eingestehen wollen. Er hatte in einem entscheidenden Moment versagt. Was übrig blieb, war der reibende Schmerz einer unausgesprochenen Schuld, mit der er versuchte, auf heimliche Weise fertig zu werden. Immer wieder riss er an der Wunde, die nicht ausheilen wollte, wie ein Flagellant, der sich fortwährend selbst Schmerz zufügt, um sein eigenes Schicksal zu begreifen. Barbara fuhr mit dem Krankenwagen voraus. Paul folgte ihr. Beunruhigt durch das Blaulicht, das seinem Sohn galt, der offenbar in Gefahr war, vor der er ihn nicht beschützen konnte. Aber woher war diese Gefahr gekommen? Wie hatte sie sich materialisiert? In Form von ein paar Viren, Bakterien, die dieses geliebte Kind umzubringen drohten? Was tat Barbara in dieser Zeit? Hielt sie seine Hand? Tröstete sie ihn? Warum saß er in seinem Auto und fuhr hinterher, als wenn er nicht dazu gehörte?
Manchmal hatte er ihn Jonathan genannt, wenn er ihn als gleichberechtigten, männlichen Partner gegenüber Barbara aufbauen wollte. Die Ampel schaltete auf Rot, und der Krankenwagen entschwand aus seinem Blickfeld. Die Rotphase dauerte eine Unendlichkeit. Er kam verspätet in der Klinik an. »Es wird alles nicht so schlimm sein. Jonathan, wir werden es schaffen! «
Woher nahm er die Hoffnung? War es Ignoranz oder das sorgenvolle Gesicht von Barbara, die ihm entgegenkam, hilflos und fragend. Schließlich hatte er die Kompetenz zu erkennen und Trost auszusprechen.
»Sprich endlich, Paul! « Barbara blickte ihn an.
Er fragt sich in der Erinnerung ihren Gesichtsausdruck ab. Doch der blieb unscharf, ohne Bezug zur durchlittenen Situation. Der diensthabende Arzt nahm ihn beiseite. »Es steht schlecht um ihren Sohn. Er hat das Bewusstsein verloren und schockt. Wir versuchen, ihn da rauszuholen.« Paul zeigte nur Unverständnis. Hatte er nicht gerade noch mit Jonas gesprochen? Hatte er ihm nicht gerade noch Mut zugesprochen? »Es ist alles nicht so schlimm, nur eine blöde Grippe, zwar heftiger als sonst, aber in ein paar Tagen bist du wieder zu Hause«, hatte er ihn getröstet, bevor sie losgefahren waren
»Zu Hause, zu Hause? « Hallt es in Pauls Ohr.
Aber wo war Jonathan zu Hause? Er war in der Not seines Körpers versunken. Die Augen geschlossen, erkannte er niemanden mehr. Sein Atem ging schwer und seine Haut war von großflächigen Blutungen übersät. Das Blut stockte in den Gefäßen und gerann in den feinen Kapillaren, bis der Weg in die Organe verstopft war. Ein Septischer Schock hatte sich entwickelt. Die Abwehrmechanismen des Körpers, die darauf abzielen, die eingedrungenen Bakterien zu eliminieren, waren über ihr Ziel hinausgeschossen. Nicht freiwillig. Was wussten sie denn von der individuellen Angst dieses Kindes, den hilflosen Blicken Barbaras und der Verzweiflung eines Mannes namens Paul Dehmel, der sich schuldhaft verstrickt sah im verzweifelten Kampf seines Sohnes. Er konnte nicht Einhalt gebieten, indem er Jonas Hand nahm und sie umklammerte, um seine Kraft auf ihn zu übertragen, in der Hoffnung das Unheil abwenden zu können. Dieser kleine Mensch, diese gerade aufkeimende Person, deren Geburtstagslachen noch in seinen Ohren klang, lag da, hilflos der Wucht seiner körperlichen Reaktionen ausgeliefert. Da konnte Paul nicht schlichtend eingreifen. Da gab es keinen aufzuschiebenden Kompromiss, wie sie ihn manchmal geschlossen hatten, wenn sie sich im Streit nicht einigen konnten. Da blieb Paul nichts anderes übrig, als ihn sterben zu sehen. Auch die hohen Dosen von Penicillin, die sie in seinen Körper pumpten, die Eispackungen, mit denen sie ihn einmauerten, um die Temperatur auf ein verträgliches Maß herunterzudrücken, halfen nichts. Auf unheilvolle Weise war, die sonst so wohl geordnete Balance der Körperfunktionen aus dem Gleichgewicht geraten. Das Blut und die Temperatur, der Herzschlag und die Atmung hatten sich selbständig gemacht. Wenn Paul einige Jahre später die wissenschaftlichen Artikel zur Behandlung von septischen Schocks las, und deren Heilungschancen bei frühzeitiger Behandlung, dann krümmte sich in ihm die Trauer um den Tod seines Sohnes von Neuem zusammen.
Er, Jonathan, der ihm genommen worden war, gerade in dem Moment, wo Paul begann, ihn zu lieben, hatte einen Weg gehen müssen, der ihm selbst noch bevorstand. In manchen Momenten war das ein Trost für ihn, der aber schnell wieder aufgezehrt wurde von dem nagenden Zweifel an seiner Zuverlässigkeit.
Vor seiner Agonie war Jonas noch einmal ruhig geworden. Die Hektik im Krankenzimmer hatte nachgelassen in Erwartung des Todes. Der diensthabende Oberarzt und die Krankenschwestern hatten sich zurückgezogen. Barbara beruhigte die Stille, die über das Gesicht ihres Sohnes zog, und sie schöpfte Hoffnung, da sie glaubte, die Ruhe sei ein Zeichen der Besserung. Sie verließ den Raum, und Paul blieb mit Jonas allein zurück. Paul trug ein Pfeffer und Salz Jackett, ein blaues Oberhemd ohne Schlips und eine dunkelblaue Cordhose. Eine Alltagserscheinung. Wäre er in diesem Moment über die Straße gegangen, niemand hätte sich nach ihm umgesehen oder ihm angemerkt, dass sich hinter der Fassade der Normalität eine große Verzweiflung verbarg, die dabei war, diesem Mann das Herz zu zerdrücken. Umdrehung für Umdrehung wie in der Zwinge eines Schraubstockes eingespannt. Niemand hätte geahnt, dass er die gerade noch heiße Hand seines Sohnes hatte erkalten gespürt, nachdem dieser mit einem tiefen Seufzer den Qualen seines Körpers ein Ende gesetzt hatte. Den Rest seines Blutes, das in den Körperhöhlen versackt war, erbrach Jonas in einer letzten Hinwendung zu seinem Vater, dem nichts anderes zu tun übrigblieb, als ihm das verklebte Gesicht mit ein paar herumliegenden Mullkompressen zu reinigen. Schließlich faltete Paul die Hände und sprach in die Stille ein paar Sätze des >Vaterunsers, < von dem er in diesem Moment nicht mehr den Anfang noch das Ende wusste, nur das >Amen< und …. >vergib mir meine Schuld<.
Der Aufzug ist im Kellergeschoss angekommen. Paul wartet fast so lange, bis die Tür sich wieder schließt. Er steckt im letzten Augenblick seine Hand in die Lichtschranke und begibt sich nach draußen.