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Kapitel 2

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bilder hinter den bildern/ rückzugsgefechte/ unangemeldet/ am hellichten tag/ der erinnerung ausgesetzt/

Wenn Paul eine Eigenschaft neben all den Mittelmäßigkeit, die ihn umgarnten, besaß, dann war es ein akribisches Gedächtnis für bildliche Eindrücke und Farben. Es wäre übertrieben, dies eine Begabung zu nennen, auch wenn er immer wieder seine Mitmenschen damit verblüffte, dass er sich lang zurückliegende, bildhafte Vorgänge mit geradezu fotografischer Genauigkeit willkürlich in Erinnerung rufen konnte. Eine Fähigkeit, die er wie einen verborgenen Schatz hütete, ohne darauf großartig aufmerksam zu machen. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass er auch Kapital aus seinen Fähigkeiten zu schlagen verstand. Das Blättern im Bilderarchiv seiner Vergangenheit verhalf ihm, ein lichtes Maß an Kontinuität in seine Biographie zu bringen, ohne die er sich in dem Getümmel von Ereignissen, die sein Leben heimsuchen werden, rettungslos verloren gefühlt hätte. Man kann sagen, dass die Sonne der Erinnerung über ihm nie unterging. So konnte er sich in Krisenzeiten in einen Schattenwinkel zurückziehen und Seite für Seite die Eintragungen seiner Vergangenheit im Schein der Erinnerungen betrachten, was ihm in der Regel ermöglichte, ein besseres Verständnis für die Gegenwart zu gewinnen. Während er diesen Mechanismus bisher ohne Verletzungen überstanden hatte, mehrten sich seit seinem Entschluss, die Reise anzutreten, die Zwischenfälle. Immer wieder kam ihm die Möglichkeit des friedvollen Betrachtens abhanden, und er fühlte sich ungeschützt den Gefühlen ausgesetzt, die die Bilder begleiteten. Schmerzhaft gebärdeten sie sich und hinterließen in ihm Spuren tiefer Erschütterung. Mehr noch, sie begannen ihr Eigenleben zu führen, ließen sich nicht mehr ohne weiteres abstellen und verfolgten ihn bis in die Traumstunden hinein. Ja, ihre Selbständigkeit ging soweit, dass sie unangemeldet am helllichten Tag verrückt spielten, und es Paul immer schwerer fiel, zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Erinnertem und der Gegenwart zu unterscheiden. So führte er ein merkwürdiges Doppelleben, in dem sich Gestern und Heute, Phantasie und Realität zu einem untrennbaren Gewebe verwoben. Es musste etwas mit seiner bevorstehenden Reise zu tun haben.

Stachel im Fleisch

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