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Kapitel 10

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fresszellen in den molekularen verästelungen/ küsse im dreivierteltakt/ korsettagen bis zum geht nicht mehr/ vielleicht die sternen konstellation/ von anfang an schon am ende/ liebstes in den sternen/ die sehnsüchtigen umarmungen/ ludmilla so weiß wie schnee/

Paul setzte sich in der letzten Zeit intensiv mit den Zellen auseinander, deren Aufgabe es ist, die Abräumarbeiten im Körper zu verrichten. Diese Fresszellen (Makrophage) faszinierten ihn schon seit seinem Studium. Er empfand es als geniale Erfindung der Evolution, dass nicht nur für das Funktionieren der biologischen Vorgänge Sorge getragen wurde, in all ihren feinsten molekularen Verästelungen, sondern dass auch der Schuldfall mit einkalkuliert worden war. Der Tribut, der für die Komplexität bezahlt werden musste. Die täglichen Entgleisungen der Maschinerie, der latente Störfall, der entweder zu einem harmlosen Betriebsunfall führen oder aber zu tödlichen Zwischenfällen ausarten konnte.

»Einen Teil, der für die Aufräumarbeiten im Störfall notwendigen Kontrollfunktionen, übernehmen die Fresszellen. Sie sind fähig, eingedrungene Mikroben und Fremdkörper zu erkennen, an ihren Zell Leib zu binden, sie zu umarmen und schließlich zu verdauen. Wachhunde der Immunabwehr«, so pflegte Paul zu dozieren.

»Fremde Eiweiße spüren sie auf, verleiben sich die Brocken stückweise ein und zerlegen sie in appetitliche Bruchstücke, die sie dann den Lymphozyten zur weiteren Bearbeitung anbieten.« Pauls ansonsten trockene Lehr-Sprache bekam jedes Mal einen poetischen Glanz, wenn er über sein Lieblingsthema referierte.

»Sie machen sich über wild gewordene, körpereigene Zellen her, wenn sie zu Tumorzellen entarten und verhindern so in der Regel die große Katastrophe eines ungehemmten Wachstums. Ja, ihnen wird nachgesagt, dass ihre Befindlichkeit den Gemütsschwankungen ihrer Träger folgt, wobei sie besonders empfindlich auf Stress und schlechte Laune reagieren.«

Paul war bereit, jedem Zuhörer, der sich bereitwillig anbot, alle Details über diese nützlichen Vielfraße zu erläutern. Es war weniger ihre orale Potenz, die ihn zu faszinieren schien, sondern die Geschichte ihrer Entdeckung und der Mann, der dahinterstand. Früher oder später landete er während seiner Exkursionen über die Makrophagen bei dem russischen Zoologen Metchnikoff, und man konnte Paul anmerken, dass er sich nicht nur mit dessen wissenschaftlichem Werk, sondern auch mit seiner Biographie zu identifizieren schien.

»Elie Metchnikoff……« Pause.

Wenn Paul den Namen erwähnte, dann hob er mit dem »Elie…. « an, als wollte er ein chassidisches Klagelied anstimmen. »Sohn eines christlichen Gutsherrn und einer jüdischen Mutter war ein sensibles und intellektuelles Kind. Eine gewisse morbide Hinfälligkeit hatte er offenbar von der Mutter geerbt, die den Sohn in seiner Entwicklung mit Wohlwollen und Respekt betrachtete. Als der sich entschloss, Medizin zu studieren, riet sie ihm von diesem Berufswunsch ab. Sie meinte, ihr Elie sei zu sensibel für diese Profession. Wer die Willensstärke jüdischer Mütter kennt, wird nicht verwundert sein, dass sich der Sohn ihrem Wunsch fügte.

Der Siebzehnjährige beschloss daraufhin, Zoologie zu studieren. Sein Herzenswunsch war es, nach Deutschland zu gehen. Seine Wahl fiel auf Würzburg. Die Immatrikulation scheiterte aber an einer terminlichen Unzulänglichkeit. Das Semester begann statt Anfang September erst in der ersten Oktober Woche, und da die Studenten Kanzlei geschlossen hatte, konnte er sich nicht immatrikulieren. So irrte Elie durch die freundlichen, aber für einen Siebzehnjährigen, der aus der ländlichen Region des mittelrussischen Panaskova angereist war, abweisenden Straßenzüge der unterfränkischen Universitätsstadt. Mochte er sich auch vor dem altehrwürdigen Gemäuer des Julius-Spitals gefragt haben, ob er seinen Entschluss, nicht Medizin zu studieren, revidieren sollte, so hatte er keine Chance, dies rückgängig zu machen. Er fuhr frustriert nach Russland zurück und begann mit seinen zoologischen Studien in Kharkov, wo er innerhalb von zwei Jahren sein Studium erfolgreich abschloss. Er war ein »Shooting Star« in dieser Provinzuniversität. Mit der Sehnsucht nach Größerem im Herzen und der unruhigen Seele eines jüdischen Jünglings, dem sich die wissenschaftliche Welt eröffnen sollte, kehrte er nach Deutschland zurück, das damals als Hochburg der medizinischen und biologischen Wissenschaften galt. Er fand einen Mentor in dem zu seiner Zeit berühmten Parasitologen namens Leuckart. Metchnikoff studierte unter Leuckart das wechselvolle Liebesleben des Spulwurmes Ascaris nigrovenosa mit Akribie und Erfolg. Zur damaligen Zeit,« merkte Paul an, »war es noch möglich, ganze Lebens- und Entwicklungszyklen neu zu entdecken, und sie als Teil eines universellen Schöpfungsplanes zu begreifen. Doch Eifersüchteleien und Eitelkeiten waren schon immer fleißige Gefolgschaften der Wissenschaften. In ihrer Vermessenheit hielten sie mit den Erkenntnisdurchbrüchen der Zeit Schritt. Elies wissenschaftlicher Ziehvater veröffentlichte die Ergebnisse unter seinem Namen, ohne Metchnikoffs Anteil angemessen zu würdigen. Daraufhin kehrte er enttäuscht und angewidert von Deutschland nach Russland zurück.«

So weit, so gut.

Paul sortierte die Anforderungskarten für einen Sonderdruck seiner letzten Publikation über: »Das Wanderungsverhalten von Makrophagen im zentralen Nervensystem« nach den Anfangsbuchstaben der Absender und legt sie zu der Ausgangspost.

Eine Metchnikoff Karriere zu erreichen, das wusste er, war ihm nicht vergönnt. Die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt galt es, mit ausgeklügelten biochemischen und molekular-biologischen Methoden das Wechselspiel zwischen den Makrophagen und den Gefäßwänden, zwischen Makrophagen und ihren Zielzellen, zwischen Makrophagen untereinander und zwischen ihnen und den aufmüpfigen Mikroben zu studieren. Um ein Star zu werden, musste man in den Boxring der modernen Zell- und Molekularbiologie steigen und seine vermeintlichen Siege in den Wochenmagazinen wie Nature und Science publizieren. Er beherrschte nicht die ausgefeilten Methoden, die notwendig waren, um den Finger an den Pulsschlag des galoppierenden Erkenntnisdranges zu legen. Beruhigend war für ihn, dass auch Metchnikoff den späten Ruhm seiner potenten Zellen nicht mehr selbst hatte erleben können.

»Elie verlebte einige wissenschaftliche Wanderjahre zwischen Neapel, Odessa und Petersburg, bis er schließlich müde des Reisens und vom harten Winter in Petersburg gezeichnet, schwer erkrankte. Ludmilla Fedorovitch pflegte ihn gesund, und er wusste nicht, ob es Liebe oder Dankbarkeit war oder die Müdigkeit und Verzweiflung über sein einsames Leben, die ihn veranlassten, sie zu heiraten. Vielleicht lag es auch nur an der Halbherzigkeit seines Entschlusses oder an einer ungünstigen Konstellation der Sterne. Es war ihm nicht vergönnt, sein Glück mit Ludmilla zu finden. Sie erkrankte noch vor der Hochzeit an Tuberkulose. Zu schwach zum Laufen musste sie zur Kirche getragen werden. Metchnikoff war fünfundzwanzig Jahre alt.«

Immer wenn Paul das Leben dieses Mannes betrachtete, das seine zweite Frau Olga in Form einer Biographie, deren blauer Rücken eines seiner Zeichen im Bücherregal war, in liebevoller Weise nachgezeichnet hatte, wunderte er sich über die Hast des Schicksals. Den jungen Menschen der damaligen Zeit, die gerade einmal etwas mehr als hundert Jahre vorbei war, schien es offenbar nicht vergönnt gewesen zu sein, sich in Ruhe zu finden und heranzureifen. Wie wenn das Leben auf einen kurzen Zeitraum komprimiert, alle Varianten des Glücks und des Leids in kurzer Folge abhaken musste, kam Paul das Stakkato von Schicksalsschlägen vor, die Elie trafen. Er fragte sich oft, ob die Menschen damals eine andere Sensibilität besessen haben; größere Reserven des Erduldens und Erleidens oder auch nur einen betäubenden Gleichmut gegenüber dem Unabwendbaren, der ihnen beim Überleben hilfreich war.

Metchnikoffs Schicksal belehrte ihn eines Besseren und machte Paul zu seinem heimlichen Verbündeten.

»Mit seiner kranken Frau zog Elie nach Spezzia in Italien. Ein Jahr später ging er zurück nach Odessa und nahm hier die Position eines Professors an. Ludmilla war zu krank, um ihrem Mann eine Absage zu erteilen. Sie ging mit ihm nach Russland zurück. Von der italienischen Sonne hatten sie sich Heilung erhofft, hatten darauf erwartet, dass das ständige Hüsteln und die Schmerzen beim Durchatmen aufhören würden. Vergeblich, denn Ludmillas Leiden verstärkte sich noch unter dem rauen Klima Odessas, und die Tuberkulose blühte endgültig auf. Das Paar reiste daraufhin noch einmal mit letzten Hoffnungen in den Süden Europas, nach Madeira, denn es war die Rede, dass das milde Inselklima Wunderheilungen bei Tuberkulose-Kranken vollbringen könnte. Die Hoffnungen waren umsonst. Der Zustand von Ludmilla verschlechterte sich von Tag zu Tag. Schließlich starb sie, nachdem sie gerade vier Jahre verheiratet waren, im April 1873. «

Wo blieb in einem solchen Leben Zeit für Routine, für die morgendlichen Abnabelungsrituale am gemeinsamen Frühstückstisch, die murrenden Hilfestellungen bei gemeinschaftlichen Alltagsverrichtungen? Entweder war der Umgang formal legitimiert. Liebe durch die gesellschaftlichen Konventionen zu einem höflichen Nebeneinander bereinigt, oder hinter diesen brambäsigen Bärten und geschnür-ten Korsetten steckte doch mehr als nur das höfliche »Mein Herr Gemahl …. « und »meine Frau Gemahlin …. «. Vielleicht gab es auch damals nichts anderes als die Sehnsucht nach der großen Erlösung, die imstande sein sollte, jeden Aufmüpfigen mit der Verheißung in Schach zu halten, dass eines Tages das unvermeidliche Glück einkehren würde? Im stillen Glanz einer innigen Umarmung und der unwiderlegbaren Versicherung, dass dieser eine Moment für immer wäre?

»Nach dem Tod von Ludmilla ging Elie nach Genf, wo sein Bruder lebte. Die heitere Atmosphäre der Stadt am See mit ihren weiten Parks und den noblen Villen, die sich wie gebleichte Perlschnüre am Ufer des Sees entlang reihten, half ihm nicht aus seiner Verzweiflung. Was sollte er schon tun zwischen all dieser morbiden Heiterkeit und der zwanghaften Verspieltheit einer Zeit, die außer dem zulässigen Dekorativen nur eines erlaubte, Haltung zu bewahren oder sich zu vergessen. Elie nahm sich des Letzteren an. Er versuchte, sich mit Morphium umzubringen. Zum Glück für die Zukunft der Fresszellen hatte er aber, ob aus Unwissenheit oder Absicht ist nicht klar, die Dosis zu niedrig angesetzt. Schließlich war er kein Pharmakologe, und sein Umgang mit Giften beschränkte sich auf die wenigen Reagenzien, die er zum Fixieren seiner Tierchen brauchte. Er wachte nach einem langen, tiefen Morphin Schlaf, der ihn nur an den Rand des Todes geführt hatte, wieder auf. Es wird berichtet, dass ihn ein paar Fliegen, die sich ihre Flügel an einem aufgestellten Kerzenlicht verbrannt hatten, durch ihr jämmerliches Kreiseln auf der blank polierten Platte des Nachttisches in die Wirklichkeit des Lebens zurückgeholt hatten.«

Stachel im Fleisch

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