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Kapitel 6

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hohlgeleckte laugenbrezel/ madonna im/ strahlenkranz/ gebenedeite/ die unsterblichkeit des todes/ jo moi a schoiner toach/

Alex kaute genüsslich an seiner Brezel als sie den Bäckerladen verließen und murmelte zwischen zwei Bissen: »Ein Laugenbrezel mit frischer Butter ist das Sinnlichste, was sich ein Gaumen an solch einem Morgen vorstellen kann. Wölffler hat erst ab elf Uhr geöffnet. Es bleibt noch etwas Zeit. « Sie gingen zu einer nahen gelegenen Kapelle, die am Ortsausgang lag. Alex musste sich tief bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Sein massiger Körper füllte fast vollkommen die Türöffnung aus. Drei Stufen, von der Zeit hohlgeleckt wie hölzerne Brotmulden, führten in das Innere hinab. Dann standen sie unvermittelt in dem kleinen Kirchenschiff, das nur von einem gebrochenen Licht erhellt wurde. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen durch gelbe Bleiglasfenster und gaben dem Raum einen vergilbten Glanz, wie er auf alten Fotografien zu sehen ist. Zeitlos schienen hier der Morgen in die Abenddämmerung überzugehen, Tage und Nächte zu wechseln wie die gedämpften Atemzüge einer abseitigen Welt, die nur noch in den fernen an- und abschwellenden Straßengeräuschen gegenwärtig blieb. Für bajuwarische Verhältnisse wirkte das Innere der Kapelle verblüffend karg. Bis auf eine Madonna im Strahlenkranz, die über dem mit einem weißen Leinentuch bedeckten Altar hing, und deren Krone den einzigen Goldschmuck des Raumes ausmachte, fehlte jeglicher barocke Zierrat, den Paul immer als Ausdruck der satten, sinnesfreudigen Frömmigkeit dieses Landstriches empfunden hatte. Als wollte sich die Stille, die sie umgab, in einem langgezogenen Ton enthäuten, fiel in ihr Schweigen ein rhythmischer Gesang ein, den er als >Ave-Maria< erkannte, und der von den ersten Bankreihen herkam. Sechs alte Frauen saßen dort. Die Oberkörper ließen sie im Einklang mit der Gebetsformel schwingen. Sie hatten sich zu einem archaischen Chor zusammengefunden: »Maria, gebenedeite Mutter Gottes, gebenedeite, gebenedeite …«.

Die Worte hoben ab, schwebten über den dunklen Bänken und füllten den Raum im Rhythmus der pendelnden Körper aus, die Eins zu werden schienen im Gebet. Die physischen Grenzen ihrer faltigen Leiblichkeit waren aufgehoben, als hätten sie sich aufgelöst in dem alles umfassenden Gesang, der die gekalkten Wände, die Bleiglasfenster, die Mutter Gottes im Strahlenkranz und Paul und Alex umschlossen. »So könnten sie hinübergehen, und der Übergang wäre ein leiser Seufzer am Ende ihres >Ave-Maria< «, dachte Paul.

Er blieb mit Alex im Hintergrund der Kapelle stehen. Beide fürchteten mit jedem Schritt, die Heiligkeit des Augenblicks zu zerstören. Die Bannung, die sie umfing, hielt noch an, nachdem sie die Kapelle wieder verlassen hatten. Als habe es ihnen die Stimme verschlagen, schwiegen sie für eine Weile. Dann setzte Alex an: »Es klang wie das Surren meiner tibetanischen Gebetstrommel.« Paul versuchte, sich aus der Stimmung zu befreien und räusperte sich. »Du hast recht. Ich musste an die Unsterblichkeit des Todes denken.« Beide hatten das Gefühl, das Richtige mit den falschen Worten zu sagen. Als sie mit ihrem Wagen den Ort verließen und an der Kapelle vorbeifuhren, wurde gerade die Tür aufgestoßen, und eines der alten Weiber, das Kopftuch über den grauen Haaransatz geschoben, blinzelte rotgesichtig in die Sonne. »Jo, moi a schoiner Toach«, oder so etwas Ähnliches meinte Paul vernommen zu haben.

Stachel im Fleisch

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