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Kapitel 3
Оглавлениеhonigfarbene tage/ eine reise ist eine reise/ barbara lässt mich allein/ verlängerter familienausflug/ der alte freund wut/ kümmern/ verkümmern/ esau auf ballerinen füßen/ alex/ im schatten des allgäuers/ notwendigkeiten/ springerstiefel sind auch schuhwerk/ hypotheken voller aberglauben/ bärtiger samariter/
An diesem Abend suchte er die Ruhe unter dem Tisch. Er kauerte auf dem Steinboden, um den lang gestreckten Raum des Wohnzimmers aus halb geschlossenen Augenlidern heraus zu betrachten. Die Konturen der Möbel versanken im Halbdunkel. Als würde er sie mit den Augen eines Analphabeten mustern, der sich bemüht, die ersten Buchstaben sinnvoll aneinander zu reihen, wanderte sein Blick über die Gegenstände. Jedes Stück, im Bewusstsein es zurücklassen zu müssen, gewann seine Geschichte wieder, die auch seine eigene war. Für eine Weile verharrte er bei den Dingen und hoffte, dass sie ihn annehmen würden. Nichts schien ihm in diesem hellen Moment unbedeutend. Im Abschiednehmen erkannte er erst ihr eigentliches Wesen. Jetzt war er bereit, diese honigfarbene Inszenierung, wenn auch nur für eine Weile, wie er zu glauben meinte, zu verlassen.
Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die ganze Familie mitgehen würde. Er hatte sich den Auslandsaufenthalt wie einen verlängerten Familienausflug vorgestellt. Er wollte Barbara und Katharina die Augen öffnen, ihnen als Führer dienen; die Welt zeigen, wie sie sich ihm mitgeteilt hatte, auf seinen Kongressreisen: New York, San Franzisco, Los Angeles und immer wieder Kalifornien. Exotische Formeln von Ferne und städtischem Abenteuer.
Eines Morgens, er war im Begriff das Haus auf dem Weg zur Universität zu verlassen, hatte Barbara ihm mitgeteilt, dass sie nicht mitkommen würde. Knapp und lakonisch war ihre Bemerkung ausgefallen, verdeckt zwischen zwei Bissen in das Frühstücksbrötchen. Offenbar wollte sie ihre Unsicherheit verstecken. Er hatte nur dieses »Ich-komme-nicht-mit« in den Ohren, sah sich den Kaffee hastig austrinken, aufstehen und wortlos aus dem Haus gehen. Barbaras, ».... bleib doch hier, ich will dir das näher erklären«, hatte er nicht mehr gehört. Seine Ratlosigkeit war anrührend. Keine Spur von Widerstand. Eine stumme Hilflosigkeit, die sich noch nicht einmal als Faust in der Hosentasche artikulierte. Er erinnerte sich, den ganzen Tag in einer dumpfen Verzweiflung verbracht zu haben. Als er abends nach Hause kam, stand sein Entschluss fest. Er würde die Reise antreten. Ihn überfiel sogar ein gedämpfter Anflug von Wut, die sich in ein schlichtes Weghören steigerte, bei Barbaras Versuch, sich zu erklären: Er hätte sie nicht bei seinen Plänen zu dieser Reise zu Rate gezogen. Und im Übrigen müsste er auch auf den Familienrhythmus Rücksicht nehmen, womit sie wohl die Entwicklung von Katharina, den Schulwechsel und ihre eigenen Bedürfnisse meinte. Sie sei schließlich nicht sein Anhängsel, das er so einfach mitnehmen könne, wann und wohin er wolle. Es sei jetzt an der Zeit, da er konkrete Schritte unternehme, mal über seinen Stil nachzudenken. In seiner ganzen wohlgestalteten Behaglichkeit habe er wohl vergessen, dass sich auch noch andere Lebewesen in seinem Blickfeld umhertrieben. Bei dieser Bemerkung konnte er das Gefühl von Wut herauslassen. Er empfand dies wie die Rückkehr eines längst verschollenen Freundes. Paul hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. »Lebewesen, die sich in meinem Blick umhertreiben.« Die Spitze hatte ihn getroffen. »Mein Leben ist nichts anderes gewesen als ein Kümmern, ein Kümmern um das Wohlergehen der Kinder, um dein Wohlergehen. Schließlich nagen wir ja nicht am Hungertuch. Ich werde diese Reise für mich in Anspruch nehmen und notfalls auch alleine fahren. «
Barbaras Bemerkung von »…ein einziges Verkümmern«, hatte er nicht mehr wahrgenommen. Seine Wut, ihre Abweisung, die es ihm unmöglich machte, weiterzureden, hatte ihn die Treppe hinaufgetrieben. »Dein Fluchtweg«, rief sie ihm zu, »ist exakt einundzwanzig Stufen zu hoch.«
— Jetzt war das Haus leer. Barbara war zu einer Freundin gegangen. Seit Tagen hatten sie nicht mehr über seinen Entschluss gesprochen, den kommenden Sommer in den Vereinigten Staaten zu verbringen. Barbara empfand Pauls Verhalten eher als Bestätigung, dass sie recht habe, und sie glaubte, er würde sich wohl Gedanken über einen Rückzug machen. Paul hingegen blieb ruhig, weil er weitere Auseinandersetzungen vermeiden wollte. Es war nicht die Angst, den Kürzeren zu ziehen, die ihn verstummen ließ. Es war eine physische Notwendigkeit, die es ihm erleichterte, die Abschiedszeremonien zu überstehen.
Er lag zusammengerollt unter dem Tisch. Den Kopf flach, ohne Kissenunterstützung aufliegend, war ihm, wenn er mit dem linken Auge blinzelte, gerade ein Gesichtsfeld von der Decke bis zur Fußleiste der gegenüberliegenden Wand einsehbar. Öffnete er das rechte Auge, so sah er den steinernen Fußboden und den Allgäuer Schrank, in den er seine Stereoanlage eingebaut hatte. Durch abwechselndes Öffnen und Schließen der Augen ließ er die Bilder springen, bis er sich entschloss, für eine Weile das rechte Auge zu bevorzugen. Mit einer zielsicheren Bewegung der Augen, die an das Glattstreichen gestärkter Tuchkanten erinnerte, war er die Umrisse der ihm gegenüberliegenden Wand abgefahren.
Eine solche Perspektive hatte er sich immer gesucht, wenn er sein Bildarchiv mobilisierte. Er stand auf öffnete die Türen des Allgäuer Schranks. Die Stereoanlage war von Alex zusammengestellt worden, der technisch versierter war als er, und dem er in seiner Abwesenheit die Arbeitsgruppe überantworten wollte. Alex war ein Freund. Paul würde niemals behaupten, dass er sein Freund war. Er mochte ihn gern, gestand sich aber keine größere Nähe zu ihm ein als ein flüchtiges Schulterklopfen beim abendlichen Abschiednehmen außerhalb der Diensträume. Und doch traf es seinen Umgang mit den Mitarbeitern. In seiner freundlich zurückhaltenden Art mochten sie ihn, immer blieb jedoch ein Rest von Distanz, die Aura der Verletzbarkeit, wenn man ihm zu nahetrat. Seine Mitarbeiter respektierten dieses Vakuum, mit dem er seine Person umgab, und durch das er sich vor Übergriffen zu schützen versuchte.
Alex hatte auch den Allgäuer Schrank mit ihm in die Wohnung transportiert. Seine kräftige Statur vermittelte den oberflächlichen Eindruck eines gutmütigen Bernhardiners. Der rote Bart und das für den mächtigen Kopf etwas zu schüttere Haar, gaben ihm ein anthropoides Aussehen. Paul wusste, dass die Kraft, die Alex zu suggerieren pflegte, nur eine scheinbare war. Erstaunt hatte er einmal beobachtet, wie schmal Alex’ Füße und seine Sprunggelenke waren, als sie gemeinsam einen Badeausflug unternommen hatten. Alex hatte sie mit etwas zittrigen Fingern aus seinen Springerstiefeln gepellt, und als er die Socken herunterrollte, wurden ein paar Füße, die eher einer Ballerina zu gehören schienen, denn einem ausgewachsenen Mann von der Statur eines Esaus, sichtbar. Er brauchte offenbar das mächtige Schuhwerk, um die Haftung mit dem Boden nicht zu verlieren. Neben anderen exotischen Eigenschaften pflegte Alex den neurotischen Drang, seine Finger- und Fußnägel so lang wachsen zu lassen, dass sie ihm zum Hindernis wurden. Fasziniert erzählte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Geschichte eines türkischen Taxifahrers, dessen Nagel am linken kleinen Finger fast zehn Zentimeter lang und wie ein Korkenzieher gedreht war, und der behauptet hatte, ihn seit zehn Jahren nicht mehr geschnitten zu haben, und dass ihn seit dieser Zeit das Glück nicht mehr verlassen habe. Er würde besser auf ihn achtgeben als auf die Unschuld seiner Tochter. Und das bedeute für einen türkischen Vater schon eine ganze Menge. An dem Tag, wo der Nagel abbreche, würde er sich umbringen, hatte er Alex gegenüber geäußert. Vielleicht glaubte Alex auch an einen Zusammenhang zwischen Fingernägel Schneiden und Unglück. Seine Mutter, deren Madonnengesicht er immer in der linken Brusttasche trug, schien ihn jedenfalls mit einer kräftigen Hypothek an Aberglauben belastet zu haben. So durfte er niemals zwischen Weihnachten und Neujahr seine Unterhosen auf eine Wäscheleine hängen, weil sich sonst jemand aus dem engeren Familienkreis umbringen würde, und schwarzen Katzen ging er grundsätzlich aus dem Weg, egal aus welcher Richtung sie kamen. Alex‘ Fähigkeiten hilfreich zu sein, waren jedenfalls unübertroffen. Sie erschöpften sich nicht im Zusammenbau einer Stereoanlage. Er war ein universell verwendbarer, handwerklich versierter Samariter, was ihn Paul liebenswert machte. Es muss wohl an Paul selbst gelegen haben, dass er über eine tastende Herzlichkeit zu Alex nicht hinauskam.