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Kapitel 12

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pas de deux mit einem leichnam/ go go girls/ von nichts kommt nichts/ explosionsgefahr/ adebar in seiner trübnis/ andi/ die bilder bleiben aus/

Dann ging er durch die Waschräume, die vor dem Sektionssaal lagen. Spätestens nächste Woche würde er sich wieder durch die Studentenmenge drängeln, die in frühtrunkenem Lärm den kalt gekachelten Raum mit ihrer Lebendigkeit füllen würden. Mit einem Stoß seines Knies drückte Paul die Pendeltür auf, die zum Saal führte. Jedes Mal, wenn er diese Bewegung ausführte, überkam ihn die Phantasie, in einen Westernsaloon einzutreten. Er malte sich aus, dass die vor ihm in wohl geordneten Reihen aufgestellten Leichen volltrunkene Cowboys, ausgelaugte Goldsucher und von ihren Geschäften ermüdete Go-Go-Girls wären, die sich zum Schlaf hingelegt hätten. Es war eine Art automatisierter Beschwichtigungsreflex, mit dem es ihm gelang, für einen Moment der kalten Symmetrie des Todes zu entrinnen, die ihn in den nächsten Stunden umgeben würde.

— Der zweite Selbstmordversuch von Metchnikoff war eines Wissenschaftlers würdig. Er wollte seinen Tod als letztes Experiment inszenieren. Als Parasitologe war er bewandert im Zoo der tödlichen Mikroben. So injizierte er sich das Blut eines an Wechselfieber erkrankten Patienten. Sein Tod durch eine Infektion hätte der Familie das Stigma erspart, einen Selbstmörder unter sich zu haben, und in einer letzten Genugtuung hätte er zeigen können, dass die Erkrankung durch Blut übertragen werden kann, auch wenn er dies niemandem mehr hätte mitteilen können. Offenbar hatte sich Elie wiederum in der Dosis verschätzt, oder sein Immunsystem war stark genug, den Angriff der Borrellien abzuwehren. Er erkrankte zwar schwer, überstand jedoch die Infektion und konnte so eine präzise Beschreibung des Krankheitsverlaufes geben, der mit heftigsten Muskelschmerzen, anhaltenden Fieberschüben bis zum Delirium und Gelbsucht einhergeht. Letztendlich triumphierte bei ihm wieder einmal das Leben, und gab ihm die Chance, für die nächsten sechsunddreißig Jahre seine Neugier zu befriedigen. «

Wieder schlug ihm der beißende Geruch des Formalins entgegen. Er hatte einige Male versucht, die Präparatoren davon zu überzeugen, eine geringere Menge des Fixierungsmittels zu nehmen und dafür mehr Alkohol oder Phenol in die Lösung zu geben. Offenbar war ihm das nicht überzeugend genug gelungen. Das Phenol würde zwar weniger stark riechen, sei aber ebenso schädlich wie das Formalin, hatten die gemeint. Thymol sei schon bis zur Sättigung drin, und damit würde man nur den Pilzbefall verhindern. Zum Alkohol gaben sie keinen Kommentar ab. Paul hegte den Verdacht, dass sie den vergällten Alkohol lieber redestillierten und als Schnaps unter sich und das Volk brachten. Außerdem hatte Grünewaldt, ein altgedienter Präparator, dem eine alkoholgeschwängerte Nase wie ein grellroter Tumor im Gesicht wucherte, gemeint, eine höhere Alkoholkonzentration würde bei der nächstbesten Gelegenheit die ganze Anlage in die Luft sprengen. »Die Schutzschalter sind von dem Formalin so mitgenommen, dass es jetzt schon lebensgefährlich ist, die Kühlung an- und abzuschalten. Er betrete für seinen Teil aus Sicherheitsgründen die Halle sowieso nur noch mit dem Schutzhelm, um gegebenenfalls nicht von herumfliegenden Leichenteilen erschlagen zu werden. «

Auf einen solchen Zwischenfall wollte Paul verzichten, zumal Grünewaldt es sich nicht verkneifen konnte, die Folgen einer solchen Explosion näher auszumalen. Paul bestand deshalb nicht weiter darauf, die Alkoholkonzentration zu erhöhen und überließ somit generös einige hundert Liter Schnaps ihrem Schicksal in der hausgemachten Destillieranlage.

Tränenden Auges fügte er sich auch heute in sein Schicksal. Kam er in die Nähe der Leichen, stiegen ihm die beißenden Formalin Dämpfe in die Augen.

»Kaninchenzeit«, nannte er die vier Monate, in denen er vom winterlichen Grau umwölkt durchs Leben und den Präpariersaal stolperte, einem flügellahmen Adebar gleich auf der Suche nach der letzten davon hüpfenden Beute. Er schlug die Plastikplane vom ersten Leichnam zurück. Der Formalin Dunst hatte sich darunter angesammelt wie unter einer Käseglocke. Dann wickelte er die Leiche aus den feuchten Tüchern. Vor ihm lag mit dem Gesicht nach unten, dem Stahltisch zugewandt, die Nase plattgedrückt, der Körper eines etwa fünfzig Jahre alten Mannes mit einer untersetzten Statur. In seiner Agonie hatte er sich noch einmal gegen das unvermeidbare Ende angestemmt. Seine Arme und Beine waren bogenförmig durchgestreckt. Paul schätzte, dass der Mann vielleicht etwa vier Monate tot sein musste. Auf dem geschorenen Kopf waren wieder grauen Haarstoppeln zu sehen, die dem Schädel ein fast freundliches Aussehen verliehen. Als er mit seiner Hand über den Schädel fuhr, spürte er das Kratzen an seinem Gummihandschuh. Das Geräusch klang, als würde er einen aufgeblasenen Luftballon mit der unrasierten Wange streicheln.

»Werden sie niemals sentimental«, hatte sein Lehrer ihm in einer weinseligen Stunde während einer Weihnachtsfeier gesagt.

»Betrachten Sie jede Leiche, die ihnen aufgetischt wird, als Objekt. Das Schicksalhafte ist reduziert auf die Blechmarke am rechten Fußgelenk. Vergessen Sie das nie, ich kenne doch ihre Sensibilität. «

Paul hatte sich bei diesem Gespräch ertappt gefühlt. Natürlich spürte er auch bei seinem Mentor wie bei Alex mit seinen Schminkstiften und dem >Romeo und Julia< Vergleich die bis zur scheinbaren Kaltschnäuzigkeit reduzierte Betroffenheit.

Paul zog mit dem Schminkstift eine Linie vom Scheitel über den Nacken bis in die Höhe des siebten Dornfortsatzes. Dann führte er den Strich weiter nach links und rechts zum Schulterblatt, um das er einen schwungvollen Kringel malte. Er versuchte, den Knochenvorsprung über dem Schultergelenk durch das talgige Fett zu tasten. Dann setzte er die Linie an der Außenseite des Oberarmes und des Unterarmes bis zum kleinen Finger fort. Paul bewegte sich um den Leichnam mit ruhigen Bewegungen. Jedes Mal, wenn er zu einem neuen Linienzug ansetzte und ihn dann mit einer leichten Verbeugung vollendete, sah es aus, als wenn er einen pas de deux mit der Leiche tanzte.

Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht bemerkte, wie die Tür zum Vorraum mit den Kühlkammern geöffnet wurde. Grünewaldt kam herein und schob einen der stählernen Sektionstische vor sich her, auf dem offenbar ein Kind lag. Es war mit einem weißen Tuch bedeckt, das jedoch die Füße und Arme zu beiden Seiten frei ließ. Die Haut war von einem so durchscheinenden Weiß, dass sich die Venen abzeichneten wie das Krakeleé auf Wölfflers ausrangierten Leder Kanapees.

Der Daumen der linken Hand war abgespreizt. Seine Kuppe mit einem blauen Filzstift bemalt und in der Handfläche stand mit unbeholfener Kinderschrift ein Namenszug geschrieben. Paul blickte auf, als Grünewaldt den Tisch an ihm vorbeischob. Das weiße Leinentuch ließ den Umriss der kindlichen Gestalt erkennen. Wo der Kopf lag, zeichnete sich ein roter Blutfleck ab, der zu dem siechen Gelb der fixierten Leichen wie einmal aus einer anderen, belebten Welt wirkte. Darunter schimmerte das zarte Gesicht eines Jungen, dessen Haare einen Kranz um den Kopf formten. Grünewaldt bemerkte die Betroffenheit in Pauls Gesicht. »Wir präparieren keine Kinder,« sagte er. »Der ist nur aus der Rechtsmedizin herübergeschickt worden, weil denen die Kühlkammer kaputt gegangen ist. «

Paul fasste die Hand des Kindes, als wenn er sie wärmen wollte. Er öffnete die Handfläche und drehte sie zu sich. Dabei entdeckte er einen Namenszug, den der Junge offenbar noch vor seinem Tod mit einem Filzstift in seine Handfläche geschrieben hatte. ANDI stand da. Das große >D< mit dem Bauch zur falschen Seite und der i-Punkt in Form eines Herzens gemalt:

»Scheiße, hättest du nicht vorher Bescheid sagen können.« Grünewaldt merkte wie Pauls Stimme zitterte. »Es ist ein Unfall gewesen. Er ist direkt in ein Auto gelaufen«, dabei nahm Grünewaldt das Tuch vom Gesicht des Kindes.

Dessen Züge waren entspannt wie im Schlaf. Nur eine Blutspur, die vom Mundwinkel zum Kinn herunter führte, störte den Ausdruck von Frieden. Paul fühlte sich in den Aufzug zurückversetzt, den er vor einer halben Stunde verlassen hatte. Die Bilder blieben aus. Nur ein stechender Schmerz stieg in ihm hoch, der sich seiner Brust bemächtigte, den Kopf eroberte und sich in Tränen aufzulösen versuchte. Er schluckte den Schmerz so lange herunter, bis ihm der Kehlkopf zu bersten drohte. Die ganze Zeit hielt er den Schminkstift fest in der Hand. Als er die Hand wieder öffnete, war er geschmolzen und hatte einen großen, roten Fleck in der Innenfläche hinterlassen.

Stachel im Fleisch

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