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Kapitel 5

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stalinorgeln im kamin/ bolzenschussgeräte/ leukoria und der witte berg/ ein laib brot brechen/ das schmerzhafte lächeln des ernährers/ auf die nase kippen/

Paul war wohl vier Jahre alt, und es war ein Wasserburg-Tag. Frühe Sonne, die durch die Gitterstäbe fiel, auf seinem Weg die Lutherstraße hinunter zum Kindergarten. Jeden dritten Schatten musste er auslassen. Das war ein Befehl! Das war so beschlossen! Sonst würde etwas Schreckliches passieren! Mindestens tot sein, wäre die Folge, wenn er auch nur auf einen der Schatten treten würde. Hinter den Gitterstäben lag das städtische Gymnasium. Der Schulhof war noch in frühe Dämmerung getaucht. Der Ziegelsteinmauer am Ende des schmiedeeisernen Zaunes hatte eine Granate die steinerne Krone zerfetzt. Der Krieg war noch sehr nahe.

»Wenn du genau hinhörst, dann kannst du die Stalinorgeln jaulen hören«, hatte seine Großmutter ihm gesagt. Dabei meinte sie wohl den Wind im toten Kamin des Hauses. »Die zielen genau auf die Stickstoffwerke in Piesteritz, und wenn die getroffen werden, dann kracht es auch hier gewaltig.«

Manchmal war die Großmutter verwirrt, denn der Krieg war schon zwei Jahre vorbei, und was da draußen krachte, waren die Sprengsätze in den Bunkerresten, die von Zeit zu Zeit gezündet wurden, um die dicksten Brocken aus dem Weg zu räumen. Platt hatten sie den Bunker hinter dem Augusteum auf den Rasen gesetzt. Als sei ihm die Luft ausgegangen, lag der Betonklotz des ehemaligen Stadtbunkers, die gewaltigen Betonplatten von sich gestreckt, auf der Erde. Für Jahre wurde er zum Witten Berg, zwischen dem elbnahen Anger und der Leukorea, einst der Stolz deutscher Universitäten. Die Turnhalle hinter dem Schulhof war von einer Fliegerbombe getroffen worden. Durch ihr Dach konnte Paul den Himmel sehen. Dort, wo einmal die Ringe zum Turnen befestigt waren, klaffte ein Loch, und Schwalben fanden ihren Weg im blitzschnellen Flug zur nächsten Wand. Zwischen den Sprossenleitern hatten sie ihre Nester geklebt.

Ein modriger Geruch hing in der Halle. Eine Mischung aus feuchtem Kalk und schimmeligen Wänden. Statt Barren und Pferd und den Sprungkästen standen Kisten voller alter Schulhefte und Klassenbücher im Geräteraum. Eilig hatte man sie hierhergeschafft, die schweißtreibenden Utensilien, die ein Gymnasium produziert, und achtlos in die Ecke gestellt. Viele der Hefte lagen auf dem Fußboden zerstreut, der einmal mit massivem Stabparkett belegt war. Die Parkettstäbe waren längst verfeuert. Jetzt lag der nackte Estrich mit seinen durch Regen und Hitze gezeichneten Mustern offen.

Paul war auf seinem Weg in den Kindergarten in die Turnhalle geschlichen und hatte sich über die Hefte hergemacht. Tatsächlich fand er unter den Stößen von verschimmelnden Kladden ein Heft seines Bruders. Auch wenn er noch nicht schreiben und lesen konnte, so erkannte er doch dessen Namen: »Gerhardt Dehmel«, stand auf dem weißen Aufkleber des Umschlages. Der Schriftzug sah aus wie die Silhouette der Stadt vom Schlossberg aus. Die zwei spitzen Türme der Stadtkirche, zwischen denen die Dachgiebel der zerzausten Häuser hingen wie das aufgeblasene Gefieder der Kolkraben in den Elbauen, wenn der kalte Wind aus Osten blies. Und Dehmel stand ebenfalls, von seiner Großmutter in Sütterlin Schrift geschrieben, auf dem Klingelschild ihrer Wohnungstür in der Lutherstraße.

Paul erinnerte sich noch an die geringe Begeisterung seines Bruders, als er das Heft mit nach Hause brachte. Beim nächsten Mal würde er bestimmt vom Hausmeister erwischt werden, hatte er ihm angedroht, und der kenne keine Gnade. - Was Gnade bedeutet, wusste er noch nicht, doch Paul dämmerte es, dass keine Gnade zu kennen, etwas sehr Fürchterliches sein musste. Fast so fürchterlich wie die Angst, die er verspürt hatte, als der Fleischermeister Eberhardt, in dessen Haus sie wohnten, ihn mit dem Bolzenschuss Gerät bedrohte hatte. Zufällig war er abends in den Hinterhof gekommen, wo Eberhardts Schlacht

küche lag. Es war schon dämmerig gewesen, aber im Hintergrund konnte Paul den Mann in seiner weißen Hose und der blutbefleckten Schürze erkennen. Er wollte ihn noch grüßen, denn seine Mutter hatte ihn zu einem braven Jungen mit einem Klämmerchen im Haar erzogen, da brüllte Eberhardt von der Schlachtküche herüber. »Wenn du weitergehst, dann erschieße ich dich«, und hielt das Bolzenschuss Gerät wie einen erigierten Penis vor seinen Bauch. Vielleicht war er betrunken, vielleicht wollte er sich auch nur einen Spaß machen. Einen richtigen Fleischermeister Spaß. Paul rannte in seiner Verzweiflung in die nächste offene Tür. Es war der Eingang zur Waschküche. Er hielt sich dort versteckt, bis es ganz dunkel wurde. Von Angst geschüttelt, ging sein Atem so schnell wie das Zittern des kleinen Vogels, den er in der Hand gehalten hatte, als er aus seinem Nest gefallen war. Das Blut hörte Paul in seinen Ohren pulsieren, und mit jedem Schlag seines rasenden Herzens fühlte er sich dem Tod näher: »Sie trinken das Blut von frisch geschlachteten Schweinen«, hörte er die Mutter sagen.

Paul sah die Gestalt des pausbäckigen Gesellen vor sich, wie er unter dem aufgeschlitzten Schwein stand, und mit weit offenem Mund das warme Blut, das aus dem kopfunter hängenden Tier rann, in sich hineinlaufen ließ. »Nur deshalb ist er so riesig geworden«, hatte der Kerl der Mutter gesagt. »Mit vierzehn Jahren habe ich damit angefangen. « Und dann hatte er ihr seinen rechten Bizeps gezeigt, den er an und abschwellen ließ wie einen Luftballon.

Erst als in der Waschküche das Licht erlosch, wagte sich Paul wieder auf den Hof und stürzte die Flurtreppe hinauf. Er hämmerte mit seinen Fäusten an die Glasfront der Korridortür. Als die Mutter ihm öffnete, und er unter Tränen versuchte, ihr die Geschichte zu erzählen. wollte sie ihm so recht nicht glauben.

— An diesem Morgen setzte Paul seinen Weg zum Kindergarten ohne den Umweg über die Turnhalle fort.

Viel war von den Häusern hinter dem Gymnasium nicht mehr übriggeblieben. Ein Haufen aus geborstenen Mauern, zackige Steinhügel, aus denen rostige Eisenträger wie die Rippen aus einem ausgeweideten Tierkadaver ragten. Zum Teil waren noch stockwerkhohe Mauern an denen entblößte Räume hingen zu sehen als hätte man sie ihrer Intimität beraubt. Ihr Innerstes gaben sie den neugierigen Blicken der Vorübergehenden preis.

Im zweiten Stock eines Hauses, das Pauls Blick bei jedem morgendlichen Gang zum Kindergarten magnetisch anzog, war das Badezimmer freigelegt. Der Toilettentopf schwebte bodenlos über dem Abgrund; noch intakt, so als wartete er darauf, jeden Moment besetzt zu werden. Die Badewanne hing an ihrem Abflussrohr. Der Wind versetzte sie zuweilen in ein quietschendes Schwingen. Obwohl sie jeden Moment abzustürzen drohte, nisteten Vögel in der Seifenablage. Die ehemals weißen Fliesen hatte in den zwei Jahren, die der Krieg vorbei war, ein grüner Algenfilz überzogen. Meistens blieb Paul eine Weile vor dem wie ein Adventsbild aufgeklapptem Badezimmer stehen. Er wartete darauf, dass die Badewanne krachend herunterfallen würde, oder der nie gesehene Bewohner des Hauses wenigstens auf dem Toilettentopf Platz nehmen würde.

Heute war er in Eile!

Ihnen war angekündigt worden, dass etwas Besonderes bevorstünde. Es sollte eine Überraschung geben. Natürlich warf diese Ankündigung die ganze morgendliche Kindergartenroutine über den Haufen. Niemand wollte das Morgengebet sprechen. Niemand singen. Der Kanon geriet zu einem einzigen lärmenden Durcheinander heller Kinderstimmen.

Um zehn Uhr gaben es die Schwestern auf, mit den Kindern noch irgendein Spiel durchzuführen, das auch nur ein Quäntchen an Konzentration erfordert hätte. Schwester Martha, die Paul wegen ihres riesigen Knotens auf dem Kopf liebte, weil er die stetige Hoffnung hegte, sich einmal in diesem warmen Nest niederlassen zu können, und die von allen respektvoll gerufen wurde, führte die Kinder in den Hof. Sie wurden aufgefordert, sich in einen Kreis zu stellen, an die Hände zu fassen und die Augen zu schließen. Kein Kind folgte der Aufforderung, aber dann drohte sie, dass sonst die Überraschung ausbleiben würde, und da schlossen sie lieber die Augen. Martha trat an jedes Kind heran und bat es, die Arme vorzustrecken. Als Paul sie dies tat, die Augen noch immer verschlossen, spürte er ein schweres, raues, kastenförmiges Etwas in seinen Armen und der Geruch von Brot stieg ihm in die Nase. Er öffnete die Augen wieder und fand ein graues Kommissbrot auf seine Arme gelegt, aus schwerem, Sauerteig gebacken. Auch wenn der Laib eher einem ausgelaugten Stück Treibholz ähnelte, sein Geruch war doch unverkennbar der von Brot.

Der Kindergarten war schnell beendet. Paul rannte die Luther Straße zurück. Er fand das Haus, den ihm wohl bekannten Klingelknopf. Seine Mutter erwartete ihn. Paul war ungeheuer stolz. Schließlich brachte er ein ganzes Brot mit nach Hause. Groß und stark war er, ein richtiger Mann, der seine Familie ernähren konnte. Sprach sie nicht immer davon, dass sie ja schließlich eine ganze Familie durchbringen musste, wenn sie von einer ihrer Hamsterfahrten nach Hause kam, glücklich über ein Stück Speck, sechs Eier, eingetauscht gegen den Satz eines Zwiebelmuster Porzellans. »Bis Vater nach Hause kommt, muss ich euch ernähren. Wenn er erst einmal hier ist, wird es uns allen besser gehen.«

Ihre Freude über die unentbehrlichen, mit viel Geduld und Zähigkeit erstandenen Lebensmittel war niemals frei von Trauer um einen Abwesenden, den sie Vater nannte, und dessen Bild auf einem kleinen Tischchen im Wohnzimmer stand. Ein schmales Gesicht, mit einer Nickelbrille, die es noch schmaler wirken ließ. Offenbar trug dieser Mann eine Uniform, die ihm ein merkwürdig steifes Aussehen verlieh, so als würde das Kragenetikett am Hals scheuern. Paul fand, dass sie zu viel Aufhebens um diesen Mann machte, der für einen so Unentbehrlichen eigentlich zu schmerzvoll über die Tischkante blickte. Er nannte ihn seit langem schon nur noch den Ernährer. Darunter konnte er sich etwas vorstellen: Einen Menschen, die Taschen voller Kartoffeln, Brot, Rüben, Zwiebeln und dann und wann auch ein Stückchen Butter. Paul hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass endlich Freude aufkommen würde, wenn er aus dem Kindergarten kam, ohne dieses stetige Wehen von Trauer. »Diesmal ist es so weit. Ich bin der Ernährer! « sprach er, bevor sich die Haustür öffnete, zu sich selbst. Für einen Moment fühlte er sich angenommen, als sie ihn in die Arme nahm und begrüßte. »Du bist ein richtig großer Junge«, sagte sie. »Damit werden wir gut eine Woche über die Runden kommen. «

Und dann: »Vater wäre stolz auf dich. «

Paul blickte in das schmerzhaft lächelnde Gesicht auf dem Schreibtischchen. Am liebsten hätte er es genommen und auf die Nase gekippt. »Ich bin der Ernährer«, dachte er. »Ich will, dass du auf mich stolz bist. « Das Brot wollte er nicht hergeben. Erst der Vorschlag, es gleich anzuschneiden, damit es nicht trocken würde, löste seinen Krampf.

Stachel im Fleisch

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