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Kapitel 9
Оглавлениеin den abgründen der tiefgaragen/ die verlockungen des spechtes/ dear doctor/ windschatten des columbus/ serpentinen künstler/freßzellen/ finkelstein
Paul fuhr in das dämmerige Licht der Tiefgarage unter dem Universitätsgebäude. Der plötzliche Lichtverlust nach der großen Helligkeit auf seinem Weg hierher, die monoton flackernden Neonleuchten, die mit penetrantem Surren ihr bläuliches Licht absonderten, riefen in ihm das Gefühl von Isolation hervor. Gerade noch der blitzblanke, langersehnte Himmel, jetzt die Atmosphäre einer schlecht ausgeleuchteten, Abgas geschwängerten Tiefgarage. Als Kind hatte er, wie das die meisten Kinder zu tun pflegen, immer gepfiffen, wenn er in den Keller steigen musste. Froh die Kohlen und die Holzscheite zusammengerafft zu haben, stürzte er dann wieder die Treppe hinauf. Nie hatte er über seine Ängste mit den Eltern gesprochen und auch später war ihm nicht klar, wovor er eigentlich in der Dunkelheit Angst gehabt hatte. Woher diese vagen Gesichter kamen, die ihm an den Kragen wollten.
Manchmal holten ihn die Gestalten auf seinem Weg in sein Büro wieder ein, wenn er die Treppenstufen aus der Tiefgarage zum Ausgang zurücklegte, und er erschrak vor dem schlecht platzierten Hinterteil der plötzlich auftauchenden Putzfrau, die ihm mit ihrem Schrubber die Passage versperrte. Dann nahm er beim Treppensteigen zwei Stufen auf einmal, so als befände er sich wieder auf der Flucht vor den alten Kellergeistern. Das muntere kindliche Hinunterspringen von einem Treppenabsatz zum anderen in der Vorfreude endlich nach draußen zu gelangen, lag unter den Schuttbergen der Jahre begraben. Wie Schotterpflanzen hatten die Ängste des kleinen Pauls dem unwirtlichen Boden getrotzt.
Paul fuhr mit dem Fahrstuhl in das sechste Stockwerk des Institutsgebäudes. Der Kasten war in der Betonarchitektur der sechziger Jahre mit liebloser Hand gebaut. Sichtbeton, dessen monotone Allerweltsfassade den Eindruck vermittelte, ein autistischer Architekt habe seine ganze Sprachlosigkeit in Stahlbeton zu gießen versucht. Das Einzige, was Paul an diesem offenbar an sibirischer Ästhetik orientiertem Weltbild sympathisch fand, war die Ehrlichkeit der Erbauer, die so weit ging, dass auch graue Farbe auf graue Betonwände gehörte, und die Versorgungsleitungen dort sichtbar zu bleiben hatten, wo sie verlegt worden waren. Die Bauraster waren normiert. Eingehängte Wände sollten flexible Erweiterungsmöglichkeiten von Labors und Arbeitsräumen suggerieren. Wenn dann aber einmal eine Wand versetzt werden musste, stellte sich heraus, dass dies einer Bunkersprengung gleichkam. Die Flexibilität herrschte nur in den Köpfen der Architekten und auf den Bauzeichnungen. Es galt offenbar ein undurchschaubares Prinzip hochzuhalten, das weder von den Bauarbeitern befolgt noch von der Bürokratie verstanden wurde. Aus Gründen der Klimatisierung, waren die Fenster nicht mehr zu öffnen. Man hatte kurzerhand die Griffe entfernt. So zogen die Jahreszeiten draußen vorbei, als wären sie kolorierte Stummfilme in einem miefigen Vorstadtkino. Was übrig blieb, waren projizierte Sehnsüchte von Weite und Abenteuer: Das Rauschen der Blätter im nahegelegen Buchenwald, dessen Äste fast bis an die Laborfenster reichten, unterlegt vom gelegentlichen Loshämmern eines Spechtes, dessen manisches Klopfen die doppelten Glasfenster durchdrang und Paul aufzufordern schien, seinen Alltag zu verweigern.
Er ging den Flur zu seinem Arbeitszimmer hinunter. Häufig überkam ihn die Vorstellung, in den geöffneten Situs einer Präparierleiche zu blicken, wenn er über sich die freiliegenden Kabel und Leitungsrohre an der Decke sah. Merkwürdigerweise ließen sich die Architekten und ihre Gehilfen selten in den Gängen ihrer Hinterlassenschaften sehen. Sie zogen es vor, in den provisorischen Bürocontainern auf der grünen Wiese zu verharren, und ließen aus den Provisorien Dauereinrichtungen werden. Schließlich eröffneten die Container die Möglichkeit, beim mittäglichen Gang zur Kantine Gänseblümchen und Löwenzahn vor der Bürotür pflücken zu können.
Paul schloss die Tür zu seinem Arbeitsraum auf. Mit der gleichen Routine, die ihn morgens zu seinem Auto geführt hatte, öffnete er seine Aktentasche, nahm die Arbeitsunterlagen heraus, die er mit nach Hause genommen hatte, und öffnete die Tür bis zum Anschlag, um den über Nacht angesammelten toxischen Mief, den die Resopal beschichteten Möbel ausströmten, zu vertreiben. Dann ließ er sich in seinen Schreibtisch Stuhl fallen, nahm die Tagespost in die Hand und begann sie aufzureißen, indem er sich mit dem Zeigefinger einen Weg durch die Kuvert Laschen bahnte. Die Post enthielt eine Unzahl von Verwaltungsmitteilungen, Fakultätsnachrichten, Telefongebühren und Reklamesen-dungen, die er ungelesen in den Papierkorb wandern ließ. Die einzigen persönlichen Nachrichten waren ein paar vorgedruckte Karten, auf denen er um die Zusendung eines Sonderdruckes gebeten wurde. »Dear Doctor.« »Cher docteur«, aus Adelaide oder Lahore stand darauf. Wenigstens diese kleinen Zeichen von Zuwendung gaben ihm das Gefühl, sich den Mühsalen des Forschen, mit denen er sich herumplagte, um der Natur ein kleines Geheimnis oder auch nur eine winzige Finesse abzutrotzen, nicht umsonst unterzogen zu haben. Ein Zucken von Wissen im unüberschaubaren Strom der Fakten zu erhaschen, darauf hatte Paul seine Neugier reduziert, nach den anfänglichen Allmacht Phantasien, den Rosetta Stein der Wissenschaft zu finden, um die Sprache der Natur zu enträtseln. Nachdem die ersten euphorischen Böen seines Erkenntnisdranges vorübergezogen waren, in deren Windschatten er sich monatelang im Labor verkrochen hatte, um mit Zellkulturen zu hantieren und sich immer neue Experimente auszudenken, war er unversehens mit der Tatsache konfrontiert worden, dass hinter jedem Erkenntnisgewinn eine neue Unbekannte lauerte, ohne deren Lösung er wiederum seinen vorher gemachten Profit nicht vermarkten konnte. Er sah sich wie in einem Spiegelkabinett vorwärts tasten. Hinter jeder Wegbiegung schien eine neue Perspektive auf, die die alte relativierte und in Frage stellte, und bei jedem Stopp musste er sich von Neuem entscheiden, ob er nach links, rechts oder geradeaus gehen sollte, um seinem Ziel näher zu kommen. Schließlich hatte er sich damit zufriedengegeben, die kleinen lokalen Erleuchtungen zu akzeptieren, die manchmal seinen Weg erhellten und für eine kurze Wegstrecke intensivsten Arbeitens ausreichten. Eine Winzigkeit vom Unbekanntem gesehen, erdacht oder auch nur erahnt zu haben, sollte ihm in seinem Bemühen genügen, das Absacken in die Trivialität des Alltags zu verhindern. Schließlich war seine Beschäftigung mit den Lebensäußerungen von Zellen und Geweben zu einer reinen Überlebensfrage konvertiert, deren fortwährende Nichtbeantwortung ihn in einer mäßigen, auf die nächsten Wochen konzentrierten Spannung hielt.
Noch immer schielte er ehrfürchtig auf die Geistesgrößen seiner Zunft, die elegant in Zyklen, Funktionsschleifen und hierarchisch geordneten Kaskaden denken konnten und darüber hinaus die feste Überzeugung hegten, dies alles beweisen zu können. Unter ihnen waren durchaus ehrenwerte Geister, begabt und mit großer Souveränität ausgestattet.
Daneben gab es aber auch reihenweise vollmundige Referenten, die die wissenschaftlichen Seminare bevölkerten und mit Eloquenz und brachialer Überzeugungskraft ihrer Mission nachkamen, die Zuhörer davon zu überzeugen, dass sie ein mächtiges Stück des Lebensplanes entschlüsselt hätten. Auch wenn Paul immer öfter Zweifel hegte, ob die von ihm verehrten Koryphäen denn nun wirklich ihrem ersehnten Ziel, die organismische Welt zu begreifen, ein Stück nähergekommen waren, so brachte er ihnen doch eine nicht zu verleugnende Bewunderung entgegen. Beharrlich kreuzte er im Windschatten des einen oder anderen Kolumbus einem unbekannten Ziel entgegen und hegte die heimliche Hoffnung, dass es einmal neues Land sein würde, was er da anzusteuern vorgab. Manchmal musste er sich jedoch eingestehen, dass er am liebsten auf die Wissenschaft gepfiffen hätte. Besonders dann, wenn er sich in kollegialer Gesellschaft befand, und er sich die mit dem Brustton kathedraler Überzeugung vorgetragenen Weisheiten anhören musste. Immer wieder war er erstaunt, mit welcher Eleganz einige der Kollegen es verstanden, aus dem Schrott ihrer wissenschaftlichen Bemühungen noch ansehnliche Vehikel zu basteln, mit denen sie in atemberaubender Akrobatik die Serpentinen ihrer verschlungenen Dialektik erklommen. Diese Art von Bastelleidenschaft war allgegenwärtig, und er entschuldigte seinen anhaltenden Gleichmut mit fehlendem Sachverstand, der es ihm nicht erlaubte, Kritik zu üben. Fassungslos blätterte er jede Woche die auf seinen Schreibtisch flatternden dünn blättrigen Current Contents Hefte durch, in denen der weltweite wissenschaftliche Ertrag einer Woche in Form von hunderten von Artikeln gelistet wurde. Es hätte der Natur eines Wölfflers bedurft, um auch nur in etwa auf dem eigenen Forschungsgebiet die Übersicht behalten zu können.
Da Paul weder dessen Statur besaß noch die Möglichkeiten, sich des Ganzen auf elegant elektronische Weise zu entledigen, indem er die immensen Fleißarbeiten in das gefräßige Grab einer Harddisk speicherte, begnügte er sich mit einer Taktik, die ihn an »Friedas Dies und Das« erinnerte. Er pickte die vermeintlich besten Stücke heraus, in der Hoffnung, das richtige Gespür gehabt zu haben, was sich an ihrer zukünftigen Überlebensfähigkeit erweisen sollte. Wenn er jedoch in gelegentlichen Anfällen nostalgischer Neugier seine Karteikästen durchblätterte, in denen er die Publikationen über die Jahre gesammelt hatte, dann musste er mit Schrecken feststellen, dass die meisten Schätzchen doch nur modische Versatzstücke und Dekorationen waren. Er wagte es nicht, sich auszumalen, wieviel Fleiß und Ehrgeiz, wieviel finanzieller Aufwand und individueller Verzicht hinter all den Werken steckte, die da in rascher Folge der Vergessenheit anheimfielen. Pauls Bescheidenheit war jedoch auch pragmatischer Natur. Schließlich hatte er sich mit dem wenigen, das ihm an Ausstattung zur Verfügung stand, eine respektable Position erarbeitet. War Universitätsdozent geworden, arbeitete mit einem gut funktionierenden Team zusammen, das er nicht durch überzogenen Ehrgeiz auseinander zu sprengen gedachte, und Saul Finkelstein vom California Institute of Technology, kurz Caltech genannt, war auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen, nachdem ihm ein paar gute Publikationen gelungen waren.