Читать книгу Stachel im Fleisch - Rolf Dermietzel - Страница 18
Kapitel 15
Оглавлениеer gehalten von ihrer hand/ mit dem gegendruck/ um dieser hilflosigkeit zu entgehen/ und die schwester martha führte sie in den speisesaal/ hin und her/ ihre stimme/ wie sie mit nachdruck/ so als wenn er ihr weggehen/ rettungslos wahrnehmen sollte/ aufkreischend alle symptome/ empfindungslage auf dauer/
Bis auf den merkwürdigen stumpfen Druck in seiner Brust, an der Stelle, wo der Vogel gesessen hatte, fühlte er sich nach dem Aufwachen wohl. Die Mutter war schon mit Packen fertig. In einem aus Weiden geflochtenen Reisekorb, der von zwei breiten Ledergurten zusammengehalten wurde, war alles verstaut, was er brauchte: Die braunen langen Wollstrümpfe, die mit Gummizügen am Leibchen festgeknöpft werden mussten, lange und kurze Hosen, wollene Unterwäsche aus grünem Trikotstoff, ein Paar Sandalen, karierte Flanellhemden und obenauf ein dunkelblauer von der Mutter selbst genähter Tuchmantel, der sein ganzer Stolz war, weil er einen aufgesetzten weißen Kragen besaß, wodurch er ein sonntägliches Aussehen bekam. In jedes Kleidungsstück war ein weißes Band mit seinen Initialen eingenäht. >PD< stand in roten Buchstaben auf dem Band.
»Und wenn es nun mehrere >PDs< in dem Heim gibt?« Hatte er die Mutter gefragt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. »Die Schwestern werden schon auf deine Sachen aufpassen.«
Die ersten Stunden hatte Paul das Gefühl, sich durch das Kinderheim zu tasten, das in einem alten Wasserschloss untergebracht war. Ein zäher Nebel schien alle Konturen zu verschleiern. Es war ihm unmöglich, die Dimensionen der Räume zu erfassen, obwohl er mit seinen Augen sah, wo sie begannen und endeten. Als er bei seiner Ankunft neben seiner Mutter die breite von einem grauen, wuchtigen Sandstein Geländer eingerahmte Treppe hinaufgegangen war, hatte er ihre Hand ganz festhalten müssen, und sie hatte versucht, ihm mit einem sanften Gegendruck, die Angst zu nehmen. Gerade zur Essenszeit waren sie eingetroffen, und Schwester Martha hatte sie in den Speisesaal geführt, wo an einem langen Tisch die Kinder auf ihr Essen warteten. Auf einem vierrädrigen Wagen stand ein silbrig glänzender Topf, ungefähr so groß wie ein Waschkessel. Mit einem Kinds-kopf großen Kelle schenkte eine Schwester den Kindern eine cremige Flüssigkeit in die weiß emaillierten tiefen Teller. Es herrschte eine sonderbare Ruhe in dem Saal. Obwohl fast hundert Kinder den Raum bevölkerten, war nur das metallene Klingen zu hören, wenn die Kelle gegen die Topfwand oder die Blechteller schlug. Die Kinder saßen still auf ihren Bänken, beide Hände neben den Tellerrändern flach auf den Tisch gelegt, als wären sie dort festgewachsen. Nur einigen merkte man ihre natürliche Unruhe an. Sie ließen ihre Beine hektisch unter den Bänken baumeln. Die anderen schienen von einer unsichtbaren Kraft gezähmt, die sie lähmte und verstummen ließ. Als Schwester Martha sich an den Kopf des Tisches setzte, war dies offenbar das Zeichen, dass die Kinder mit dem Essen beginnen konnten. Ein aufgeregtes Geklapper erfüllte daraufhin den Saal. Gesprochen wurde jedoch kein Wort. Und wenn ein Kichern aufkam, weil eines der Kinder sich bekleckert hatte, hörte man Marthas Stimme wie sie mit Nachdruck: »Ruhe, Kinder!« rief, und damit das schüttere Lachen erdrückte.
Paul wurde auf einen freien Platz gesetzt. Der vor ihm stehende Teller füllte sich mit mehlig angesetzter Blumenkohlsuppe. Wieder spürte er den schwarzen Vogel auf seiner Brust und einen Druck, der ihm den Atem nahm. Er sah noch, wie sich seine Mutter durch die Tür hinausschlich. Mit einem Mal schienen die Kinder um ihn herum ihre Teller in die Hand zu nehmen, und mit den Löffeln darauf herumzuschlagen, als wollten sie böse Geister vertreiben. Ein Höllenlärm erfüllte den Saal. Paul hielt sich die Ohren zu. Er sah, wie Schwester Martha ihn an die Hand nahm und hinausführte. Sie trug in der anderen Hand seinen Reisekorb. Wie ein Ertrinkender auf hoher See fühlte er sich. Der Reisekorb, an den er sich klammerte, war seine Rettungsboje.
Im Schlafsaal türmten sich die stählernen Doppelbetten zu beiden Seiten des Ganges über seinem Kopf auf. Schwester Martha zog ihn bis an das Ende der Reihe und stellte den Koffer ab. Hinter jedem Eisengestänge schien einer der schwarzen Vögel zu lauern. Die restlichen Verrichtungen, das Ausziehen, Aufhäufen der Kleidungsstücke, Arme Hochhalten, vollführte er in einem dumpfen Automatismus. Erschöpft schlief er ein.
Am nächsten Morgen war das Fieber wiedergekommen. Der ungeschützte Schlaf und der anhaltende Schmerz in seiner Brust hatten der Krankheit Tor und Tür geöffnet. So war der Raubvogel nach langem Kreisen über seiner Beute herabgestoßen und begann sich Paul einzuverleiben. Er wurde hastig auf die Krankenstation verlegt. Der Heimarzt ordnete jedoch an, dass er isoliert werden muss, weil er offenbar eine Infektionskrankheit ausbrütete. Daraufhin wurde Paul in den großen Saal des Schlosses geschoben, der von den Kindern nicht betreten werden durfte. Er konnte noch erkennen, wie sich die weiten Flügeltüren öffneten. Als ihr Zuschlagen in seinen Ohren nachhallte, schien sein Schicksal besiegelt zu sein.
Sie hatten ihn also in das metallene Kinderbett gelegt. Ohne Widerspruch, zu schwach, um sich aufzurichten, lag er da. Sein Blick reichte gerade über das Kopfkissen hinweg bis zu den angrenzenden Wänden, die noch weiter entrückt zu sein schienen als bei seiner Ankunft. Von einer entfernten Ecke drang das harte Rattern einer Nähmaschine herüber. Das Geräusch war ihm wohlvertraut. Manchmal, wenn er nachts zuhause wach geworden war und noch in warmer Benommenheit aus seinem Bett heraus taumelte, fand er seine Mutter über die Nähmaschine gebeugt. Im Licht der kleinen Nähmaschinenlampe, die nur ihr Gesicht erhellte, sah sie blass und zerbrechlich aus. Wenn sie sich dann umdrehte, auf ihn zuging. Um den Schlaftrunkenen wieder zurück ins Bett zu tragen, ohne ein Wort zu verlieren, war eine sprachlose Innigkeit zwischen ihnen gewesen, deren Verlust ihn jetzt so allein sein ließ. Paul konnte in der weit entfernten Ecke des Saales, aus der das Geräusch kam, die schwarze Haube einer Nonne erkennen, die in ruhigen Bewegungen lange Gardinenbahnen über ihre Nähmaschine schob. Sie blickte nicht von ihrer Arbeit auf. Durch die hohen Fenster, vor denen durchscheinende Vorhänge bis zum Boden hingen, fiel ein milchiges Licht, das seine Wahrnehmungen noch zusätzlich dämpfte. Einer der Vorhänge war nicht ganz zugezogen, und ein Sonnenband zog schräg, den Raum halbierend, von der Fensterfront bis zur mächtigen Eingangstür. Er erblickte hoch über sich die Decke. Ein weiß gekälkter, rissiger Himmel, aus dem Stuckreste und Spinnengewebe zu rieseln drohten. Stumm hing er in dem grenzenlosen Raum. Ein schwerer Geruch nach Bohnerwachs stand in dem Saal. Über ihm, dort wo einstmals der kristallene Lüster zu besseren Schlosszeiten gehangen hatte, war jetzt ein mächtiges Kruzifix angebracht, an dem ein metallener Christuskörper hing. Das Kreuz war leicht vornüber geneigt, so dass Paul die Umrisse des Körpers erkennen konnte; die von Nägeln durchbohrten Fußrücken, bei deren Anblick ihn ein schneidender Schmerz durchzog, darüber die fassförmige Wölbung der Rippenbögen, die von einem Kopf gekrönt waren, auf dem ein Dornenkranz gesetzt zu sein schien.